Heuer, Lutz / Podewin, Norbert:

“Franz Neumann – Frontmann im Berlin des Kalten Krieges (1904–1974)

[= BzG – Kleine Reihe Biographien, Band 23], 2009, 421 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-89626-926-3, 24,80 EUR

 

 

Junge Welt vom 26.10.2009 / Politisches Buch / Seite 15

Lästiger Traditionalist

Ein Buch über die Berliner SPD-Ikone Franz Neumann (1904–1974)

Kurt Wernicke

Der Titel des Buches von Lutz Heuer und Norbert Podewin »Franz Neumann. Frontmann im Berlin des Kalten Krieges« stellt eine arge Untertreibung dar: Tatsächlich handelt es sich um ein Kompendium zur Geschichte der politischen Hauptlinien, entlang deren sich seit Jahresbeginn 1946 für ein Dutzend Jahre die Systemauseinandersetzung zwischen Monopolkapitalismus und Staatssozialismus im Brennpunkt Berlin abspielte. Der von den beiden Autoren in den Mittelpunkt gerückte Lebensweg des Sozialdemokraten Franz Neumann gibt dabei nur den roten Faden ab. Sie zeichnen nach, wie ein Vertreter der auf dem Arbeitermilieu basierenden Sozialdemokratie, die eine von kapitalistischer Ausbeutung freie Gesellschaft als letztes Ziel ihres Wirkens im Auge hatte, Schritt für Schritt belehrt wurde, wo es in der bundesdeutschen Gesellschaft langging.

Aushängeschild

Der tief im sozialdemokratischen Milieu verankerte Berliner Arbeiterjunge Neumann, der sich vom Metall- zum kommunalen Sozialarbeiter hochgearbeitet hatte, wurde durch einige Schlüsselerlebnisse geprägt: Eines war seine 18monatige Haft 1934/35 wegen Betätigung für die verbotene SPD – sein ausgeprägter Haß auf den Nazismus wurde seither zur Lebensmaxime. Ein anderes war der Anblick von KPD-Mitgliedern und SA-Männern als gemeinsame Streikposten beim BVG-Streik im November 1932 (leider versäumen es die immer wieder tief in Nebenschauplätze eintauchenden Autoren, die lügenhafte Legende zu demontieren, KPD und NSDAP hätten den Streik gemeinsam organisiert – das hatten Sozialdemokraten getan): Das pflanzte ihm ein haßerfülltes Mißtrauen gegenüber Kommunisten ein. Für die aus den Kreisen von Intellektuellen, Parteibeamten und kleinen Geschäftsleuten stammenden Gegner einer Fusion von KPD und SPD, die sich seit Mitte Januar 1946 zusammenfanden, war der eloquente Reinickendorfer SPD-Vorsitzende als »der« Berliner Proletarierjunge das geeignete Aushängeschild. Bei dem schließlich erfolgreichen Widerstand der Mehrheit der Berliner SPD gegen die Fusion war er der anerkannte Vorkämpfer und wurde folgerichtig bei der Neukonstituierung der Berliner SPD Anfang April 1946 deren Landesvorsitzender.

In dieser Funktion hatte er, nach den Wahlen zum Berliner Stadtparlament im Oktober 1946 auch Fraktionsvorsitzender der siegreichen Sozial­demokraten, ausgiebig Gelegenheit, seinem Haß auf die SED zu frönen. Beim Sturz des Oberbürgermeisters Ostrowski (SPD), der sich nicht als Speerspitze gegen die sowjetische Besatzungsmacht mißbrauchen lassen wollte, spielte Neumann die tragende Rolle. Dabei übersah er, daß die US-Amerikaner längst einen Trumpf im Ärmel hatten, dem er keinesfalls gewachsen war – auch nicht in antikommunistischer Rhetorik: Ernst Reuter.

West-Integration
Der setzte prononciert auf die Integration der Berliner West-Sektoren in die auf alliierten Befehl hin entstehende Bundesrepublik, was die Berliner Blockade zur Folge hatte. In deren Verlauf war Neumann gleich hinter Reuter der lauteste Trommler der Westberliner »Frontstadt« – ein ebenso wie »Eiserner Vorhang« von Goebbels geprägter, nun von beiden SPD-Frontmännern benutzter Begriff. Ab 1950 trennten sich aber ihre Wege – erst unmerklich, dann immer deutlicher: Reuter setzte, wie sein Ziehsohn Willy Brandt, im US-amerikanischen Sinne auf Adenauers Westintegration, Neumann blieb auf der Schumacher-Linie strikter Opposition dagegen. Neumann gehörte auch zu denen, die auf dem SPD-Parteitag 1954 noch durchsetzten, daß als Ziel der Partei »die Neugestaltung der Gesellschaft im Geiste des Sozialismus« deklariert wurde. Selbst im Januar 1958, als er im Vorfeld des »Godesberger Programms« schon zum Abschuß freigegeben war, bekannte er sich zur »Befreiung der Arbeiterklasse vom Joch kapitalistischer Ausbeutung durch grundlegende Umwälzung des herrschenden Systems«. Das war zu einem Zeitpunkt, als sein Gegenspieler Brandt schon öffentlich zu vernehmen war, Sozialisierung sei ein »Schreckgespenst, das aus dem 19. Jahrhundert zu uns herübergekommen ist.« Prompt wurde er zugunsten von Brandt als Landesvorsitzender abgewählt, als Fraktionsvorsitzender zum Rücktritt veranlaßt und vier Monate später, nicht mehr in den Parteivorstand gewählt.

Der einstige »Trommler« durfte noch ein Jahrzehnt lang als Berliner Abgeordneter im Bundestag Reden halten, deren Inhalt immer auf das Gleiche hinauslief: Anprangerung der nazistischen Belastung Bonner Funktionsträger; und Tiraden gegen den Kommunismus. Mit der vorsichtigen Öffnung zum Osten durch die Große Koalition unter dem einstigen NSDAP-Mitglied Kiesinger als Kanzler paßten beide Themen nicht mehr richtig ins SPD-Konzept. So wurde er 1969 nicht mehr als Kandidat aufgestellt. Mit 65 Jahren aufs Abstellgleis geschoben, konnte Neumann die Serie von Niederlagen trotz heuchlerischer Ehrungen nicht verwinden und starb kurz nach seinem 70. Geburtstag. Danach wurde er von der Berliner SPD zur Ikone aufgebaut, sein umfangreicher Nachlaß zum Kern eines neuen Berliner politischen Archivs.