Erzählungen, 2008, 130 S., ISBN 978-3-89626-805-1, 11,80 EUR
Porträt
von Robert Klose, Marler Zeitung v. 28.7.2008, S. 3 (mit freundlicher
Genehmigung des Autors)
Eine Wanderung zwischen den Welten.
Saduman Simsir Tanriverdi war ein Kofferkind - und beschreibt ihre Gefühle
in ihrem ersten Buch.
Wenn sie an ihre Kindheit denkt, dann sieht sie ihr Dorf an der
Schwarzmeerküste vor sich. Und gleich darauf die vertrauten Straßen von
Marl. Dann wieder ihre Familie in der Türkei. Und ihre Angehörigen in der
deutschen Heimat. Kein Wunder, dass Saduman Simsir Tanriverdi (44) nie
wieder ein Kofferkind sein will.
Heimat ist für sie ein ganz besonderes Wort, Deutschland ein ganz besonderes
Land. Und darum geht es auch in ihrem ersten Buch. Die Tochter einer
georgischen Mutter und eines türkischen Vaters hat so oft zwischen den
Welten Kleinasiens und Mitteleuropas, zwischen den Kulturen des Christentums
und des Islams hin- und herwandern müssen, dass es schmerzte. Und bis heute
schmerzt. So sehr, dass sie nicht anders konnte, als irgendwann Gedichte zu
schreiben, damit die Qual erträglich wird: „Was ich mache, ist
Selbsttherapie. Ich verarbeite meine Ängste und Sehnsüchte". Und dabei hat
die Lyrikerin jetzt auch die Grenze zur Erzählkunst überschritten.
„Deutschland bittersüß" heißt ihr erstes Buch, das im September erscheinen
soll.
Gerade sieben Jahre alt ist Saduman, als ihre Eltern mit ihr nach Mari
ziehen - in ein unbekanntes Land mit einer unbekannten Sprache, einer
fremden Religion, fremden Bräuchen. Gerade zwei Jahre bleiben dem
intelligenten Kind („Ich hatte immer Einsen in der Schule") zum Eingewöhnen,
dann geht die Reise zurück ans Schwarze Meer. Die Mutter hat in Deutschland
keine Arbeit gefunden: „Das war schrecklich" - so schrecklich wie die
Rückgewöhnung in die türkische Welt. Wieder zwei Jahre später muss Saduman
wieder die Koffer packen, überquert den Bosporus erneut in Richtung Westen.
Abermals zwei Jahre später zieht die Familie einmal mehr zurück in die
Türkei. Im Alter von 15 Jahren kehren die Eltern mit ihr - diesmal endgültig
- nach Marl zurück.
Eine Kindheit, eine Jugend lang hat das Mädchen alles hinter sich lassen
müssen, immer wieder Abschied genommen, immer wieder gute Freunde verloren -
ein Albtraum bis heute. Nie wieder, schwört sich die Jugendliche, will sie
sich zum Kofferpacken zwingen lassen, nie wieder den Boden unter den Füßen
verlieren.
Diesem Versprechen bleibt die junge Frau treu - selbst, als darüber ihre Ehe
zerbricht. Gerade 16 Jahre alt ist Saduman Simsir, als sie heiratet und den
Namen Tanriverdi annimmt. Ein Jahr später bekommt sie ihr erstes von
insgesamt drei Kindern. Elf Jahre vergehen, bis ihr Ehemann 1993 beschließt,
in die Türkei zurückzukehren. Die Ehefrau und Mutter winkt entschieden ab:
Nein, sie will nicht wieder entwurzelt werden, sie bleibt mit ihren Kindern
hier: „Ich will nirgendwo anders mehr leben als in Mari. Abschied nehmen tut
so weh." Die Scheidung erträgt sie - auch, dass ihr Ex-Mann zwei Jahre
später erneut heiratet. Die Kinder sollen erwachsen werden und dann selbst
entscheiden, wo sie leben wollen. Sie bleiben.
Ein Wunsch beherrscht das Denken und Fühlen der allein erziehenden Mutter
wie kein anderer: der, endlich eine Heimat zu finden: „Manchmal fühle ich
mich hier nicht zu Hause und dort auch nicht. Manchmal sehe ich mich hier
und dort. Wenn mich jemand fragt, sage ich immer: Ich komme aus Marl."
Mit der Unsicherheit der Debütantin legt die Wanderin zwischen den Welten in
wenigen Wochen ihr erstes Buch vor: „Ich weiß nicht, ob ich wirklich eine
Autorin bin. Ich kann keine Figuren erfinden." „Deutschland bittersüß" ist
eine Sammlung von Erzählungen aus ihrer mühsam gewonnenen Heimat. Alles, was
auf 130 Seiten geschieht, ist wirklich geschehen.
Die Autorin verarbeitet eigene Erlebnisse, verfremdet aber die Personen.
Saduman Tanriverdi schreibt über Menschen, denen sie „etwas zurückgeben
möchte" - und sei es nur deren Hass. Denn auch den hat sie in ihrer
deutschen Heimat schon kennen gelernt - und weigert sich, selbst zu hassen.
Nach Lesungen, in denen es auch um Gewalt und Rassenwahn ging, bekam sie
anonyme Drohbriefe von Rechtsextremen. Der Empfehlung der Kriminalpolizei,
künftig den Namen der Stadt Marl in ihren Texten nicht mehr zu nennen,
folgte sie, tut sich bis heute aber schwer damit. Saduman Tanriverdi liebt
ihre Heimatstadt, auch wenn nicht all ihre Bürger sie lieben. Das mag damit
zusammen hängen, dass für sie das Grenzen-Überschreiten längst zum
Lebenskonzept geworden ist. In der christlich-islamischen
Arbeitsgemeinschaft macht sie sich seit Jahren für Austausch und
Verständigung stark. Reisegruppen der Insel führt sie durch Giresun, den
Nachbarort ihrer Heimatstadt am Schwarzen Meer.
Durch Heirat und Kinder ist ihre Familie eine bunte Mischung aus Muslimen,
Katholiken, Protestanten - eine fröhliche Mischung ohne Misstöne, ohne
Eifer. Jeder feiert bei jedem mit, auch die muslimischen Kinder besuchen den
christlichen Religionsunterricht. Denn: „An zu viel Wissen ist noch niemand
gestorben."
500 Leute, flachst Saduman Tanriverdi, müsste sie schon mitnehmen, wenn sie
Mari je wieder verlassen wollte - ihre besten Freunde eben, die sie niemals
wieder verlieren möchte. Wenn sie alle im September das erste Buch ihrer
Freundin lesen, ist das schon deutlich mehr als ein Achtungserfolg. Für
alle, die nicht nur das Buch, sondern auch die Autorin kennen lernen wollen:
Saduman Tanriverdi stellt „Deutschland bittersüß" am 2. September öffentlich
in der Stadtbücherei vor. Die Lesung beginnt um 19.30 Uhr.