John, Matthias:

“‚Wenn heut‘ ein Geist herniederstiege‘ – die Napoleonische Herrschaft und die Befreiungskriege im Spiegel der sozialdemokratischen Presse von 1913”, 2012, 155 S., 26 Abb., ISBN 978-3-89626-751-1, 26,80 EUR

 

Rezension von Prof. Dr. Gerhard Engel, Dezember 2012

 

Rechtzeitig für die Gedenkdebatte 1813 – 1913 – 2013 liegt eine Dokumentation vor, die in das Herz dieser Debatte führt. Autoren des Buches sind – namentlich unbekannte – gebildete Sozialdemokraten. Matthias John hat als Herausgeber zwei Artikel und eine fünfteilige Artikelserie aus der in Danzig erschienenen „Volkswacht“ zum Abdruck ausgewählt, Arbeiten, die alle im Oktober 1913 anlässlich der Einweihungsfeiern für das Leipziger Völkerschlachtdenkmal verfasst und veröffentlicht wurden (S. 52-100).

Eine analytische Einführung bietet der von Marion George, Professorin für germanistische Literaturwissenschaft an der Universität Poitiers/Frankreich geschriebene Essay (S. 7-18), gewissermaßen eine Anleitung zum Lesen der historischen Äußerungen aus sozialdemokratischer Feder von 1913 über 1813. Die Verfasserin geht davon aus, dass 2013 in Frankreich und Deutschland unterschiedliche Gedächtnistraditionen aufeinander treffen und auf den Prüfstand gestellt werden. Für den „Identitätsraum Europa“ wirft sie die Frage auf: „Ist das gemeinsame Nachstellen von Kriegshandlungen, das nun im Spiel ‚humanisierte’ gegenseitige Töten wirklich eine angemessene Inszenierungsform der über die Gräber hinweg erreichten europäischen Einheit?“ 1913 habe das kaiserliche Deutschland „das französische Modell der Revolution und dann der napoleonischen Diktatur gegen das deutsche Modell der Reform“ gestellt. Vergessen werden sollte die tatsächliche Rolle der deutschen Fürsten zur Zeit der Befeiungskriege, die nicht eingelösten Verfassungsversprechen, die Demagogenverfolgung der Aera Metternich sowie die weitgehende Zurücknahme der Judenemanzipation und der Trennung von Staat und Kirche.

Marion George sieht das Jahr 1913 als den idealen Anlass für die Hohenzollern-Monarchie, durch den Rückblick auf die „Franzosenzeit“ und die antinapoleonische Unabhängigkeitsbewegung das nationale, vom wilhelminischen Kaiserreich geprägte Identitätsmuster der Deutschen zu inszenieren. Schon das von Gerhart Hauptmann für die Jahrhundertfeier geschriebene „Festspiel in deutschen Reimen“ störte, denn es enthielt statt chauvinistischer Parolen gegen den „Erbfeind“ Frankreich die Verse: „Ich gebiete Euch dreierlei: / macht Deutschland von der Fremdherrschaft frei! / Sorget, dass Deutschland einig sei! / Und seid selber frei! Seid selber frei!“

Beharrte Hauptmann noch auf den nationalen, demokratischen und libertären Intentionen der Kämpfer von 1813, so bot die deutsche Sozialdemokratie 1913, natürlich mit Akzentuierungen je nach der Strömungszugehörigkeit ihrer Autoren, das konsequente Alternativkonzept zur Gedenkkultur für die „Jahrhundertfeier“. Die Presse der SPD trat den kaiserdeutschen Lesarten deutscher und deutsch-französischer Geschichte entgegen, in denen deutsche Nationalidentität, antidemokratische Staatsideologie und chauvinistische Aggressivität miteinander vermischt waren. Es war gewiss kein Zufall, dass die deutschen und französischen Sozialisten ihr gemeinsames Manifest „Gegen den Rüstungswahnsinn!“ am 1. März 1913 veröffentlichten, just am Vorabend der das ganze Jahr umfassenden militaristischen Gedenkfeiern für 1813.

Die Sozialdemokratie sah die Aera Napoleons keineswegs nur als Herrschaft des „Bösen“ über das „Heilige“. Im französischen Kaiserreich erblickte sie auch den Versuch, Ergebnisse der französischen Revolution in Frankreich zu fixieren und über Frankreich hinaus in Europa zur Wirkung zu bringen. Diese Sicht stand im Gegensatz zu jener, die den Unabhängigkeitskampf von 1813 als reine nationale Erweckungsbewegung unter Führung der Fürsten definierte, ohne jede politisch-emanzipatorische Implikation. Marion George schließt ihren Essay mit kritischen Bemerkungen zu Vereinfachungen und „Unschärfen“ der damaligen sozialdemokratischen Betrachtungen.

Herausgeber Matthias John formuliert knappe Vorbemerkungen zur Quelle „Volkswacht“ und über die Geschichte Danzigs zwischen 1807 und 1813 (S. 19-23, 30f.). Eine von ihm zusammengestellte (Auswahl-) Bibliographie nennt die Überschriften von Artikeln aus den sozialdemokratischen Blättern Arbeiter-Zeitung (Dortmund), Bergische Arbeiterstimme (Solingen), Bremer Bürger-Zeitung, Leipziger Volkszeitung, Remscheider Arbeiter-Zeitung, Schwäbische Tagwacht (Stuttgart), Volksblatt (Kassel), Volksstimme (Frankfurt/Main), Volksstimme (Magdeburg), Volkswacht (Breslau) und Vorwärts (Berlin).Als Faksimile-Druck folgt der Artikel des sächsischen Reichstagsabgeordneten Hermann Wendel „Der Tag von Leipzig“ aus der theoretischen Zeitschrift der Sozialdemokratie „Die Neue Zeit“ vom 17. Oktober 1913, der plastisch die progressiven Motivationen der Befreiungskriege den Defiziten der Demokratie-Entwicklung in den Folgejahren gegenüberstellt.

Alle diese Arbeiten stammen vom Oktober 1913 und sind durch die pompöse Einweihung des Völkerschlachtdenkmals inspiriert. Es wäre begrüßenswert gewesen, hätte der Herausgeber in diese Bibliographie auch Titel aus dem März 1913 aufgenommen, als die „Jahrhundertfeier“ als Dreieinigkeit von Missbrauch des Gedenkens an 1813, Kaiserkult um das 25. Thronjubiläum Wilhelms II. und Werbekampagne für die Wehrvorlage im Reichstag am 10. März 1913, Geburtstag der Königin Luise und 100. Jahrestag der Stiftung des Eisernen Kreuzes, offiziell und reichsweit eingeläutet wurde. Bereits am 11. März 1913 stellte der „Vorwärts“, das Zentralorgan der SPD, in seiner ersten Aufmachung unter der Überschrift „Ein kleines Geschlecht über eine große Zeit“ das sozialdemokratische Gedenkkonzept für 1913 vor. Auch Veröffentlichungen der sozialdemokratischen Presse aus der Zeit vom März bis Oktober 1913 hätten für eine Analyse angeboten werden sollen, die im Titel des Buches vermutet werden kann.

Die im Dokumententeil veröffentlichten Artikel aus der Danziger „Volkswacht“ betonen die Distanz der Sozialdemokraten zum Jubiläumsrummel und ihre Ablehnung, daran teilzunehmen. Sie klagen die Monarchie an, das Erbe von 1813 verraten, das Verfassungsversprechen gebrochen und ein demokratisches Wahlrecht für Preußen verweigert zu haben. Sie würdigen die Tatsache, dass es unter napoleonischem Druck nach Jena und Auerstedt Reformen mit gewissen libertären Veränderungen für Preußen gegeben habe, aber Freiheit sei nach der dem Krieg gegen Napoleon folgenden Reaktionsperiode nur dem Bürgertum zugefallen, das sich mit dem Adel liierte. Der Besitz sei frei geworden, nicht aber die Besitzlosen. Die Masse des Volkes habe 1913 keinen Grund, ein vergangenes Jahrhundert zu feiern, ihr Ideal liege in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit.

Eine besonders kenntnisreiche Studie ist die Artikelserie „Die Jahrhundertfeier und die deutsche Arbeiterschaft (Dok. 3-7), die wohl ausführlichste sozialdemokratische Presseveröffentlichung des Jahres 1913 zum Thema. Der unbekannte Autor analysiert die Resultate deutscher Geschichte bis zur französischen Revolution und zum Auftreten Napoleons. Er geißelt namentlich die absolutistische Kleinstaaterei und die verhängnisvolle Rolle der Fürsten und des Adels. Er stellt die historisch progressiven Ergebnisse der französischen Revolution dar und würdigt die Beispielwirkung des epochalen Ereignisses für die europäischen Staaten, das viele Völker motiviert habe, gleichfalls für die Gleichheit aller vor dem Gesetz, die Selbstverwaltung und die Aufhebung der Leibeigenschaft der Bauern zu kämpfen. Als Frucht dieser Wirkung schildert der Verfasser den Inhalt des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803 und die preußischen Reformen (1807 Aufhebung der Erbuntertänigkeit, 1808 Städteordnung mit Selbstverwaltung der Kommunen, 1814 Einführung der allgemeinen Wehrpflicht). Dass diese Fortschritte mit der fremdherrschaftlichen Ausplünderung der besetzten deutschen Staaten einhergingen, bewirkte die Bereitschaft großer Teile des Volkes, mit hohen Erwartungen in nationalen, demokratischen und sozialen Fortschritt gegen Napoleons Truppen in den Krieg zu ziehen und zu siegen. Nicht die Fürsten schlugen Napoleon, sondern das Volk brachte die Opfer an Leben und Gesundheit für die nationale Selbstständigkeit. Der fällige Lohn aber blieb aus: Statt Demokratisierung Festigung der Fürstenherrschaft und Polizeistaat. Erst 1848/49 sei es gelungen, etwas von dem zu erkämpfen, was 1813 versprochen war; das meiste jedoch sei auch 1913 nicht erfüllt und müsse nunmehr gegen die bestehende Gesellschaft von der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung erkämpft werden.

Die vorgestellten Dokumente geben einen interessanten Einblick in das Geschichtsbild der deutschen Sozialdemokratie am Vorabend des nächsten Krieges von 1914 bis 1918. Sie wirken wie eine Aufforderung, dieses Geschichtsbild umfassender und auf breitere Quellen gestützt zu untersuchen und in den Kontext der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie zu stellen.

 

Gerhard Engel