trafo verlag 2007, 214 S., ISBN 978-3-89626-716-0, 22,80 EUR
Besprechung in: AmerIndian Research, Bd. 3/2
(2008), Nr. 8, S. 121:
Das Buch, abgeleitet von der Magisterarbeit des Autors, stellt die Frage
nach Pluralismus und religiöser und politischer Toleranz in den USA.
Ausgangspunkt ist die Frage, wie die USA bis in die Gegenwart eine
bemerkenswerte Integrationsleistung vollbringen konnten, so dass z.B. noch
heute (2003) in den USA über 30 Millionen im Ausland geborene Bürger leben.
Kritisch merkt der Autor aber auch die Existenz von 11-12 Millionen
"illegaler" Bewohner, (meist Ladinos) an, die in den USA ihre einzige Heimat
gefunden haben und dauerhaft hier wohnen. Er legt auch mit Blick auf die
Native Americans und die schwarzen Amerikaner dar, dass wir es hier mit
keiner perfekten Gesellschaft zu tun haben. Voigt erkennt in der seit der
Kolonisation praktizierten religiösen Freiheit, für die das weite Land aber
auch günstige Bedingungen bot, den Ausgangspunkt für die amerikanische
Pluralismusfrage. Das Nebeneinander verschiedener Meinungen und
praktizierter Religionsfreiheit begann schon im 17. Jahrhundert, wofür als
Beispiele Roger Williams in Rhode Island und William Penn für Pennsylvania
angeführt werden. Die sogenannte Amerikanische Revolution (der
Unabhängigkeitskrieg und die Folgejahre) hatte keine Umwälzung der
Gesellschaftsordnung und Austausch der Eigentumsverhältnisse zur Folge,
sondern fixierte die Trennung von Staat und Kirche und führte zu einer
Verfassung, die als Grundprinzip den Schutz der Rechte und Freiheiten der
Regierten gegenüber den Regierenden beinhaltete. Dieses in den USA
verwirklichte Prinzip der persönlichen Freiheit des Arbeiters und eine
vergleichsweise bessere Lage als die seines deutschen "Kollegen" führte im
19. Jahrhundert, als Europa von Revolutionen und Klassenkämpfen erschüttert
wurde, dazu, dass Klassenkämpfe in Amerika nicht auf eine gesell-schaftliche
Umwälzung, sondern "nur" auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen
zielten. Vormals in Europa als Revolutionäre Verfolgte, passten sich als
Einwanderer rasch an die amerikanischen Gegebenheiten an. Voigt untersucht
diesen Aspekt insbesondere anhand deutscher Auswanderer, die sich plötzlich
einer politischen und religiösen Freiheit ungeahnten Ausmaßes, aber auch
starken ökonomischen Zwänge ausgesetzt fanden Das Problem der Negersklaverei
und ihre Abschaffung in der Mitte des 19. Jahrhunderts wird ausführlich
dargestellt. Schließlich folgt, umfassend abgehandelt, die jüdische
Einwanderung und ihre Einbeziehung in die amerikanische Gesellschaft. Die
Juden, in ganz Europa schon seit dem Mittelalter immer wieder sporadisch
verfolgt und diskriminiert, sind seit dem 17. Jahrhundert in Nordamerika
präsent und fügten sich ohne Verfolgung und Diskriminierung problemlos in
das politische und ökonomische System ein. Da die Juden in Europa vom
Landerwerb ausgeschlossen waren und überwiegend als Händler und im
Finanzbereich tätig sein mussten, bot diese Ausrichtung gerade in den USA
günstige Entwicklungschancen. Nicht zuletzt ihren Interventionen war zu
danken, dass die Verfassungen der USA wie auch der Einzelstaaten
glaubensneutral konzipiert wurden. Angelegt als historische Analyse der
Verhältnisse in den USA, ist das Buch auch eine aufschlussreiche und
richtungweisende Lektüre für den "Europäer" der Gegenwart, der sich
zunehmend mit den Problemen der Migration, Integration und Assimilation
nicht europäisch geprägter Menschen in "unsere" Gesellschaft konfrontiert
sieht.
RO
Radio-Interview mit Sebastian Voigt auf Radio Corax,
Halle
http://www.freie-radios.net/portal/content.php?id=21294
Rezension von 'CHRIS' in: CeeIeh 152 (2008), »E
Pluribus Unum« & »Novus Ordo Saeclorum«,
http://www.conne-island.de/nf/152/17.htmll#f16
Die Leserin und den Leser des vorliegenden Buches(1) erwartet
eine mit vielen Fakten angereicherte Erzählung der Geschichte der
Vereinigten Staaten von Amerika, die zugleich eine Geschichte von
Einwanderern ist, die sich immer wieder mit dem Problem der Dialektik von
Einheit und Differenz auseinandersetzen mussten. Grundlegend dafür seien die
historische Genese der exzeptionellen Toleranz und die des
Pluralismusprinzips, dessen „Entfaltung ideen- und kulturgeschichtlich“ (S.
14)(2) nachgezeichnet wird, unter Einbindung des sozialen Kontexts der
demokratischen Ideale, die maßgeblich für die USA sind. Dies wird vom Autor
gelungen dargestellt.
Anhand des Ursprungs dieses Prinzips, ausgehend von eingewanderten
religiösen Dissidenten aus Europa, wird versucht die Transformation des
religiösen Pluralismus hin zu einer politischen Toleranz theoretisch zu
fundieren; der praktische Beweis wird anhand vieler einzelbiographischer
Beispiele und herausragender historisch- empirischer Ereignisse erbracht.
Mit der Geltung des sich immer wieder bewährenden ethnischen Pluralismus
wird die immense Bedeutung herausgestellt, sowohl für die in den USA
stattfinden Integrationsdebatten (bspw. über den Umgang mit mexikanischen
Einwanderern) als auch für die, die in den europäischen Nationen ausgetragen
werden. Dieser Leitfaden zieht sich durch das gesamte Buch u.a. auch um
einen „Kontrapunkt zum weit verbreiteten Antiamerikanismus zu setzen sowie
der Unkenntnis der amerikanischen Besonderheiten in Europa
entgegenzuarbeiten“(3) (aus dem Klappentext).
Hierfür werden die Voraussetzungen für die geschichtliche Entwicklung der
ersten Demokratie der Welt nachgezeichnet sowie die vielen maßgeblichen
Einwanderungsbewegungen benannt und differenziert, um dem amerikanischen
Pluralismus, der nur durch die Einnahme eines universalistischen und
transnationalen Standpunkts (Vgl. S. 20) zu verstehen sei, auf die Spur zu
kommen. Mit der ursprünglichen englischen Besiedelung des nordamerikanischen
Kontinents durch europäisch-religiöse Dissidenten, ist der Boden für die
nachfolgenden Einwanderergruppen kultiviert und institutionalisiert worden
und so erscheine die „Überfahrt in die Neue Welt […] als Erfüllung der
biblischen Heilsgeschichte, als Überquerung des Roten Meeres und des Jordan,
i.e. als neuer Exodus.“ (S. 22)(4). Sie ließen die Alte Welt, die durch
feudale Strukturen, religiöse Verfolgungen und blutige Hetze gegen
demokratische Bestrebungen gekennzeichnet war, hinter sich und mussten so
nicht die Konflikte austragen, die das Leben und Denken der Menschen in
Europa beeinflussten. Vielmehr hätten sie durch einen bestimmten Aspekt des
American Exceptionalism ihre Freiheit und Individualität ausleben können,
der gleichzeitig einen universalistischen Anspruch hat(5). Das damit
zusammenhängende Verhältnis von Theorie und Praxis findet an vielen Stellen
im Buch Erwähnung, das sich zugunsten der Praxis in Amerika auflöst. Die
Bewohner der englischen Siedlerkolonien (spezifisch unterschieden von den
sonstigen Eroberungskolonien(6) haben ihr Leben von Anfang an
selbstbewusster gestalten müssen, da sie sich in zunehmenden Maße vom
Mutterland abkapselten. Sie hätten sich nicht mit aristokratischen
Verhältnissen herumzuschlagen gehabt, die den Prinzipien der Epoche
Aufklärung(7) zuwiderliefen.
In diesem Sinne kommt der Entstehung der USA als praktischer Bezugspunkt
einschneidende Bedeutung für das Theorie überladene Europa zu, das sich
aufgrund der vorherrschenden Herrschaftsverhältnisse noch gedanklich mit
vernünftigeren Vergesellschaftungsweisen auseinandersetzen musste. Es sei in
Amerika praktisch ein Pluralismusprinzip(8) in Kraft getreten, das
mehrheitlich die religiöse Toleranz gegenüber anderen Konfessionen
hervorbrachte, die bisher einzigartig in der Menschheitsgeschichte war und
sich in „widersprüchlichen historischen Prozessen“ (S. 24) entwickelte. Die
entstehenden Kolonien standen in einer puritanischen und calvinistischen
Tradition und waren über ihre kirchlichen Gemeinde- und Sektenwesen
basisdemokratisch organisiert, was „den Grundstein für den Föderalismus und
für die politische Demokratie Amerikas“ (S. 189) legte, da nicht mehr „die
Herkunft oder Tradition der Immigranten, sondern ihre Leistung“ (S. 86)
zählte(9). Aus der „Notwendigkeit der Akzeptanz von Differenz und Pluralität
entwickelte sich die Tradition des Liberalismus und ein demokratischer
Habitus wurde gesellschaftlich verwurzelt.“ (ebd.) Am Beispiel der deutschen
Einwanderung und speziell der jüdischen Immigrationswellen im 19.
Jahrhundert wird aufgezeigt, wie sich die Wandlung des religiösen
Pluralismus zur politischen Toleranz und zu ethnischen
Pluralismuskonzeptionen(10) vollzogen hat, was gleichbedeutend sei mit einer
Geltung des Pluralismusprinzips. Gerade im Bezug auf die
Integrationsdebatten, die ab ovo in der ständig im Wandel begriffenen
amerikanischen Gesellschaft geführt wurden und heute noch geführt werden,
sei das „wichtigste Moment anhand dessen die Geltung und Weiterentwicklung
des Pluralismusprinzips aufgezeigt werden kann, […] die Massenimmigration,
die ihren prägenden Einfluss auf die amerikanische Gesellschaft nie
eingebüßt hat. Sie erzeugte die außergewöhnliche Dynamik und die
kontinuierliche Wandlung Amerikas.“ (S. 193) Die amerikanischen
Besonderheiten treten offen zutage, gerade im Bezug auf die Durchsetzung des
laizistischen Nationen- und Staatsverständnisses, das sich grundlegend von
dem in Europa unterscheide. In Amerika habe sich die Moderne, wie S. Voigt
an vielen Stellen erwähnt, „ohne Last der Geschichte“ (S. 125)(11)
entwickeln können, das den eingewanderten Flüchtlingen und Dissidenten im
17. Jahrhundert den Aufbau von Kolonien erleichtert habe. Gerade an der
Immigration der Juden wird plausibel gezeigt, wie die „partielle Konvergenz
zwischen der aus Europa tradierten jüdischen Lebensweise und den
Konstitutionsbedingungen Amerikas“ (S. 124) sich für jene als vorteilhaft
erwies. Sie hatten keinerlei staatlichen Antisemitismus zu befürchten und
empfanden so Amerika als Neubeginn und Befreiung (vgl. S. 125). Diese
Einwanderungsbewegung stehe somit paradigmatisch „für die gesamte Geschichte
der Einwanderung nach Amerika“. (S. 196) Interessant sind an dieser Stelle
auch die Ausführungen des Autors über die Probleme, die sich dem schon
etablierten amerikanischen (Reform)Judentum stellten als es zu einer neuen
Einwanderungswelle von Juden aus Osteuropa kam(12). In der fortlaufenden
Nacherzählung des pluralistischen Werdegangs der USA, bedingt durch die
unterschiedlichen religiösen Auffassungen der Konfessionen, habe „die von
Anfang an bestehende Heterogenität des Sektenwesens notwendigerweise einen
anderen Umgang mit Differenz“ impliziert, deren europäischen Protagonisten
nicht an einer Reproduktion jener anachronistischen Verhältnisse
interessiert und „sich der Zäsur des Neuanfangs bewusst waren.“ (S. 189) Mit
der Etablierung eines religiösen Pluralismus, der für die zukünftigen
Transformationsbewegungen des Pluralismusprinzips grundlegend gewesen sei,
zeigte sich die Bewältigung des Problems der Dialektik von Einheit und
Differenz bspw. in der Zusammenführung der dreizehn unterschiedlichen
Kolonien, die sich nach dem Sieg im Unabhängigkeitskrieg (1775-1783) gegen
England gelöst hatten und sich nun auf gemeinsame Prinzipien haben
verständigen müssen, da sie alle durch unterschiedliche Traditionen und
Religionen geprägt waren.
Seither sei der Wahlspruch der USA (zu finden auf der Vorderseite des
Staatssiegels) – „E Pluribus Unum“ „Aus den Vielen Eins“ – maßgeblich für
die geschichtliche Entwicklung gewesen. Die „erste antiimperiale Revolution,
der erste erfolgreiche Aufstand gegen den Kolonialismus“ (S. 54f.) habe eine
Erfahrung des „In-Freiheit- Handelns“ nach sich gezogen, die sich als
„Pathos des Neubeginns“ (H. Arendt, zitiert nach S. Voigt, S. 54) begreifen
ließe. Mit dem universalistischen Anspruch der Revolution spiegele sich
dieses Bewusstsein in der von Virgil geprägten Sentenz (Vgl. S. 55) des
Novus Ordo Saeclorum („Neue Folge der Zeitalter“) wieder (Rückseite des
Staatssiegels). Die 1776 ausgerufene Virginia Bill of Rights und die
Declaration of Independence sind dem Prinzip nach an einem starken
Konstitutionalismus orientiert (Vgl. S. 56f.), der seinen
ideengeschichtlichen Ursprung im römischen Konstitutionalismus habe und die
Teilung der politischen Gewalten fordere und im Unterschied zum europäischen
Staats- und Nationenverständnis, die Rechte der Staatsbürger betone, um sie
so gegen die Willkür des Staates zu schützen. Unter Bezugnahme auf die
historische Genese der Declaration of Independence, die als Grundlage der
amerikanischen Identität und des Nationalismus(13) fungiere, wird sie als
„die Materialisierung des Novus Ordo Saeclorum [kursiv wie im Original –
Anmerk. Chris]“ beschrieben und zugleich als der Versuch dargestellt „das
Problem der Dialektik von Einheit und Differenz zu lösen, indem sie den
Pluralismus in das politische System inkorporiert“ (S. 67). Hierbei stellt
der Autor immer wieder das Verhältnis von Individuum und Staat in den
Mittelpunkt der Auseinandersetzung, das durch viele einzelbiographische
Beispiele explizit gemacht wird, denn viele Einwanderergruppen wollten ihre
religiösen und politischen Interessen gegenüber dem Staat durchsetzen.
Daraus speiste sich ein spezifisch amerikanisches Toleranzdenken. Davon
zeugt beispielhaft die deutsche Einwanderung radikaler Revolutionäre im 19.
Jahrhundert, die aufgrund der Verfolgung aus „Deutschland“ fliehen mussten,
und sich nach und nach von ihrer politischen Radikalität zugunsten des
Pluralismusprinzips abwandten(14). Mit der wachsenden Einsicht in die
innenpolitisch drängenden Aufgaben maßen die deutschen Einwanderer ihren
radikalen Einstellungen nicht mehr so große Bedeutung bei, was schließlich
in der Unterstützung der Abolitionistenbewegung und in der Unterstützung der
sklavenfreien Nordstaaten bei den kriegerischen Auseinandersetzungen des
Sezessionskrieges (1861-1865) – der übrigens vom Autor mitreißend erzählt
wird – resultierte.
Anhand der jüdischen Immigrationswellen wird die Integrationsfähigkeit der
amerikanischen Gesellschaft nochmals sehr evident dargestellt. Da sich die
Juden aufgrund der Erfahrung der Diaspora, die durch weltweite
antisemitische Verfolgung, Vertreibung und Ermordung gekennzeichnet war,
gerade weil sie kein schützenden und Recht setzenden Staat hatten, in
Amerika zum ersten Mal sicher fühlen konnten und weder ihre Herkunft noch
ihre religiöse Zugehörigkeit zählten, sondern der Umstand, dass sie die
Prinzipien der Demokratie achteten, konnten sie sich gegen „viele
Widerstände“ behaupten und „sich als Juden und als amerikanische Bürger“ (S.
125) integrieren. An dieser Stelle ist S. Voigt zuzustimmen, wenn er keinen
durch den amerikanischen Staat getragenen bzw. forcierten Antisemitismus
konstatiert und zugleich diese Voraussetzungen für die Juden, die kein
einheitliches Herkunftsland hatten, als die weltweit günstigsten
herausstellt. Jedoch müsste ergänzt werden, dass gerade Henry Ford es war,
der mit der Herausgabe seiner Schrift „Das Internationale Judentum“ und
Verbreitung der „Protokolle der Weisen von Zion“ zur Ausbreitung des
nicht-staatlichen Antisemitismus beigetragen hat, der im Buch nur als
schlichter Protagonist der Amerikanisierungsbewegung angeführt wird. In
seinen Fabriken ließ Ford theatralisch den Melting Pot aufführen, um den
Arbeitern neben „mehrmonatigen Englischsprachkursen“ amerikanische Werte und
Verhaltensweisen zu vermitteln, „was in diesem Kontext vor allem die
Übernahme des industriellen (Arbeits-)Ethos meinte“ (S. 173)(15). Es gelingt
dem Autor das amerikanische Selbstverständnis der Mehrheit durch
demokratische, tolerante, pluralistische und universalistische Züge
darzustellen, sowohl was ihren Ursprung anbelangt als auch ihre heutige
Geltung. Daran lässt sich hinsichtlich der in den USA stattfindenden
Debatten um die Verschärfung der Einwanderungsgesetze (erinnert sei an die
Anschläge des 11.9.2001) ohne weiteres anschließen. Auch für die
Integrationsdebatten und die konsequente Bewusstwerdung der europäischen
Länder als ebensolche Einwanderergesellschaften kann dieses Buch enorm viel
beitragen. An einem Beispiel zeigt sich aber deutlich, dass sich politische
Einschätzungen mit der Zeit als falsch erweisen. Die in dem Buch durch
Kallen geäußerte politische Einschätzung bezüglich der Schweiz, die als
Vorbildfunktion für die USA stehe, hat sich als nicht stichhaltig erwiesen.
Es wurde eine Grenze überschritten, als im Oktober 2007 von der
staatstragenden Schweizer Partei SVP eine hetzerische Kampagne gegen
„Ausländer“ organisiert wurde, die einen tiefen Einschnitt in die
einwanderungswillige Demokratie darstellt, und so fraglich wird, ob die
Schweiz „die am besten funktionierende Demokratie der Welt“ (S. 184) ist.
Denn wie es S. Voigt selbst dargestellt hat, „müssen einer toleranten
Haltung dann Grenzen gesetzt werden, wenn die Toleranz zur Umterminierung
ihrer eigenen Grundlagen beiträgt.“ (S. 200).
Abzuwarten bleibt, ob die Schweiz diesen Drahtseilakt (Vgl. ebd.) ebenso
flexibel und integrationsfähig bewältigt wie die USA (vgl. S. 201). An
anderen Stellen im Buch kommt meines Erachtens die wesentliche und kritische
Infragestellung einiger schon erwähnter Aspekte zu kurz, die sich jedoch
hauptsächlich in Widersprüchlichkeiten bewegen und deshalb so schwierig zu
verstehen und einer Kritik zu unterziehen sind. Dem Autor ist zugute zu
halten, dass er die Geschichte der Nation von Einwanderern durch eine
thematische bestimmte Form zu erzählen versteht, die kaum zur Kenntnis
genommen wird. Die weltweit vorherrschenden Ressentiments gegenüber
außenpolitischen und innenpolitischen Entscheidungen der USA
(Interventionen, Verabschiedung von Gesetzen etc.) trägt vielerorts dazu
bei, dass sich blind auf die Seite der antiimperialistischen Feinde
geschlagen wird, die doch genau das Gegenteil von dem erstreben, was
weltweit die besten Lebensbedingungen heutzutage sind: demokratische
Verhältnisse(16).
Die vielen historischen Fakten, die theoretischen Fundamente und die daraus
resultierenden Interpretationen geben Anlass über das grundlegende Problem
der Moderne der „Dialektik von Einheit und Differenz“ (S. 20) kritisch
nachzusinnen, so dass das Buch von S. Voigt abschließend nochmals
wärmstens empfohlen sei.
______
Anmerkungen
(1) Es stellt eine leicht gekürzte Version der (notabene!)
Magisterarbeit dar.
(2) Alle Zitate aus dem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, werden mit
Klammer und Seitenanzahl angeführt.
(3) Fragwürdig bleibt im Allgemeinen, ob dem virulenten
Antiamerikanismus mit dezidiertem Proamerikanismus argumentativ begegnet
werden kann, der, obwohl ein wissenschaftlich neutral geschriebenes Buch
vorliegt, an einigen Stellen durchscheint. Denn ebenso wie beim
Philosemitismus werden die Eigenschaften von Personen (im anderen Fall von
den USA) bewahrt, transportiert, belegt und für gut befunden. Es kommt aber
letztlich, wie bei jeder Lektüre, auf das
Erkenntnisinteresse der Leserschaft an.
(4) Die Paralellisierung zur zionistischen Exodusgeschichte ist von S. Voigt
gut nachvollziehbar dargestellt, gerade bei der Betrachtung der Motive der
jüdischen Emigration aus dem durch antisemitische Bewegungen und Staaten
gekennzeichneten Europa.
(5) Mit der Entwicklung der pluralistischen Verhältnissen in den USA
entstand zwar der Individualismus mit dem Frontier-Gedanken (Vgl. etwa S.
72ff.), dieser stellt sich jedoch nur als schöner Schein auf eine bessere
Gesellschaft mit all ihren Idealen dar, da er genuin aus einer
fetischistischen Verkehrungsform entspringt und dadurch den bürgerlichen
Subjekten das verwehrt, was weltweit durchgesetzt werden müsste: Freiheit.
So ist dem Autor an anderer Stelle zuzustimmen, wenn er von der immanenten
„Aporie des Universalismus“ (S. 76) spricht.
(6) Diese Unterscheidung zu treffen ist sicherlich richtig, nur sollte man
eine grundlegende Kritik nicht aus den Augen verlieren, wenn man sich mit
Marx die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära ansieht (Vgl. K.
Marx: Das Kapital. Erster Band. S. 779) S. Voigt bezeichnet die Sklaverei
als Anomalie in der amerikanischen Gesellschaft, die den Idealen des Landes
widerstrebt (Vgl. S. 111). Was aber ist in der kapitalistischen Gesellschaft
schon „normal“?
(7) Diese Unterscheidung zum dialektischen Prozess der Aufklärung, wie er in
der Dialektik der Aufklärung von Adorno/Horkheimer kritisiert wird, muss
hinsichtlich der Möglichkeit des barbarischen Umschlagens eingehender
betrachtet werden, da zwar die USA als „angewandte Aufklärung“ (Dahrendorf,
zitiert nach S. Voigt, S. 125) und „bürgerliche Gesellschaft par exellence“
(Huntington, zitiert nach S. Voigt, ebd.) vor einem Rückfall in Barbarei
gesicherter scheinen (wie
der Autor im Bezug auf Adorno gleichfalls exemplifiziert), doch mit dem
stetigen Fortwähren der gesellschaftlichen Bedingungen, die den Rückfall
zeitigten, ist die Möglichkeit leider nicht ausgeschlossen. Die notwendige
politische, ökonomische, militärische Unterstützung Israels – als die
„Emanzipationsgewalt“ der Juden, als „Notwehrversuch gegen den
Nazifaschismus“ und als der „bewaffnete Versuch der Juden, den Kommunismus
lebend zu erreichen“ (Initiative Sozialistisches Forum, Der Kommunismus und
Israel) – durch die USA als stärksten Partner weltweit ist begrüßenswert,
kann sich aber nach wechselnder geostrategischer Interessenlage ändern, was
bspw. die militärische Unterstützung Saudi-Arabiens durch die USA zeigte und
in Israel viel Unmut hervorgerufen hat. Dass sich die Vereinigten Staaten
von Amerika der Verantwortung gegenüber Israel dennoch bewusst sind, bezeugt
der Besuch Bushs in Yad Vashem, der sich für die Nichtbombardierung von
Auschwitz im Zweiten Weltkrieg entschuldigte.
(8) Inwiefern es dem Autor überhaupt um eine philosophische Bestimmung
dieses Prinzips geht, das sich praktisch durch eine Dialektik von
Einheit und Differenz auszeichne, ist meines Erachtens nicht ganz
festzustellen, schließlich werden viele wesentliche Probleme nur sehr
marginal erwähnt, die nicht durch die Empirie angegangen werden
können. Bspw. fällt auf, dass es im Werk selbst verschiedene
philosophie-geschichtliche Traditionslinien sind, die den Autor
bewogen haben mögen, ein dialektisches Verhältnis zwischen der
amerikanischen Gesellschaftsgenese und der Genese der Begriffe von Staat,
Liberalismus, Pluralismus etc. herzustellen. Entscheidend für die
pluralistische Konzeption, an der sich das Buch der Überschrift nach
orientiert und die gegen Ende ausgeführt wird, bleibt meines Erachtens
Horace Meyer Kallen, der den Begriff des Cultural Pluralism prägte und so
entscheidend auf die Integrationsdebatten in den USA
einwirkte. So entspreche die Kallensche Metaphorik der Symphonie (Chef des
Orchesters, Kapellmeister, Komponisten) den „Prinzipien der
Demokratie, der Freiheit und der Union. Sie markieren den Rahmen innerhalb
dessen die Entfaltung der Kulturen vonstatten geht und sie garantieren die
soziale Synthesis, die Dialektik von Einheit und Differenz.“ (S. 186)
(9) Dass nur die Leistung zählte, zeigt die durch den asketischen
Protestantismus entspringende Unfreiheit des Menschen bezüglich seiner
Lebens- und Denkweise und korreliert so mit den Idealen von Freiheit, die im
Buch in dieser Hinsicht widerspruchsfrei betont werden. Das protestantische
Arbeits- und Leistungsprinzip, ursprünglich durch M. Luther affirmiert,
erfuhr historisch verschiedene Ausprägungen: Den Calvinismus, Pietismus,
Methodismus und verschiedene aus der
Täuferbewegung hervorgegangene Sekten (Vgl. M. Weber: Der „Geist“ des
Kapitalismus und die protestantische Ethik. S. 197)
(10) Im Buch werden zwei Pluralismuskonzeptionen genauer ausgeführt. Zum
einen die Konzeption von Israel Zangwill des Melting Pot, dessen Grundlage
die Aufführung eines Theaterstück ist und „eine der jüdischen Antworten auf
die Herausforderungen zu Beginn des 20. Jahrhundert“ (S. 168) darstelle. S.
Voigt fasst sie wie folgt zusammen: „Der Aufgabe der ethnischen und
kulturellen Traditionen ist ein produktives Moment inhärent oder, um in der
Metaphorik des
Schmelztiegels zu bleiben: jedes neu hinzutretende Element modifiziert das
Endprodukt des Schmelzprozesses.“ (S. 169) Zum anderen die des Cultural
Pluralism (Kallen), der die Diskussion um die kulturspezifische Bewahrung
der Identitäten bei gleichzeitiger Aufgabe zugunsten der abstrakten
Prinzipien von Freiheit, Gleichheit, Toleranz etc. einleitete. Beiden
Theorien seien Prinzipien eigen, die aufgrund ihrer Dynamik niemals zum
Abschluss kämen, weil die fortschreitende Immigration in Amerika ein
unumstößliches Faktum sei (vgl. S. 9).
(11) Diese spezifische Kennzeichnung wird von ihm selbst relativiert, wenn
er die „tragische Geschichte der Native Americans [kursive Hervorhebung wie
im Original – Anmerk. Chris] und“ den langen, „bis heute nicht gänzlich
ausgefochtene Kampf um Gleichberechtigung der schwarzen Amerikaner“ (S. 13)
erwähnt. Die USA seien eben keine perfekte Gesellschaft und habe mit vielen
Problemen umzugehen.
(12) Da nicht alle wichtigen Themen dieses Buches behandelt werden können,
und es gibt derer viele, sei hier wohl einer der wichtigsten signifikanten
Unterschiede der USA zu Europa mit einem Zitat auf den Punkt gebracht: „Dass
die Juden die Möglichkeit hatten, in der Neuen Welt ihre jüdische Identität
zu bewahren und gleichberechtigte, anerkannte Staatsbürger zu werden, ist
die grundlegende Differenz zwischen Amerika und Europa, wo die rechtliche
und politische Emanzipation der Juden an die Aufgabe des Judentums gebunden
war.“ (S. 126)
(13) Amerikanischer Nationalismus (oder Patriotismus) wird von den
europäischen Nationalismen differenziert und unterscheidet sich in vielerlei
Hinsicht signifikant. So ist der Schwur auf die amerikanische Verfassung
gleichbedeutend mit der Anerkennung demokratischer Prinzipien, die
Ideale wie Freiheit, Gleichheit, Selbstbestimmung etc. einfordern und so die
amerikanische Identität konstituieren. „Ausgangspunkt des amerikanischen
Nationalismus ist also nicht das ethnische Kollektiv, sondern die subjektive
Entscheidung des Individuums.“ (S. 88) Bleibt die Frage offen, inwiefern
sich nach der (einzelmenschlichen) Erfahrung Auschwitz ein Bruch in der
Ausprägung der amerikanischen Identität ergibt, der auch das
Pluralismusprinzip als solches nicht unberührt lassen kann. Adorno geht auf
diese Erfahrung der Nichtidenität ein, die viele der Kritischen Theoretiker
im von den deutschen Nazis erzwungenen amerikanischen Exil an Leib und Seele
spüren mussten: „Jeder Intellektuelle in der Emigration, ohne alle Ausnahme,
ist beschädigt und tut gut daran, es selber zu erkennen, wenn er nicht
hinter den dicht geschlossenen Türen seiner Selbstachtung grausam darüber
belehrt werden will.[…]Enteignet ist seine Sprache und abgegraben die
geschichtliche Dimension, aus der seine Erkenntnis die Kräfte zog. Die
Isolierung wird umso schlimmer, je mehr feste und politisch kontrollierte
Gruppen sich formieren, mißtrauisch gegen die Zugehörigen, feindselig gegen
die abgestempelten anderen.“ (Adorno, Minima Moralia, Schutz, Hilfe
und Rat.) Dieser fundamentalen Erfahrung wird der Autor durch die generelle
Kennzeichnung der Emigration meines Erachtens nicht gerecht (vgl. S. 119).
(14) Dass die radikalpolitischen Flüchtlingen aus Deutschland schnell ihre
Radikalität über Bord warfen und sich den realpolitischen Geschehen in den
Vereinigten Staaten zuwandten, zeugt von der Nivellierungskraft der
amerikanischen Gesellschaft gerade im Bezug auf die Aufgabe der
kommunistischen Hoffnungen und dem damit verbundenen Ideal, weltweit
Revolution machen zu wollen (Vgl. S. 104), so auch in den USA. Dieser
opportune Umstand klingt bei dem Autor überaus positiv an, was hinsichtlich
der Befreiung der Schwarzen nachvollziehbar bleibt. Doch die Hoffnung auf
eine kommunistische Weltrevolution, getragen durch revolutionäre Subjekte,
war vor Auschwitz noch nicht enttäuscht und ließ offen, ob sich die
Menschheit doch noch emanzipieren könne. Diese Hoffnung ist nach der
barbarischen Erfahrung des NS leider enttäuschter denn je, sollte aber nicht
zur Resignation veranlassen und zur Schmähung vergangener Hoffnungen
beitragen. Insofern vermisst man schmerzlich nach der plausiblen Darstellung
der „egalisierenden Tendenz der amerikanischen Gesellschaft“ (S. 97) eine
Kritik derselben.
(15) Dass eine Affinität zwischen der antisemitische Vergötzung der
produktiven, „schaffenden“ und industriellen Sphäre und der Ablehnung der
unproduktiven, „raffenden“ und zirkulären Sphäre als „jüdische Prinzipien“
besteht, zeigte schon M. Postone in seinem Text „Nationalsozialismus und
Antisemitismus“. Warum aber dann unkritisch am Prinzip des E Pluribus Unum
im Fordschen Sinne festgehalten wird, entzieht sich meinem Verständnis, da
dieser doch Juden definitiv
ausschließen wollte und deren Vernichtung (bewusst oder unbewusst)
intendierte. Wahrscheinlich ist hier die nivellierende Kraft der USA so
groß, dass die Gesellschaft solche Ideologien und deren Träger
marginalisiert und gegen sie mit Vehemenz vorgeht, falls sie zu stark
werden. Vielleicht findet es deshalb durch S. Voigt nicht einmal Erwähnung.
(16) „Es empfiehlt sich […] Fortschritt am Gröbsten, Massiven zu fassen:
dass keiner mehr hungere, keine Folter, kein Auschwitz sei. Nur dann ist die
Idee des Fortschritts der Lüge frei. Er ist keiner des Bewusstseins.“
(Adorno, zit. nach Claussen: Adorno. Ein letztes Genie. S. 400).
Besprechung von Klaus Thörner
in jungle world, Nr. 7 v. 14. Februar 2008,
http://jungle-world.com/seiten/2008/07/11459.php
For I live free and unfettered. Die Studie »Einheit und
Differenz« fragt nach der Rolle der Migration für das
Selbstverständnis der USA. Von Klaus Thörner
In Europa ist die politische und gesellschaftliche Besonderheit Amerikas
bis heute kaum verstanden worden. Amerika muss als »terra incognita« im
europäischen und vor allem im deutschen Bewusstsein bezeichnet werden. Wo
liegen z.B. die Ursprünge des Pluralismusprinzips in den USA und inwiefern
ist dieses bis heute gültig? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der am
Simon-Dubnow-Institut in Leipzig forschende Wissenschaftler Sebastian Voigt
in seiner im Herbst 2007 erschienenen Studie »Die Dialektik von Einheit und
Differenz«. Das Buch greift in die politische Diskussion über die USA der
vergangenen Jahre ein und versucht einen Kontrapunkt zum weit verbreiteten
Antiamerikanismus in Europa und zur Unkenntnis über die amerikanische
Revolution und der sich auf ihrer Basis vollziehenden politischen
Entwicklung im Zufluchts land von Millionen europäischer Migranten zu
setzen. Es geht der Frage nach, warum deutsche Revolutionäre in Amerika zu
loyalen citizens wurden. Am Beispiel der jüdischen Einwanderung wird die
Herausbildung eines ethnischen Pluralismus im Melting Pot USA dargestellt.
Der Autor charakterisiert die Vereinigten Staaten als Nation von
Einwanderern, gegründet von religiösen Dissidenten. Bis heute wächst die
Bevölkerung der USA im Gegensatz zu den meisten anderen Industriestaaten
beständig. Im Jahr 1915 wurde die 100-Millionen-Marke und 1967 die
200-Millionen-Marke überschritten. Gegenwärtig beträgt die Einwohnerzahl
etwa 300 Millionen. Im Gegensatz zum häufig artikulierten Vorurteil sind die
USA keine junge Nation, sondern das Land, dessen »Institutionen der
Freiheit« länger bestehen als die der europäischen Demokratien. Ohne die
Last einer feudalen Vergangenheit bildete sich unter dem Vorzeichen der
Moderne ein religiöser
Pluralismus und eine politische Toleranz heraus, die ein Zusammenleben der
verschiedenen Konfessionen und Migrationsgruppen ermöglichten, die in Europa
unbekannt war und bis heute weitgehend ist. Die amerikanische Revolution von
1776 ermöglichte ein Experiment radikaler Toleranz, das auf gemeinsamen
abstrakten Werten und Ideen wie Freiheit, Gleichheit und dem Streben nach
Glück basiert.
Der Charakter der amerikanischen Nation ist nicht durch die Faktoren »Blut
und Boden«, sondern durch die Kraft dieser Ideen geprägt worden, und da
diese Ideen universal waren, spielte die Abstammung für die
Staatsbürgerschaft keine Rolle. Keineswegs negiert werden dürfen jedoch die
Widersprüche zwischen der Theorie und Praxis dieser Ideen bzw. die
uneingelösten Versprechungen, die sich insbesondere in der Vertreibung und
Ermordung der Native Americans und der Versklavung und sozialen Exklusion
der schwarzen Bevölkerung zeigen. Letzt genannte nimmt insofern eine
Sonderrolle ein, da sie als einzige Gruppe nicht freiwillig in die USA kam,
sondern dorthin verschleppt wurde. Für Voigt war der Rassismus, der
Amerika im Bürgerkrieg fast zerstört hätte, das größte Hindernis auf dem Weg
zur Realisierung des Pluralismus. Obwohl die ehemaligen Sklaven seit 1866
staatsrechtlich citizens sind, wird eine strukturelle Diskriminierung bis in
die heutigen Tage perpetuiert. Dennoch beziehen sich auch die schwarzen
Amerikaner auf die Ideale der Bill of Rights, um gegen ihre Benachteiligung
zu kämpfen. Paradigmatisch hierfür ist die Bürgerrechtsbewegung in den
sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts.
Die sich in den Bill of Rights manifestierenden Vorstellungen von
Pluralismus, Toleranz, Meinungsfreiheit und politischer Gleichberechtigung
gehen, so Voigt, zurück auf die Einwanderung religiöser Dissidenten aus
Europa, vornehmlich aus England, die den repressiven Zuständen in der Alten
Welt zu entgehen suchten. Durch das vielfältige Sektenwesen war die
amerikanische Gesellschaft von Anfang an gezwungen, sich mit divergierenden
Überzeugungen auf eine andere Art auseinanderzusetzen, als dies in Europa
der Fall war. Die religiöse Toleranz bildete sich als bestimmendes Moment
heraus. Die Kirchengemeinden selbst beruhten auf dem Prinzip des
Voluntarismus, was bedeutet, dass religiöse Organisationen auf der Basis
freiwilliger Zustimmung und freiwilliger Abgaben ihrer Mitglieder existieren
und nicht etwa durch eine, wie auch immer geartete, staatlich erzwungene
oder organisierte Mitgliedschaft des Einzelnen. Die puritanischen und
calvinistischen Einwanderer propagierten ein unmittelbares Verhältnis des
einzelnen Gläubigen zu Gott und lehnten deshalb eine Priesterschaft und eine
Staatskirche vehement ab. Auf dieser Basis entwickelte sich in den
kirchlichen Gemeinden eine Form der demokratischen Partizipation, die den
Grundstein bildete für die Transformation des religiösen in den politischen
Pluralismus, die sich im Laufe der amerikanischen Revolution vollzog. Die
völlige Freiheit des Glaubens wurde gewährt, dieser aber zugleich rigoros
aus der öffentlichen, politischen Sphäre fern gehalten. Die
gesellschaftlichen Strukturen wurden so eingerichtet, dass die Hegemonie
einer Gruppe unmöglich und zugleich die Geltung des Pluralismusprinzips
verbürgt war. Das bis heute in Amerika wegweisende und nie angetastete First
Amendment der Verfassung von 1791 lautet: »Der Kongress darf kein Gesetz
erlassen, das die Einführung einer Staatsreligion zum Gegenstand hat, die
freie Religionsausübung verbietet, die Rede- oder Pressefreiheit oder das
Recht des Volkes einschränkt, sich friedlich zu versammeln und die Regierung
durch Petition um Abstellung von
Misständen zu ersuchen.«
Dabei verwehrten sich die Gründungsväter der USA im Gegensatz zu den
französischen Revolutionären einer Apotheose des Volks und verfielen nicht
dem Glauben, das Volk könne direkt herrschen. Der politische Einfluss des
Volks müsse über Institutionen vermittelt sein, um einen Despotismus der
Majorität zu unterbinden. Die wichtigste dieser Institutionen, der Supreme
Court, hat die Funktion der Kontrolle der Rechtsprechung. Zugleich legt er
in seinen Urteilen die Verfassung aus, die durch Interpretation ständig neu
formuliert und dadurch leben dig gehalten wird.
Woodrow Wilson sagte mit Recht, der Oberste Gerichtshof sei eine Art
verfassunggebender Versammlung, die in Permanenz tagt. Die Verfassung legte
den Grundstein für eine dezentrale politische Struktur mit Gewaltenteilung
und einer Machtbalance zwischen den verschiedenen Institutionen, die eine
Konsolidierung der errungenen Freiheit bewirkte, kulturelle Diversität
ermöglichte, Minderheiten schützte und die »Tyrannei der Mehrheit«, die in
einer Demokratie immer droht, zu verhindern suchte. Bis heute in ihren
Kernelementen erhalten, ist die US-amerikanische die am längsten gültige
demokratische Verfassung der Neuzeit. Voigt resümiert: »Es ging um die
Dialektik von Einheit und
Differenz, um die Herstellung einer heterogenen Unität. Diese Problematik
ist das perennierende Moment der amerikanischen Gesellschaft. Materialisiert
hat sich dies im Motto des Staatssiegels der Vereinigten Staaten: »E
Pluribus Unum«, aus den Vielen Eines. Dies verlangt von allen Beteiligten
eine große Kompromissbereitschaft und eine Toleranz gegenüber Dissidenz, die
sich in einer alltagspraktischen Indifferenz gegenüber Herkunft, Abstammung
und individuellen (Glaubens?)Überzeugungen zeigt.
Die Integrationskraft der amerikanischen Gesellschaft erwies sich um 1848,
als viele Deutsche, die sich aktiv an der gescheiterten bürgerlichen
Revolution beteiligt hatten, gezwungen waren, in die USA zu fliehen. Einer
dieser Flüchtlinge, der sich als Farmer niedergelassen hatte, beschrieb
seine Gefühlslage mit den Worten: »I am not exactly happy, but not unhappy
either, for I live free and unfettered. I am independent of everyone except
my oxen and the
weather. No one prevents me in my plans and projects except the lack of
money. No one prevents me from expressing my revolutionary sentiment except
the absence of an audience.« Nach einem anfänglich sehr affirmativen Bezug
auf die deutsche Kultur und dem Scheitern der Hoffnung, von Amerika aus die
Veränderung der Verhältnisse in Deutschland bewirken zu können, wandten sich
die Revolutionäre zunehmend der amerikanischen Politik zu und beteiligten
sich z. B. an der Gründung der Republikanischen Partei im Jahre 1854.
Die Auseinandersetzung um die Sklaverei zog die deutschen Einwanderer in die
politische Debatte hinein. Als Lincoln 1860 Präsidentschaftskandidat der
Republikanischen Partei wurde, erhielt er massive Unterstützung von den
Deutsch-Amerikanern. Dabei sahen sie den Kampf gegen die Sklaverei in einer
Kontinuität mit dem Kampf gegen den Despotismus in Eu ropa. Charakteristisch
für die Immigranten war die Absage an ethnischen Separatismus unter
Beibehaltung des eigenständigen kulturellen Hintergrunds. Exemplarisch steht
hierfür Karl Heinzen, dessen Schrift »Die Deutschen und die Amerikaner« von
1915 Voigt zitiert. Für Heinzen war es kein Widerspruch, sowohl
amerikanischer Bürger zu werden als auch Deutscher zu bleiben. Dies sei
möglich, weil sich die Gemeinschaft der Amerikaner nicht über eine
mythologisierte Vergangenheit oder eine Blutsverwandtschaft herstelle,
sondern über Ideen. Er schrieb: »Wann haben die Amerikaner sich selbst
amerikanisiert? Nach meiner Ansicht in dem Augenblick, wo sie ein gewisses
Dokument unterschrieben, welches die Worte enthält: ›Alle Menschen
sind gleich geboren und mit unveräußerlichen Rechten begabt, zu denen das
Leben, die Freiheit und das ungehinderte Streben nach Glück gehört.‹ Wer am
treuesten an dieser Lehre festhält, ist nach meiner Ansicht der beste
Amerikaner.«
Obwohl die Mehrheit der amerikanischen Gesellschaft die deutschen
Revolutionäre für zu radikal (also zu europäisch) hielt, bot sie ihnen die
Möglichkeit, sich zu beteiligen, ihre Interessen zu artikulieren und sich
aktiv einzumischen. Dies führte zur allmählichen Assimilation dieser
Einwanderungsgruppe. Heutzutage zeigen sich die unterschiedlichen
gesellschaftlichen Grundbedingungen in den USA und in Europa hinsichtlich
der Integration muslimischer Einwanderer.
Während sich in Europa ein gefährlicher Radikalisierungsprozess vor allem
unter jungen Muslimen vollzieht und Muslime im allgemeinen in schlechteren
sozialen Verhältnissen leben als der Durchschnitt der Bevölkerung, ist die
Situation in Amerika anders. Trotz einer leicht rückläufigen Tendenz in den
vergangenen Jahren sind Muslime in den USA deutlich besser integriert und
sowohl sozial als auch finanziell erfolgreicher als in Europa.
Um als Individuum Amerikaner zu werden, sind alle Einwanderer gehalten, ihre
Herkunft hinter sich zu lassen. Das bedeutet nicht, sie völlig aufzugeben
oder zu verleugnen, sondern sie als eine Art folkloristisches Moment, als
eine strikt private Angelegenheit zu betrachten und kollektive Identitäten
als veränderbar wahrzunehmen. Damit dies funktionieren kann, muss es eine
klare Trennung zwischen der Staatsbürgerschaft auf der einen und der
religiösen und ethnischen Herkunft auf der anderen Seite geben.
Mit dem Sieg der Nordstaaten im Bürgerkrieg von 1866 erfolgte nicht nur die
Abschaffung der Sklaverei, sondern auch die endgültige Durchsetzung der
bürgerlichen Gesellschaft. Gegen viele Widerstände, Anfeindungen und
Vorurteile in der amerikanischen Gesellschaft behaupteten sich die Juden und
etablierten ein vielfältiges religiöses und kulturelles Leben. Amerika bot
den Juden Gelegenheit, sich zu bewähren und sozial aufzusteigen, ohne die in
Europa erlittenen Restriktionen, wie etwa das Verbot, bestimmte Berufe
auszuüben. In Amerika lebten sie zum ersten Mal in einer Gesellschaft, in
der sie sich offen zu ihrer jüdischen Identität bekennen und zugleich loyale
Staatsbürger sein konnten. Während die Emigration vieler Deutscher auf
die gescheiterte bürgerliche Revolution zurückging, war die Auswanderung der
Juden eine Folge des Antisemitismus und der fehlenden Emanzipation in
Europa. Die Zahl der Juden in Amerika stieg von ca. 2.000 um 1776 auf 50.000
um 1850 und schließlich auf 250.000 um 1880. Von diesen waren etwa 80
Prozent aus Deutschland gekommen. Ab 1881 emigrierten dann infolge der
Pogromwellen in Russland und der Wirtschaftskrisen vor allem osteuropäische
Juden in die USA. Bis zum Ersten Weltkrieg erreichten rund zwei Millionen
Juden die USA. Dies entsprach 15 Prozent aller Juden Europas und acht
Prozent aller Einwanderer nach Amerika.
In den USA konnten sie ein Leben als Bürger in einer säkularen Republik
nahezu frei von Diskriminierung und Verfolgung und ohne staatlichen
Antisemitismus führen. Da Amerika ihnen diese Möglichkeiten bot, wurden sie
häufig zu Protagonisten im Kampf um den Erhalt der amerikanischen Ideale.
Sie kämpften für die Neutralität des Staates in religiösen und ethnischen
Angelegenheiten und setzten sich für andere minoritäre Gruppen ein.
Vielleicht ist Sebastian Voigt in einigen Punkten zu emphatisch, vielleicht
kontrastiert er an manchen Stellen zu wenig die Widersprüche zwischen den
Idealen der US-amerikanischen Revolution und Staatsgründung und der
gegenwärtigen gesellschaftlichen Realität.
Dennoch hat er ein überzeugendes und wichtiges Buch geschrieben. Der
europäischen Linken, die sich in Theorie und Praxis auf die französische und
russische, aber nie auf die amerikanische Revolution bezogen hat, könnte es
nicht schaden, sich damit zu beschäftigen.