Drechsler, Karl
2010, 233 S., ISBN 978-3-89626-698-9, 24,80 EUR
Rezension von Leberspezi, Oktober 2010
KÖNIG DAVID WIE ER LEIBT UND LEBT
Ein Lehrstück in Geschichte
Aus Fehden meines Volks ließest du mich entrinnen,
zu Haupt von Stämmen behütetest du mich.
Volk, das ich nicht kannte, sie dienen mir,
Söhne der Fremde, sie schmeicheln mir,
aufs Hören des Ohrs gehorchen sie mir,
Söhne der Fremde, sie werden mürb,
aus ihren Schlössern hinken sie herbei.
Ein Gesang Dawids /1/
Wer Geschichte schreibt, muß höchst eitel sein und Freude am Erfinden haben.
Anatole France, Die Insel der Pinguine /2/
1993 brachte die Berliner Morgenpost, ein ziemlich konservatives Blatt, eine aus London stammende Meldung unter dem reißerischen Titel: „Die Bibel eine Geschichtsfälschung?“ Darin wurde aus der „Frühgeschichte des Volkes Israel“ des Theologen Thomas Thompson von der Marquette Universität Milwaukee Folgendes zitiert: Es ist völlig unmöglich, dass Saul, David und Salomon, so wie sie in der Bibel beschrieben sind, tatsächlich gelebt haben. Ich halte die Bibelberichte für wundervolle Geschichten, die zu einer Zeit erfunden wurden, als Jerusalem im fünften vorchristlichen Jahrhundert Teil des Perserreiches war. /3/
Und Jonathan Tubb, damals Experte des Londoner British Museum für die Archäologie des Heiligen Landes, legte noch eins drauf: Professor Thompsons Buch ist ein Beispiel erstaunlicher Gelehrsamkeit und größter Akribie. Er hatte den Mut, das auszusprechen, was viele von uns schon lange denken. /4/
Nun hat Karl Drechsler, der ein Leben lang als Historiker die jüngste Vergangenheit bearbeitete, sich auf die alten Tage dieses unendlichen Themas angenommen. Leider hat er versäumt, Walter Beltz’ lehrreiche „Biblische Mythologie“ /5/ heranzuziehen. Aber Stefan Heyms Roman „König David Bericht“, bei dessen Entstehung Beltz theologisch beratend assistierte, wird immerhin im Vorwort erwähnt. Heym hielt seinerzeit den „parteilichen“ Geschichtsfälschern einen Spiegel vor mit seiner fiktiven Chronik von der Entstehung des Bibeltextes, nämlich des Einen und Einzigen Wahren und Autoritativen, Historisch Genauen und Amtlich Anerkannten Berichts über den Erstaunlichen Aufstieg, das Gottesfürchtige Leben, sowie die Heroischen Taten und Wunderbaren Leistungen des David ben Jesse, Königs von Juda während Sieben und beider Juda und Israel während Dreiunddreißig Jahren, des Erwählten Gottes und Vaters von König Salomo. /6/
In seinem Buch „Der rätselhafte David“ versucht Karl Drechsler fünf aktuelle David-Biografien maßgeblicher Fachleute wertfrei zu referieren. Dazu werden die Texte und der Bericht der Bibel in zeitgleiche Abschnitte (Jugend, Aufstieg, Exil, Königtum, Kriege, Alter und Tod) zerlegt, verdichtet und parallel verglichen. Auch extreme Anschauungen sind nicht ausgespart, etwa jene der Buchstabengläubigen, die die Bibel wörtlich nehmen, oder die der Minimalisten, welche König David nur für eine literarische Figur halten, um die sich altorientalische ätiologische Sagen ranken.
Die verschiedenen Standpunkte der Autoren sind kurz gefasst Folgende.
1. David ist ursprünglich der Musiktherapeut König Sauls. Dann wird er General und Schwiegersohn des Königs. Der krankhaft misstrauische König vertreibt ihn. Er nimmt Dienst bei den Philistern, die ihn zum König von Juda machen. Nach Sauls Tod wählen ihn die Israeliten auch zum König über Israel. David schlägt die Aufstände mehrerer Söhne und rebellierender Volksgruppen nieder. Als er senil wird, beerbt ihn sein Sohn Salomo, den er mit Bathseba, der Frau Urias des Hethiters, gezeugt hat. (Herbert Donner)
2. David ist angetreten, König Saul zu stürzen. Der entlarvte Putschist wird nach der Flucht vom Königshof Bandenführer einer Horde Gesetzloser, die von Terror und Schutzgelderpressung leben. Wer nicht gehorcht, wird um die Ecke gebracht. Davids Salbung zum König von Juda erfolgt durch seine Hausmacht. Alle Nachfahren Sauls werden ausgerottet und folgerichtig tritt David dessen Erbe als Herrscher Israels an. Der König herrscht über ein altorientalisches Großreich mit stehendem Heer, Hauptstadt und Harem. Der Streit um die Thronfolge ist eine Seifenoper aus Sex und Gewalt. (Steven L. McKenzie)
3. David entstammt einer kinderreichen Viehzüchterfamilie. Aus Armut geht er an den Hof König Sauls und arbeitet sich dort hoch. Dann fehlen entweder weitere Aufstiegsmöglichkeiten oder der Krieg mit den Philistern wird ihm zu heiß. Jedenfalls begibt er sich in kaum bewohntes Grenzgebiet und baut dort eine Elitetruppe auf, mit der er zu den Philistern überläuft. Er wird Herrscher über das Südreich Juda. Später machen ihn die Bewohner des Nordreichs zum Wahlkönig. David führt zahlreiche Angriffskriege. Die Unterworfenen werden massakriert oder versklavt. Im Alter verliert David an Einfluss. Die Söhne kämpfen nicht nur um die Thronfolge, sondern auch um unterschiedliche politische Konzepte. Der Sieger Salomo vertritt die urbane und höfische Elite. (Walter Dietrich)
4. David ist eine Wendegestalt, die für den gesellschaftlichen Umbruch steht. Er stellt sich der neuen Zeit und ihren Herausforderungen und kämpft dafür, die Erstarrungen der alten Strukturen zu überwinden. Wenn er politische Gegner ermorden lässt, dann nur zum Besten des neu gegründeten Staates, den er durch „Vorwärtsverteidigung“ sichert. David reformiert den Kultus, reorganisiert das Heer und die Verwaltung. Der Thronfolgestreit ist allerdings ein Zeichen innenpolitischer Instabilität. Mit Salomo setzt sich in den Kämpfen um die Thronfolge die Jerusalemer Fraktion gegen die Judäische durch. (Stefan Ark Nitsche)
5. Vom historischen David wissen wir so gut wie nichts. Vermutlich war er nur Hauptmann einer Räuberbande. Was die Bücher Samuel und 1 Könige vermitteln, sind nichts als Rückprojektionen späterer Zustände unter dem Königshaus der Omriden. Im 10. Jahrhundert v. Chr. lässt der archäologische Befund im judäischen Bergland keine Städte erkennen. Das Land ist nur dünn besiedelt durch Hirtenstämme. Jerusalem ist bestenfalls ein Dorf. Das Königreich Israel wird erst im 9. Jahrhundert gegründet. Ein danach entstandenes literarisches Epos von König David wird später zu offizieller Geschichtsschreibung umgedeutet. (Israel Finkelstein und Neil Asher Silberman)
Die Bücher „Schmuel“ und „Könige“ der Thora sind die einzigen schriftlichen Überlieferungen, die wir von König David besitzen. In anderen Quellen des Alten Orients wird er nicht erwähnt. Es fällt nicht leicht, sich auf den widersprüchlichen Bibeltext und seine dissoluten Deutungen einen Reim zu machen. Auch die Gegenwartsbezüge, die die Autoren in der Lebenswirklichkeit des alten Palästinas zu entdecken glauben, sind nicht sehr hilfreich. Karl Drechsler enthält sich weitgehend eines Kommentars, nur manchmal scheint etwas Ironie durch.
Unsere milden LeserInnen werden sagen: Die Wahrheit liegt wie immer in der Mitte, und die militanten: Die Archäologen Finkelstein und Silberman haben endlich zwischen Dichtung und Wahrheit unterschieden.
Wenn da nur nicht eine ominöse Tonscherbe wäre, die sich Drechsler für das Nachwort aufgespart hat. 2008 fanden die israelischen Archäologen Garfinkel und Ganor in einer archaischen Müllgrube im judäischen Hügelland ein Ostrakon (d. h. eine beschriebene Tonscherbe), angeblich aus dem 10. Jahrhundert v. Chr., bedeckt mit 55 kaum erkennbaren proto-kanaanäischen Schriftzeichen. Obwohl man nicht sicher ist, in welcher Sprache der Schreiber schrieb, glauben Experten die Worte „Diener, Richter, Gott, Kind, Rache, König, Devotion“ entziffern zu können. Damit handelt es sich vermutlich um einen Gesetzestext. Sollte die antike Stadt, welche die Müllgrube beherbergt, eine judäische Besiedlungsschicht aus der Zeit König Davids aufweisen, wie es die Ausgräber behaupten, dann hätten sich Finkelstein und Silberman womöglich geirrt.
Übrigens sind derartige Ostraka, die die Geschichte verändern, gar nicht so selten. Die altgriechische Volksherrschaft kannte nämlich einen basisdemokratischen Brauch, der heute ganz aus der Mode gekommen ist: den sogenannten Ostrazismus, das Scherbengericht. Wofern ein Oberer unter dem Verdacht stand, am Volk vorbei zu regieren, durften die Wähler seinen Namen auf wertlose Tonscherben kritzeln und bei einfacher Mehrheit wurde er für zehn Jahre aus der Stadt verbannt.
Es ist ein Segen, dass das Land Baden-Württemberg mittels moderner repräsentativer Demokratie gelenkt wird, denn nach dem Scherbengericht müsste die jetzige Regierung vermutlich in der Schweiz tagen.
Anmerkungen
/1/ Bücher der Geschichte, verdeutscht von Martin Buber in Gemeinschaft mit Franz Rosenzweig, Köln & Olten 1960, Das Buch Schmuel, S. 320
Luther übersetzt 1534: Du hilfst mir von dem zänkischen Volk und behütest mich zum Haupt unter den Heiden. Ein Volk, das ich nicht kannte, wird mir dienen. Die fremden Kinder verleugnen mich, aber diese gehorchen mir mit gehorsamen Ohren. Die fremden Kinder sind verschmachtet und zappeln in ihren Banden. (2 Samuel 44-46)
/2/ Anatole France, Die Insel der Pinguine, München 1919, S. 3
/3/ Thomas Thompson, The Early History of the Israelit People. Quelle: Berliner Morgenpost v. 29. 3. 1993, Die Bibel eine Geschichtsfälschung? BM/SAD London, 29. März
/4/ ebenda
/5/ Walter Beltz, Gott und die Götter. Biblische Mythologie, Berlin und Weimar 1975
/6/ Stefan Heym, Der König David Bericht, Berlin 1975, S. 9/10