trafo verlag 2007, 476 S., ISBN 978-3-89626-696-5, 39,80 EUR
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Rezension von Peter
Plath in: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät,
Band 95, S. 179-183:
Mit vielen Anmerkungen versehen, habe ich nach gründlichem Lesen das Buch
wieder zurück in das Regal gestellt. Oftmals stimmte ich dem Autor in seinen
Analysen zu, aber mindestens ebenso oft schienen mir äußerst kritische
Bemerkungen angebracht zu sein. In diesem Sinn soll diese Rezension auch der
Beginn einer Diskussion mit Herbert Hörz sein.
Es ist also lesenswert, denn es reizt zum Widerspruch trotz vielfacher
Zustimmung!
Ich bin überzeugt, daß Herbert Hörz gerade das mit seinem Buch
bewerkstelligen will - er hat es erreicht, denn jeder aufmerksame Leser wird
seine eigenen kritischen Anmerkungen zu verschiedenen der vielen
aufgegriffenen Probleme haben und sie auch äußern, und das ist gut so für
die wissenschaftliche Diskussion. Das Buch ist in seiner Thematik sehr
umfassend, so daß es schwierig ist, auf alle angesprochenen Probleme in
gleichem Maße sachkundig einzugehen. Ich will und kann an dieser Stelle
deshalb nur einige Punkte herausgreifen, die mich besonders angesprochen
haben.
„Wahrheit, Glaube und Hoffnung" - der Titel dieses 2007 erschienenen Buches
ist ein großes Versprechen für den Leser, insbesondere dann, wenn der
Untertitel „Philosophie als Brücke zwischen Wissenschaft und Weltanschauung"
lautet und von einem führenden marxistischen Philosophen geschrieben wurde.
Das Buch greift in die hoch aktuelle Diskussion um Religion, Philosophie und
Gesellschaft ein, lässt jedoch die an den Auseinandersetzungen im
englischsprachigen Raum - vor allem Amerika/USA und England selbst - sich
entzündenden Diskussionen weitgehend außer acht. Während Richard Dawkins im
„Gotteswahn" auf fast 500 Seiten einem klar formulierten Atheismus das Wort
redet, arbeitet Herbert Hörz ebenso umfangreich in einer sehr persönlichen
Weise kritisch die Situation der marxistischen Philosophie auf, wie sie sich
aus der Sicht in der „Nachwendezeit" für ihn ergibt. Dabei spielt auch die
Frage der Auseinandersetzung mit dem Glauben eine zentrale Rolle.
Herbert Hörz betont, daß eine Differenzierung des Glaubens möglich wäre.
Dabei geht er davon aus, daß „der Glaube eines religiös gebundenen
Wissenschaftlers an eine Hypothese, die ihn zwingt, mit Leidenschaft nach
ihrer Bestätigung zu suchen", sich sicher nicht „von dem, der an keinen Gott
glaubt, doch ebenso intensiv nach Wahrheit sucht" unterscheidet (S. 235).
Das Problem ist der doppelte Sinn des Wortes Glauben im Deutschen. Kann man
ernsthaft von dem Glauben an eine Hypothese sprechen? Ist es nicht
vernünftiger zu sagen, daß der Wissenschaftler der Meinung ist, Hypothesen
seien logisch (im Sinn einer verallgemeinerten Logik) begründbar und würden
einen gewissen Aspekt der Realität widerspiegeln? In dieser Hinsicht
unterscheiden sich der gläubige und der nicht-gläubige Wissenschaftler
sicher nicht.
Es ist zwar sehr interessant und auch genügend provokant zu formulieren:
„Visionen für die Zukunft sind wissensbasierte Glaubenssätze" (S. 235), doch
könnte man fragen, ob nicht auch Glaube (im religiösen Sinn) auf
Glaubenssätzen beruht, die wissensbasiert sind. - Was bedeutet Wissen in
diesem Zusammenhang? - In diesem Sinn ist auch der Glaube an einen in der
Zukunft erscheinenden Erlöser eine Vision.
Herbert Hörz macht einen klaren Unterschied zwischen Philosophie und
Weltanschauung und räumt dem Glauben eine Position ein, wie es
wahrscheinlich auch Einstein getan hätte. In seiner Neubestimmung der drei
Titelbegriffe seines Buches spielt der Begriff der „Weltanschauung als
Lebenshilfe" eine zentrale Rolle, wobei die „Philosophie als Methode der
Erkenntnisgewinnung" der Entwicklung der Weltanschauung dienlich zu sein
hat.
Leider wird diese Grundidee über eine längliche Folge von sich ständig
ablösenden, unscharfen „Definitionen" entwickelt. Das mag
philosophie-methodisch begründet sein, ist jedoch für einen
Naturwissenschaftler nur schwer verdaulich. Immerhin, diese Position wird
entwickelt, und das ist sein Verdienst. Es gibt ihm die Möglichkeit, zu
aktuellen philosophischen Problemen der Naturwissenschaften Stellung zu
nehmen. Seine Position entwickelt er dabei mit geschicktem Rückgriff auf
historische, naturwissenschaftliche Probleme exemplarisch. Hierin liegt
seine Stärke und dies macht das Buch auch für einen wissenschafts-historisch
interessierten Naturwissenschaftler lesenswert.
Als philosophisch interessierter Naturwissenschaftler hat insbesondere der
dritte Teil des Buches meine Aufmerksamkeit gefunden, in dem H. Hörz sich
mit aktuellen Fragen der Entwicklung der Naturwissenschaft befaßt. Hier
macht er wiederum an Fallbeispielen seinen Standpunkt klar. Dabei spielen
die Geowissenschaften eine große Rolle, denen er im Hinblick auf die
Ressourcenfrage und Ökologie eine ganz entscheidende Funktion zuschreibt. Er
sieht in ihr einen ganz neuen Typ von Wissenschaft, denn „Geowissenschaften
haben mit philosophischem Blick Argumente abzuwägen, Bildung zu vermitteln
und Entscheidungen in Hinsicht auf die Zeithorizonte zu begründen." (S.
363).
Er fordert eine „neue Reform des philosophischen Zeitverständnisses in der
Geologie. ... Zyklizität der Zeit und subjektive Zeit spielen eine große
Rolle. An die Stelle von gestörten Naturkreisläufen sind Zyklen zu setzen,
die es ermöglichen, Schäden zu reparieren. Zeit als Gestaltungsspielraum von
Generationen verlangt Wissen über die objektive Geozeit, über die Gestaltung
von Zyklen ohne antihumane Auswirkungen über die Folgen menschlichen
Handelns." (S. 362)
Für ihn „stellt sich deshalb die Frage, ob eine Mensch-Natur-Einheit möglich
ist, die die Mensch-Erde-Beziehung mit umfasst. Voraussetzung dafür wären
Förderung der Geowissenschaften als Investition in die Zukunft, Wissens- und
Kompetenzerweiterung der Entscheider und generell ein Umdenken im Sinne der
geforderten Reform, Wissen um die Geozeit mit Folgeverantwortung zu
verbinden, um eine humane Zukunft zu gestalten und nicht zu verbauen." (S.
363)
Es sind dies schöne Forderungen, die stark utopischen Charakter tragen, was
an sich nicht negativ ist. Die Vermutung liegt nahe, daß es ich hier um
etwas übertriebene Hoffnungen eines Philosophen handelt, die er in eine
naturwissenschaftliche Einzelwissenschaft setzt.
Dieser utopische Charakter reizt zum kritischen Weiterdenken und zur
Diskussion.
Dabei ist seine Bewertung der Geowissenschaften durchaus positiv zu werten.
Doch wie alle Einzelwissenschaft sind auch die Geowissenschaften methodisch
wie auch in ihrem gesellschaftlichen Wirken beschränkt.
Ein andere, sehr aktuelle Forderung nach dem Übergang von der linearen zur
nicht-linearen Denkweise wird in einem der letzten Kapitel aus dem
Kausalitätsbegriff abgeleitet: „Unter dem Aspekt der Selbstorganisation kann
nun vielleicht der mit der Diskussion um Kausalität, Determinismus und
Indeterminismus verbundene Schritt von der linearen zur nicht-linearen
Denkweise besser verstanden werden." (S.373)
Leider werden die damit verbundenen Fragen all zu summarisch abgehandelt,
was der sehr berechtigten Forderung, die im Schlagwort von der
Nicht-Linearität zum Ausdruck kommt, nicht die Kraft entfalten läßt, die ihr
eigentlich innewohnt.
Hier wäre eine tiefere Diskussion sinnvoll und durchaus möglich gewesen.
Die gesamte philosophische und wissenschaftshistorische Diskussion dieses
Buches gipfelt in der Freiheitsforderung als einem Problem der
Strukturbildung in sozialen Systemen - und das ist überraschend schön!
„Entscheidend für die Freiheit der Individuen ist der erreichte Grad der
Selbstorganisation des sozialen Systems, weil er Ausdruck der vorhandenen
Möglichkeiten der Selbstverwirklichung ist. Dies gilt für lokale, regionale
und globale menschliche Gemeinschaften." (S. 393)
Der Begriff des Freiheitsgewinns wird bei Hörz zum zentralen Begriff für die
Entwicklung sozialer Systeme, den es könne „... mit größerer Offenheit (der
sozialen Systeme, d. Aut.) unter Beachtung der Nicht-Linearität eine auf
Reformen basierenden Stabilität mit Freiheitsgewinn erreicht werden, weil
die auf Entwicklung orientierte demokratische Selbstorganisation die
diktatorische Fremdorganisation dominiert." (S. 393)
Die Bedeutung des Begriffes der Entwicklung eines sozialen Systems wird hier
leider nicht genauer dargelegt. Geht man von dem Gedanken aus, daß ein sich
entwickelndes System ja kein stabiles System sein kann, sondern daß es
vielmehr ein divergierendes System sein muß, dann ließe sich der
Freiheitsgedanke stringenter entwickeln. Ein sich entwickelndes System kann
nicht nur einen Weg beschreiten, sondern es wird wahrscheinlich aus vielen
sich verzweigenden, dicht beieinander liegenden zukünftigen Trajektorien
(Wegen) bestehen.
Dennoch, mit dem neuen Begriff des Freiheitsgewinns formuliert Herbert Hörz
einen Begriff, der dem der Entropie in der Thermodynamik von L. Bolt-zmann
nahe kommt. Es wäre durchaus recht interessant, diesen Begriff des
fortwährend anzustrebenden Freiheitsgewinns einmal mathematisch exakt zu
fassen. Gelänge dies, was mir nicht unmöglich scheint, so wäre dies eines
der ersten, wenn nicht sogar das erste Beispiel dafür, daß die Philosophie
einen Forschungsansatz für die naturwissenschaftliche Behandlung eines
sozialen Problems geliefert hat. Das Beispiel dieser realistischen Utopie
macht das Buch lesenswert - auch für einen Naturwissenschaftler wie mich -
denn sie zeigt Gemeinsamkeiten der wissenschaftlichen Problemstellung auf -
und das ist wahrlich neu - es ist emergent!
Als Liebhaber des kleinen Buches, der verdichteten klaren Darstellung eines
Problems und seiner Lösung, hätte ich mir eine wesentliche Straffung der
hier erörterten Problematik gewünscht. Aber dieser Wunsch berücksichtigt
wohl nicht die durch die Wissenschaftstradition historisch bedingte Struktur
des Schreibens und der Methodik des philosophischen Denkens. Das muß ich
berücksichtigen, auch wenn es für mich als Naturwissenschaftler recht
gewöhnungsbedürftig ist, denn es lohnt sich, wenn man sich wie bei einem
Abenteuer darauf einläßt, auch einmal die Genesis eines Gedankenganges mit
allen Implikationen und Variationen nachzuvollziehen, um ihn vollkommen zu
verstehen.
Das Buch enthält durch diese Ausführlichkeit aber auch viele aus
naturwissenschaftlicher Sicht hochinteressante Kapitel, die gesondert und
vertieft diskutiert werden sollten - sie wären es wert! Ich habe hier nur
sehr wenige Beispiele herausgesucht, die mich besonders interessierten und
deren Gedankengang und Begrifflichkeiten einen hohen Neuigkeitswert
besitzen.
Es wäre wünschenswert, wenn Herbert Hörz einige dieser Gedanken aufgriffe
und mit seinem großen philosophischen Wissen und Verständnis für
naturwissenschaftliche Probleme die aktuelle Diskussion um die Entwicklung
der Wissenschaft mitgestaltete.
Annotation von Dr. Annette Schlemm: http://www.thur.de/philo/project/hoerz2007.htmll
Besprechung von Prof. Peter
Fleissner, Wien (Oktober 2007):
„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“ Mit
diesem Bibelzitat, das nicht als solches gekennzeichnet ist[1],
beginnt Herbert Hörz sein jüngstes umfangreiches Werk. Aber schon im
folgenden Satz weicht er vom Originaltext ab, der da lautet „…sondern
von allem, was aus dem Mund Gottes geht.“ Hörz schreibt dagegen: „Er
ist ein denkendes Wesen“ und orientiert damit auf einen alternativen
Schwerpunkt, der sich durch das ganze Buch zieht. Auch der Titel bildet eine
Brücke zur und gleichzeitig eine Unterscheidung von der christlichen
Tradition, lauten doch deren drei Kardinaltugenden „Glaube“, „Liebe“
und „Hoffnung“. Hörz tauscht „Liebe“ gegen „Wahrheit“ und setzt
damit einen Kontrapunkt zum religiösen Habitus, indem er anstatt göttlicher
Offenbarung das säkulare Denken zur Grundlage seiner Argumentation macht.
Hörz legt die Latte für sein Buch hoch: Anhand von Beispielen bedeutender
Denker in Vergangenheit und Gegenwart möchte er die Philosophie wieder in
den Rang einer „großen Erzählung“ bringen. Er verfasst eine Summa
seiner Erfahrungen, die er mit eigenen Erlebnissen als Wissenschaftler,
Dekan, Sektionsdirektor und Akademie-Vizepräsident in der DDR, nach der
Wende als Initiator und Präsident der Leibniz-Sozietät, und mit Hinweisen
auf mehr als vierzig eigene Publikationen illustrieren kann. „Philosophen
sind Wahrheitssucher und Hoffnungsbringer….Dabei verwerten sie
wissenschaftliche Ergebnisse und soziale Erfahrungen, um die Hoffnung auf
ein besseres Leben wachzuhalten“ (S. 11).
Für einen Rezensenten, der sich mit dem Buch kritisch auseinandersetzen
will, ist damit eine Aufgabe gestellt, die nur äusserst partiell erfüllt
werden kann, da der Typ des universellen Gelehrten, der dies leisten könnte,
schon seit geraumer Zeit ausgestorben ist. Der Rezensent beschränkt sich
daher auf einige subjektiv ausgewählte „highlights“.
Hörz skizziert anhand von Biographien prominenter abendländischer
Philosophen in ihrem jeweiligen Umfeld eine Kurzgeschichte der europäischen
Philosophie und zeigt damit Philosophie in ihrem Werden. Der Bogen ist weit
gespannt. Er beginnt im alten Griechenland mit den Vorsokratikern, erstreckt
sich über Platon und Aristoteles, um sich dann vorwiegend auf deutsche
Philosophen, wie z.B. Kant, Hegel, Feuerbach, Marx, Bloch zu konzentrieren.
Ein Kapitel widmet sich kursorisch den philosophischen Auseinandersetzungen
im 20. Jahrhundert, das er mit der Forderung nach Aufgabe des Eurozentrismus
hin zu einer Weltkultur schliesst. Anhand von zeitgenössischen Philosophen,
PolitkwissenschftlerInnen und HistorikerInnen (Habermas, Sloterdijk, Fraser,
Honneth, Huntington, Fukuyama) setzt er sich mit den Fragen und Bedingungen
auseinander, die Philosophie heute auf der Tagesordnung findet. Die rasante
technische Entwicklung mit den Strängen der Informations-, Gen- und
Biotechnologie erfordere neue ethische Konzepte für das heute Machbare. Die
Einzelwissenschaften bedürfen einer neuen Zusammenschau, eine weitere
Aufgabe für die Philosophie. Er ist optimistisch, dass eine „globale
Philosophie des Friedens, der Humanität und der Toleranz helfen könnte,
Gemeinsamkeiten zwischen den Kulturen aufzudecken und Unterschiede zu
achten“, eine Forderung, die an Aktualität kaum zu überbieten ist.
Seine intensive Beschäftigung mit der Geschichte der Naturwissenschaften
schlägt sich durchgängig im Text nieder, indem er häufig auf
philosophische Positionen von Naturwissenschaftlern (Helmholtz, Einstein,
Heisenberg) und ihr Herangehen an wissenschaftliche Probleme und „Welträtsel“
verweist. Durch Ausführungen über Kausalität, Gesetz, Zufall, Autonomie
und Emergenz von Systemen sowie zur linearen und nicht-linearen Denkweise
bringt er naturwissenschaftliche Positionen in die Philosophie ein und
verleiht ihnen eine wichtige Stimme. Erkenntnisse zeitgenössischer
deutscher Sozialwissenschaft sind dagegen unterrepräsentiert, was im
Gegenzug zu originellen Behauptungen führt, etwa über die zentrale Rolle
des Neides als Gegenspieler zur Solidarität.
In einem kurzen, aber informativen Kapitel über die Möglichkeit einer
ideologiefreien Wissenschaft kritisiert Hörz Max Weber, den bekanntesten
deutschen Vertreter der Ideologiefreiheit, mit dem Argument, dass die „von
Weber betonte Spezialisierung der Wissenschaften an Grenzen der wachsenden
Komplexität von Aufgaben und Entscheidungssituationen stößt, wofür
inter-, multi- und transdisziplinäre Arbeit erforderlich ist.“ (S. 192).
Mit einem „wertneutralen“ Begriff von Ideologie als „die an Interessen
gebundene Wertung, die motiv- und willensbildend wirkt“ ermöglicht es Hörz,
die Art der Ideologisierung von Wissenschaft als positiv („humane Nutzung
der wissenschaftlichen Erkenntnisse“) oder negativ („als Spielball
politisch-ideologischer Auseinandersetzungen“) zu beurteilen (S. 212).
Im Abschnitt 6 („Gibt es Schnittmengen zwischen Wissenschaft, Philosophie
und Religion?“) leitet Hörz den deutschen Begriff „Religion“ vom
lateinischen „religio“ mit der Übersetzung „Gottesfurcht“ ab (S.
214), was m.E. noch nicht zum Kern vordringt. In dem von ihm nur teilweise
zitierten Wikipedia-Eintrag findet man auch die etymologische Deutung
„Religion (von lat. religere = rückbinden)“, was mich zur
Interpretation verführt, dass wir nicht „Re“-ligion bräuchten, eine rückwärts
gerichtete Form der geistigen Weltaneignung, die über das sinnlich
Erfahrbare hinausgeht, sondern eine „Pro“-ligion, die sich
zukunftsorientiert dem noch nicht Erfahrenen zuwendet und im Bündnis mit
Philosophie und Einzelwissenschaften steht. Diese Sicht deckt sich vollständig
mit der Hörz’schen Bestimmung von Religion als „Form menschlichen
Gewissens, menschlicher Antizipation dessen, was erreicht werden kann und
soll, deren Inhalt auch im Diesseits zu finden ist“ (S.236). Hörz weist
darauf hin, dass sich der Raum der Auseinandersetzung zwischen Marxismus und
Religion nicht auf das Christentum beschränken sollte, sondern auch auf
andere Kulturkreise ausgeweitet werden müsse. Den ethisch argumentierenden
Vertretern der Religionen empfiehlt Hörz die Berücksichtigung
wissenschaftlicher Erkenntnisse und hofft, „an die Stelle von
moralleitenden übernatürlichen Prinzipien können selbstevidente
Wertvorstellungen von der Erhaltung der menschlichen Gattung und der
friedlichen Lösung von Konflikten treten“ (s. 259). Er meint, dass
„christliche Seelsorge den Prozess der Humanisierung einer Gesellschaft
unterstützen könne, dass sie aber auch nicht die einzige Form spiritueller
Hilfe wäre: „Umfassender bietet Philosophie mit wissenschaftlich
fundierter Welterklärung und humanistischen Forderungen Basis für eine
breitere Ethik…Seelsorge generell ist Lebenshilfe durch eine humanistisch
ausgeprägte Philosophie“ (S. 454).
Hörz beschränkt sich nicht auf den Elfenbeinturm, sondern wagt sich vor
allem im Kapitel „Marxismus und Sozialismus“ auf das glatte Parkett der
jüngeren Geschichte. Kritisch und selbstkritisch zugleich skizziert er
Bilder des Realsozialismus, oft anhand selbst erlebter Ereignisse, und weist
auf Fehlentwicklungen, aber auch auf Erhaltenswertes hin. Bemerkenswerter
Weise schliesst er dieses Kapitel nicht mit Äußerungen von Fachkollegen,
sondern mit den posthum veröffentlichten sozialphilosophischen Überlegungen
des 1906 in Wien geborenen Musikwissenschaftlers Georg Knepler (http://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Knepler).
Es sei notwendig, weiter nachzudenken „über Konzeptionen, Macht ohne
Herrschaft zu denken, Kooperation statt Konfrontation zu fördern, das Ideal
einer Assoziation freier Individuen mit sozialer Gerechtigkeit und ökologisch
verträglichem Verhalten
als humane Zukunftsoption weiter auszugestalten“ (S. 335).
[1]
Christus antwortet damit auf die Zumutung des Teufels, er könne, wäre er
der Sohn Gottes, die Steine in der Wüste in Brot verwandeln (siehe Matthäus,
4. Kapitel)