Essaysammlung, trafo verlag 2007, 345 S., engl. Broschur: ISBN 978-3-89626-686-6, 19,80 EUR, Hardcover: 978-3-89626-683-5, 26,80 EUR#
Rezension
von Hannelore Hoffmann in:
Märkische LebensArt, Ausg. 4/2007, S. 4
„Ein unsichtbares Feuer" - Der
schreibende Musiker Till Salier wird 65
Die Kinderbücher
„Wie Bach Thomaskantor wurde", „Konzert für kleine
Hände", „König Midas und sein
Barbier", „Wie Händeis Messias entstand"
umfassen nur einen Teil aus
der Bibliographie des Saarower Schriftstellers Till Saiier. Über den Weg als Orchestermusiker und
Rundfunkjournalist kam Sailer über ein Zusatzstudium am Leipziger Literaturinstitut
zum Schreiben. Seit 1979 ist er freier Schriftsteller. Ein Stipendium als
Stadtschreiber im niedersächsischen Otterndorf
ermöglichte ihm gründliche
Forschungsarbeit und intensive
Auseinandersetzung mit der
historischen Persönlichkeit des Komponisten
Johannes Brahms. Von Otterndorf
aus bekam er uneingeschränkten
Zugang zum Hamburger
Brahms-Museum und wichtige
Unterstützung durch dessen Leiterin.
Vier Jahre intensivster Forschung
und Recherche und der überaus
erfolgreiche Brahms-Roman (siehe
nebenstehende Rezension) krönen Sailers bisherige Arbeiten zur Musik.
Nun, sozusagen
zu seinem 65. Geburtstag,
schenkt Till Sailer sich und
seinen Lesern ein Buch mit sehr persönlichen Zeugnissen seines Lebens und Schreibens. Sailer, der sonst
eher still und besonnen wirkt, bekennt sich in seinem neuesten Werk leidenschaftlich zu seiner Auffassung einer
menschlichen Gesellschaft. Eben
auch dafür, dass alle Menschen einen
uneingeschränkten Zugang zu
Kunst und Kultur haben müssen, der weder
durch ideologische noch durch
marktwirtschaftliche Schranken behindert
werden darf. „Ein unsichtbares
Feuer" umfasst 25 Texte, in
der Mehrzahl bisher unveröffentlicht. Authentisch
lässt Sailer seine Leser daran
teilhaben, wie er als Autor auf der
Suche nach seinem politischen und
künstlerischen Standort war und ist. in
seinen neuen Texten begegnet man wiederum Menschen, die dem Autor wichtig
waren.
Persönlicher
Brief von Dieter Lattmann, Schriftsteller [an
den Autor]
München, 31.5.2007
Lieber Till,
nachdem Dein Buch „Ein unsichtbares Feuer“ mit „vermischten Texten
1963–2006“ in der Münchner Autorenbuchhandlung angekommen war,
habe ich es gleich zusammenhängend gelesen und zuletzt auch noch
einmal das, was du am Anfang darüber ausgesagt hast. Mein Gesamteindruck:
Dies weltoffene, politisch wie literarisch engagierte Rechenschaftsbuch über
viereinhalb Jahrzehnte Leben und Arbeit in der Deutschen Demokratischen
Republik und danach in der Bundesrepublik hätte kein westdeutscher Autor
schreiben können. Es lebt von den Brüchen, den Vorteilen und Nachteilen
ostdeutscher Biographien der im zweiten Weltkrieg geborenen Generation. In
der Spannweite ist es unverwechselbar der Nachweis Deiner Identität. Du
bist ihr schreibend und sammelnd mit überzeugender Aufrichtigkeit auf den
Grund gegangen. Da Du eine, nämlich Deine exemplarische Entwicklung
aufzeigen wolltest und das auch vollbracht hast, gehören Unterschiede in
der humanen und professionellen Reife zur Sache. Es gibt in diesem Buch
starke Höhepunkte und, lass mich sagen: geländegängige Wegstrecken,
einschließlich beabsichtigter Wiederholungen des Blicks auf Leitfiguren aus
Deinen verschiedenen Zeiten und Stationen. Ich gratuliere Dir zu dem
authentischen Werk und ebenso zu dessen typographisch und drucktechnisch
vorzüglicher Ausstattung.
Beim Lesen habe ich mir auf meinen Zetteln eine Menge notiert und gebe Dir
hier auszugsweise meine detaillierte Einschätzung:
Leben in Geschichten / Statt eines Vorworts: Die persönliche
Vorausbilanz ist für das spätere Verständnis beim Lesen sehr notwendig.
Auch ich habe über Dich noch manches für mich Neue daraus erfahren.
Schloss Bergfried: Mir scheint aufschlussreich, wie Du in der
Erinnerung an Deine Weimarer Jugend und frühe Ausbildung zum Musiker 1969
an die erste Begegnung mit dem Konzentrationslager Buchenwald im Abschnitt Heckenrosen
angeknüpft hast. Inhaltlich sind beide Kapitel wichtig. Schade, dass sie
schreiberisch – in meinen Augen – nicht die Gestaltungskraft späterer
stärkerer Kapitel erreichen.
Lehrstunde mit Albert Ebert: Dafür, dass Du die Bedeutung dieses
Malers und ehemaligen Arbeiters von 2002 erinnernd gesehen hast, erscheint
sie mir zu skizzenhaft. Nicht von ungefähr hast Du sie im Buch auch in
einen früheren Zusammenhang gestellt.
Ein Engel kommt zu Besuch: Da hast Du Dich, 23-jährig, an das
geteilte Deutschland und die beiden Regierungen herangewagt und einen
Sendboten des Himmels zu Hilfe genommen. Was mir haften bleibt: „Gegen
diese kalte Welt kann man keinen Krieg gewinnen, auch keinen kalten.“
Die Dame mit dem Hermelin und Der Antrag: Wie ungeheuer die
Schuld der Eltern, der Älteren, Dich gebeutelt hat, das spricht aus diesen
beiden wie vielen anderen Kapiteln des ersten Teils. Wir nannten das im
Westen die unbewältigte Vergangenheit. Das Schicksal Deiner Mutter,
das Du oft wieder aufgreifst, hat in der Bewerbung als Lehrerin eine erste
Deutlichkeit, und die Pointe, dass gerade das Eingeständnis der eigenen frühen
Anhänglichkeit an den Hitler-Staat ihr beim Amtsleiter Liedke zur
Anerkennung verhilft, hat dokumentarischen Rang – der wird später in
neuen Zusammenhängen noch viel deutlicher.
Begegnung in Weimar: Alles, was Du hier und im Folgenden über Deine
Suche nach antifaschistischen Vorbildern geschrieben hast, besitzt eine große
Glaubwürdigkeit; es hat mich sehr bewegt. Du hast in dem toten Louis Fürnberg
einen Deiner väterlichen Meister gefunden.
Die Schwester: Und dann kommt dieses Hörspiel von 1977, das in der
literarischen Imagination und Genauigkeit alles Bisherige über den Haufen
wirft. Ich halte dieses Stück für das eindrucksvollste des ganzen Buchs,
dazu gehören auch Deine weiter hinten anschließenden Erinnerungen an
Arthur Ewert und seine Schwester Minna Ewert, die „überall in Gefahr
ist.“ Denn „zu Hause bist Du nur, wo Du Vertrauen haben darfst.“ Das
ganze historische Drama zwischen Urkommunisten (im Sinn fast wie Urchristen)
und dem Sowjetreich mit seinen so gegensätzlichen Lenkern blitzt hier auf.
Stalin: Trotzki.
Die Laute des Hans Lautenschläger: Von der Schule Scharfenberg (Hans
Coppi) zum Widerstand der Roten Kapelle bis hin zum Überläufer, der sich
„in der Uniform der Feinde“ zur Roten Armee in Leningrad durchschlägt
ein tiefgreifendes Kapitel für alle, die von solch beispielhaften
Schicksalen eine Ahnung haben wollen.
Distler im Drachenhaus: Ich sehe Dich noch vor mir, wie Du mir im
ersten Stadium unserer Bekanntschaft (um 1992) Hugo Distlers Spuren in
Strausberg aufzeigtest. Darum hat mich das Kapitel an viel mehr erinnert als
nur an das, was Du über Distlers selbstgewähltes Ende in Berlin
geschrieben hast. Ich war während meiner Zeit im Bärenreiter-Verlag Kassel
(1946-1949), wie Du weißt, mit Teilen seines kompositorischen Werks
befasst.
Ein unsichtbares Feuer: Das habe ich mit besonderem Interesse
gelesen, weil ich immer einmal wieder bei meinen Besuchen in der DDR
eingeladen wurde, beim Radio in der Berliner Nalepastraße ein Interview zu
geben oder einen vorher eingesandten Text zu lesen. Einmal tauchten damals
demonstrativ hinter der Glasscheibe des Studios zwei Kontrolleure auf. –
Der Redakteursjargon in der „Chaosburg Rundfunk“ spiegelt Möglichkeiten
und Grenzen Eurer damaligen Arbeit. „Es ist nicht die Vorgabe, sondern
auch die Schere im Kopf“ – auch im relativen Freiraum der
Musikredaktion. Die Sauferei und die Anzüglichkeiten der Kollegen: „Es
muss ja auch Genossen geben, die nicht linientreu sind,“ lässt Du Paula
Ruluck sagen. Manche Einzelheiten erscheinen mir etwas zu knapp abgehandelt.
Helle Nächte: Das unsichtbare Sonnenlicht der berühmten Weißen Nächte.
„Nur der Schatten fehlte.“ Ich
habe bedauert, dass dies nur eine Skizze ist und Du sie nicht für das Buch
noch aufgefüllt hast. Aber Du wolltest, wie auch sonst, beim ursprünglich
Geschriebenen bleiben. (Nachteil der Anthologie.)
ERBEN: Diese Standortbestimmung der Deutschen in der DDR, die um 1945
geboren wurden, finde ich besonders gelungen, gerade in der Beschränkung
auf die „Situation der literarischen Enkel“. Und da steht auch, was für
Deine Entwicklung so kennzeichnend ist: „Ich eignete mir wohl ein
Misstrauen gegenüber extremen Standpunkten an.“ Dein
Kindheits-Doppelleben, das Du wieder aufgreifst – hier Elternhaus, dort Öffentlichkeit
– werden vertieft durch die Verbindung mit Deinem Reflex auf Hans
Kaufmann, Inge von Wangenheim, Franz Fühmanns „Wort an künftige
Kollegen“, wiederum Louis Fürnberg, Heine und Wilhelm Müller und andere,
zumal es noch während der DDR-Zeit, zwei Jahre vor Honeckers Staatsbesuch
in Bonn, geschrieben ist.
Der Weg nach Golzow: Ich
erinnere mich natürlich, wie Du mir von der dokumentarischen Filmchronik
dieser Kinder erzähltest, wenn wir einander in den 90er Jahren trafen, und
wie Du Dich bemühtest, dass diese einmalige Jahresring-Geschichte im
vereinten Deutschland fortgesetzt werden kann. „Der Frieden in der DDR ist
ein trauriger Frieden. Wir hatten uns Sozialismus anders vorgestellt.“
Dieses Fazit ist besonders einprägsam. Es steht im Buch auch genau am
richtigen Fleck.
Abstieg vom Stramboula und Freundinnen: Diese beiden Stücke
las ich als ironische Glosse auf das Geschichten-Schreiben vor und nach der
„Wende“ bzw. als das Aufspießen von Unsicherheit einer
Freundinnen-Treue im Umbruch scheinbarer Gewissheiten von Ost und West.
„Die Schweineschnauze im Sowjetgarten“: Bravo! Das gehört zum
Besten, was ich über den Missbrauch der Stasi-Archive für angeblich
aufarbeitende Westbeauftragte gelesen habe. Auch wie Du die in Joachim
Walthers „Sicherungsbereich Literatur“ enthaltene Pseudo-Aufklärung
entschlüsselst, ist treffend. Interessant auch Deine persönliche Erfahrung
mit dem Versuch, Dich als „IM Mozart“ zu brandmarken. Ich fühlte mich
an Ingrid Köppes Reden im ersten gemeinsamen Bundestag erinnert.
Nach der Ankunft im Supermarkt: Gehört für mich zu den besten Stücken
dieses Buchs. Der Auszug aus Deiner größeren Arbeit zu diesem Thema könnte
vielen Westdeutschen die tatsächlichen Verhältnisse der
DDR-Autoren-Existenz in ihren Unterschieden und Gewichtungen erklären, wenn
sie es denn läsen. (Natürlich ist mir bewusst, dass Du Dich beim Titel auf
einen Titel von mir beziehst; meine Grundsatzerklärung „Der Poet auf dem
Supermarkt“ bei der Gründung des „Verbandes deutscher Schriftsteller“
1969.)
Das Sprach-Verhängnis auf der Tagung im polnischen Slubice, Verirrung,
die so gewitzte Scheherezade 1001 und Das Gastgeschenk sind in
meinen Augen dagegen leichtere Kost.
Wald, Wald, Wald: Interessant ist die Urlaubsfahrt ins tschechische
Horni Plana (Oberplan). Die Lektüre-Bilanz von Adalbert Stifters
„Hochwald“ danach liest sich wie eine nachgeholte Seminararbeit in
Germanistik. Das erschien mir ebenso wie Hundert Gedichte, nicht von
Brecht zu dem Lyriker Richard Pietraß beinahe als Füllsel hinten
angesetzt.
Aber dann kommt noch einmal ein Hauptstück Deiner
antifaschistisch-sozialistischen Nachlese:
Späte Aufklärung: Ernst Busch lesend zu begegnen, war für mich
ganz neu und umso lohnender. Mit diesem Endkapitel ist Dir ein
vollklingender Schluss-Satz gelungen. „Zum Glück gibt es immer wieder
Menschen, die Halbwahrheiten nicht gelten lassen und mit Legenden aufräumen.“
Und dass Dein Grundmotiv vom „unsichtbaren Feuer“ dann Deine „innere
Biographie“ abschließt, halte ich für den bestdenkbaren Schluss.
Somit wünsche ich Dir und dem Verlag eine möglichst lebhafte und
anhaltende Resonanz .
Herzlichen Gruß
Dein Dieter Lattmann
[veröff. mit Zustimmung des Verf.- trafo verlag]