[= Frankfurter Kulturwissenschaftliche Beiträge, Bd. 1], trafo verlag 2007, 273 S., ISBN (10) 3-89626-684-5, ISBN (13) 978-3-89626-684-2, 17,80 EUR
Rezension von Georg Eckert, Eberhard Karls Universität, Tübingen in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 9 [15.09.2007], URL: <http://www.sehepunkte. de/2007/09/12852.htmll>
Rezension von Kai-Olaf Maiwald in: sozialersinn 8 (2007): 404–408
Die
Sozialwissenschaften teilen mit den
klientenbezogenen,
interventionspraktisch
orientierten
Professionen ein wesentliches Kennzeichen: ihre Gegenstände werden in
aller Regel als
„Fälle" verstanden. Das gilt unabhängig von der methodischen Ausrichtung der Forschung, auch wenn der
Fallbezug bei den sich mit einzelnen Fällen befassenden
rekonstruktiven Verfahren naturgemäß größer
ist als bei denjenigen, die auf große Fallzahlen setzen. Allerdings wird
selbst bei den ersteren ein methodologischer Diskurs über den Fallbegriff nicht besonders gepflegt. In den meisten Publikationen
geht es primär um die Standards einer guten Rekonstruktion und weniger
darum, was ein „Fall" eigentlich ist
und was der Fallbezug in der
jeweiligen Disziplinbedeutet.
Diesen vernachlässigten Fragen
widmet sich der vorliegende Band.
Schon das macht ihn
lesenswert.
Der
Sammelband ist - wie so oft in diesemGenre - hervorgegangen aus einer
Tagung zum
Thema. Ebenfalls typisch ist die auch hier vorfindliche
interdisziplinäre Ausrichtung. Die
Beiträge versammeln ein
breites Spektrum
kulturwissenschaftlicher Disziplinen: Geschichte, Medienwissenschaft,
(historische)
Literaturwissenschaft, Soziologie, Psychologie, klassische Philologie,
Anglistik. Dabei liegt der Schwerpunkt der Beiträge in der
Geschichtswissenschaft
und der historischen
Literaturwissenschaft.
Eher untypisch für das Genre erscheint die sehr sorgfältige konzeptionelle Vorbereitung der Tagung
respektive des
Bandes, wie sie in dem einleitenden Beitrag
von
Johannes Süßmann
(„Perspektiven der
Fallstudienforschung")
dokumentiert ist. Dieser Beitrag ist - um dies vorweg zu nehmen - der methodologisch ergiebigste
des Bandes.
Dabei wird hier
ein Zugang expliziert, der
sich nicht auf rein
methodologisch-normative
Fragen beschränkt. Im
Vordergrund steht in einer empirischen Perspektive die Fallstudie
als Textgattung,
genauer gesagt als eine in den
Einzeldisziplinen
vorfindliche je spezifische
Forschungs- und
Darstellungspraxis, die im
Hinblick auf
Gemeinsamkeiten und Differenzen zu
vergleichen sei. Dementsprechend lässt
sich der zunächst eher lockere
Begriff der Fallstudie als
Klammer für die unterschiedlichen
wissenschaftlichen Praktiken verstehen.
In der Annäherung an den Gegenstand wird
zunächst kurz der Stellenwert von Fallstudien
als Arten und Weisen, „das Besondere
und das Allgemeine ins
Verhältnis [zu] setzen" (15)
sowie das jeweilige Selbstverständnis dieses
Vorgehens in den Einzeldisziplinen
beleuchtet. Dabei wird en
passant in der (grundsätzlich positiven) Rezeption von Bruno
Hildenbrands Definition der Fallrekonstruktion deutlich,
dass Süßmann als „eigentliche"
Fallstudie
etwas anderes versteht, nämlich eine Fallbeschreibung. Deutlich wird dies auch dort, wo er die Bedeutung
des aus der Rhetorik stammenden
„Exemplum" für den Begriff der
Fallstudie herausstreicht: es gehe darum, ein
Allgemeines
erzählerisch zur Anschauung
zu bringen (15). Die Betonung
des Aspekts der plausibilisierenden Darstellung erlaubt einen
Brückenschlag zu vorwissenschaftlichen, an
praktisch-pragmatische Kontexte
gebundene Formen: „Die Rhetorik (...) macht klar, daß
wissenschaftlich gebrauchte
Fallstudien als Ausformung von
Argumentationsfiguren der
Alltagsrede begriffen werden müssen." (16)
Anschließend werden drei Vorschläge zur
Strukturierung der
unterschiedlichen disziplinären
Herangehensweisen gegeben (19f.):
1) Die Fragestellung sollte vor allem
auf disziplinspezifische Praktiken
bezogen werden:
Welche erkenntnistheoretischen Implikationen
haben sie? Inwieweit können sie als
Ausformung einer viel verbreiteteren Falldarstellung begriffen
werden? 2) Dabei sollte eine Definition
leitend sein, nach der Fallstudien
als
Versuch zu
verstehen sind,
das Dargestellte als ein konkretes
Besonderes erscheinen zu
lassen, das über
sich selbst hinausweist auf ein
abstraktes Allgemeines.
Hierbei ist das
Moment des Darstellerischen zentral. Die Plausibilisierung erfolgt primär „im Modus der
Anschauung". Damit ist für
Fallstudien ein „Überschuß des sinnlich Vermittelten" charakteristisch. 3) Ziel der Untersuchungen sollte
eine
Typologie sein, die
Narrativik (das Erzählerische),
Epistemik (die Relationierung
von Besonderem und
Allgemeinem) und
Pragmatik (den
jeweiligen praktischen Kontext) verbindet. Es werden drei
Typen vorgeschlagen:
a) Serielle Fallsammlungen im
Dienste applikativer
Praktiken, zu verstehen als ein
Zur-Verfügung-Stellen eines „Wissens
vom Besonderen" unter den Bedingungen,
dass es ein (expliziertes)
Allgemeines noch nicht gibt,
b) Subsumtionen, d. h. ein Allgemeines steht von vornherein fest und
wird am Fall illustriert oder
exemplifiziert, c) Das
Allgemeine wird in der Besonderheit des
Falles per abduktiven Schluss sichtbar
gemacht.
Auch an
diesem Band wird deutlich, dass man
selbst mit einer ausgefeilten Programmatik den Tagungsbetrieb nur bedingt steuern
kann. Das betrifft im vorliegenden
Fall etwa den Umstand, dass gerade der so herausgestrichene
Aspekt der „Narrativik" nicht aufgegriffen wurde, wie Süßmann selbst -
mit einer für diese Publikationsform
seltenen Offenheit -
feststellt (23). Darüber hinaus fällt bei der Lektüre auf, dass manche
Beiträge generell über wenig Bindung zum Thema verfügen. So
fragt man sich etwa bei
Carlo Ginzburgs
Beitrag („Ein Plädoyer für den
Kasus"), inwieweit es hier
tatsächlich um den Kasus als
„sehr komprimiertes Narrativ, das entweder die interne Schwäche einer
Norm oder den Konflikt zwischen zwei normativen Systemen
anzeigt" (29) geht oder nicht eher um
eine Reihe von
Detailbetrachtungen, wie etwa Macchiavellis Rezeption eines
spätmittelalterlichen Juristen. Auch
in Heinz D. Kittsteiners
Artikel („Fallstudien und Analogiebildung bei
Marx und Oswald Spengler") stehen
Fallstudien, denen der Autor anscheinend generell
skeptisch gegenübersteht, im
Hintergrund, thematisch sind
vielmehr Analogiebildungen zum Zweck der Überbrückung des
vermeintlichen Hiatus zwischen Theorie
und Wirklichkeit.
Generell dominieren Beiträge, die - in mehr oder weniger enger
Anlehnung an die konzeptionellen
Vorschläge - Fallstudien als vor- beziehungsweise außerwissenschaftliche
Praxis zum Gegenstand haben. Das
Spektrum der Themen und Epochen
ist beeindruckend. Thematisch sind: das Wissen von juristischen,
medizinischen und philosophischen
„Experten"
in der vormodernen chinesischen Geschichte
(Charlotte Furth), die
Gestalt und
Programmatik des summarischen Rechtsverfahrens im Italien des 18. Jahrhunderts
(Simona
Cerruti),
medizinische Fallberichte in der
Frühen Neuzeit
(Michael Stolberg), Falldarstellungen
von Vergiftungen im Kriminalitätsdiskurs
zwischen 1750 und 1850 (Bettina
Wahrig), die Kritik der Erfahrungswissenschaften in der spätviktorianischen phantastischen Literatur am Beispiel von Stevensons
„The Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde"
(Susanne Scholz,
die Frage, inwieweit der
Sündenfall in der Rezeption
der Frühen Neuzeit als Exempel
oder als Fall (casus) zu begreifen
sei (Anita Traninger), die
Frage, inwieweit die im
Spätmittelalter gängigen Exempel
der Gerechtigkeit, die den Königen als
Beispiel guter Regierung dienen
sollten, als frühmoderne
Fallstudien zu verstehen sind oder nicht
(Petra Schulte),
exemplarische
Lebensgeschichten in der Geschichtsschreibung im frühneuzeitlichen Italien
(Xenia von
Trippeiskirch),
die Verflochtenheit von
Allgemeinem und Besonderem anhand von Lehrbuchbeispielen
(Ulrike Bergermann).
Es kann an dieser
Stelle nicht im Detail auf
diese Untersuchungen
eingegangen werden. In
der Gesamtschau
verdeutlichen sie sehr schön
die verschiedenen
Formen der Verwendung
von Fallstudien in dem
hier verstandenen,
weiteren Sinn. Es wird
sinnfällig, dass Praktiken, die modernen Fallstudien
ähneln, immer dort aufkamen, wo sich
Spannungen zwischen den
Besonderheiten eines Ereigniszusammenhangs und einem Allgemeinen (einer Norm, einer
gedachten Ordnung, einem als typisch Erwartbaren) ergaben. Allerdings
sind diese Spannungen oder
Brüche ihrem Charakter nach
höchst vielfältig, und nicht immer sind
sie, wie in wissenschaftlichen
Fallanalysen, methodisch erzeugt und zielen auf Erkenntnisgewinn,
auf Reformulierung des Allgemeinen. Generell spielt die Pragmatik, d. h. der praktische Kontext, in dem die jeweiligen Fallstuien
stehen, eine wichtige Rolle. Das betrifft nicht nur die in den
untersuchten Dokumenten zum Ausdruck
kommenden spezifischen
Handlungs- und Deutungsprobleme, sondern
auch die damit verbundene
Fallperspektive, die
die damit befassten „Experten" an ihre
Fälle
herantragen. Die Beiträge regen an, diesem
Verhältnis weiter
nachzugehen.
Was den Ertrag
ein wenig schmälert, ist
zweierlei. Zum einen
sind einige der Beiträge nicht so recht auf den interdisziplinären
Kontext eingestellt. Beispielsweise setzt der Artikel von Charlotte Furth zu viel an Kenntnissen
der vormodernen chinesischen
Staatsverwaltung voraus. Hier hätte man sich Erläuterungen zur Stellung und Funktion der von ihr so
genannten „Experten"
gewünscht. Und den Ausführungen
von Simona Cerruti kann nur derjenige wirklich folgen, der über
detaillierte Kenntnisse der
französischen und italienischen
Sprache verfügt. Zum anderen - und das
betrifft den Gegenstand des
Bandes - fragt man sich bei
der Lektüre der Beiträge, inwieweit
die Autoren selbst dem Vorgehen einer Fallstudie folgen. In der Regel hat man nicht den
Eindruck. Dort, wo einzelne Daten
etwas ausführlicher vorgestellt werden, hat dies eher den
Charakter der Illustration von Annahmen,
die eher nicht anhand des Falles,
sondern unter Rekurs auf
historisches Kontextwissen gewonnen
wurden. Fallstudien, die dem dritten Typus von Süßmann entsprächen,
würden in stärkerem Maße immanent vorgehen. Dieser
Eindruck kann allerdings auch einem
eher äußerlichen Umstand geschuldet sein: die Aufsätze sind kurz,
zwischen zwölf und zwanzig Seiten
lang, einschließlich Fußnoten und
Literaturverzeichnis. Und das ist ein
etwas knapper Rahmen für eine
überzeugende Falldarstellung.
Nicht
alle Beiträge des vorliegenden Bandes haben historische Fallstudien zum
Gegenstand.
Zwei Aufsätze widmen sich primär methodologischen Fragen. Der
amerikanische Psychologe
George Rosenwald („Der Ertrag
der Multiple-Case-Methode")
stellt die „fallmethodische Untersuchung mehrerer
Fälle" - das
Datenmaterial sind lebensgeschichtliche Berichte - in der
psychoanalytisch orientierten
Psychologie dar, als
dessen Vorbild Freuds
Traumdeutung
anzusehen sei. Der Beitrag gibt
gleichzeitig einen
Überblick über seine langjährigen Arbeiten zum Thema
psychoanalytisch-lebensgeschichtlicher Fallanalysen. Als ein Ziel der Analysen
wird die Überführung lebensgeschichtlicher Berichte in eine rationale und kohärente Erzählung
benannt. Obwohl er Beispiele dieses Vorgehens gibt,
werden seine
methodischen Prinzipien nicht wirklich klar. Das betrifft insbesondere
das Verhältnis
von Einzelfallanalyse und Fallvergleich. Gleichwohl erscheint es
lohnend, sich
mit diesem Ansatz, dessen Gegenstand und methodischen Anforderungen sich
in vieler
Hinsicht mit denen der Biographieforschung
decken (ohne dass es
meines Wissens eine
wechselseitige
Rezeption geben hätte), eingehender zu befassen.
Joachim Jacob nimmt in seinem
Beitrag („Das
Besondere des Falles. Zur ästhetiktheoretischen Vorgeschichte der
Fallstudie im 18. Jahrhundert") Kracauers Vorschlag zum Ausgangspunkt, die Geschichtsforschung
solle sich auf
„Großaufnahmen" konzentrieren und
von den darin gegebenen
Details „beiläufig",
in Form von Apercus,
auf das „große Ganze"
der Geschichte gehen.
Dies impliziere eine
Ästhetik der
Geschichte dahingehend, dass die
„Fülle" der Geschichte,
der Reichtum der
sinnlichen
Anschaulichkeit in der geforderten
rationalen Abstraktion
nicht verloren gehen
soll (253). Dieser
interessanten Spur geht
Jacob dann jedoch nicht
direkt weiter nach,
sondern eruiert die
Bedeutung der Ästhetik für das
Verständnis von Fallstudien in einer anderen Hinsicht. Er sieht in der Ende des 18.
Jahrhunderts im ästhetiktheoretischen Diskurs
entwickelten Theorie des autonomen,
„in-sich-selbst-vollendeten" Kunstwerks eine Vor- oder
Zumindest Parallelgeschichte der
Fallstudie, denn auch hier
gilt, dass „etwas Einzelnes
nicht nur ein Beispiel ist, sondern eine ganz besondere ,Welt' enthält,
eine ganze Welt ist. (254)
Dabei bezieht sich Jacob vor allem auf
Karl Philipp Moritz, der sowohl eine
Theorie ästhetischer Autonomie wie auch eine Praxis
von Fallstudien entwickelt hat. Wie aber aus
dessen Betonung der Einzigartigkeit,
der möglichst detaillierten
Fallbeschreibung der Übergang
zum Allgemeinen, zur MakroPerspektive
erfolgen soll, bleibt offen.
Zwei weitere Beiträge wollen dies - die Bildung von Hypothesen mit allgemeinem
Geltungsanspruch auf Basis von Fallanalysen -zumindest exemplarisch
vorführen. In ihnen sind nicht historische Fallstudien Gegenstand
der Analyse, sondern sie erproben an
höchst unterschiedlichen Gegenständen ein
fallrekonstruktives
Verfahren. Beide
Autoren folgen
dabei der Methodologie der objektiven Hermeneutik.
Lorenz Rumpf versteht seinen
Artikel („Die
Rekonstruktion kulturspezifischer
Deutungsmuster als
Aufgabe der Klassischen
Philologie.
Beobachtungen zu Streit und Stasis bei
Ennius, Livius, Dionysios von Halikarnassos, Cicero und Piaton") als exemplarischen
Beitrag zur Rekonstruktion
kulturspezifischer
Habitusformationen. Im Vordergrund des
Beitrags steht die Frage, „wie im
römischen beziehungsweise
griechischen Kulturbereich
Interessenkonflikte innerhalb eines Gemeinwesens, wie
Parteienkämpfe und Bürgerkriege
aufgefasst und dargestellt werden". (128)
Rumpf entwickelt anhand einer
detaillierten, vor allem auf unauffällige Stellen abhebenden
Interpretation verschiedener Quellen plausibel
die Annahme, dass für die römische und
die griechische Kultur höchst
unterschiedliche Modelle kennzeichnend sind. Während die
römischen Texte strukturell eine Art
gemeinsamer „Verfahrensbindung"
der Konfliktauseinandersetzung implizieren, ein Modell, in dem der Konflikt als
Normalität erscheinen kann,
findet sich in den griechischen Texten
das Grundmodell eines Bürgerkrieges,
in dem es nichts Gemeinsames gibt. Streit ist hier eingerückt in den Gegensatz
von Harmonie und Zerfall.
(131)
Gegenstand des Beitrags von Thomas
Loer („Eine Region als Fall. Exhaustive Beschreibung oder Rekonstruktion einer
Totalität?") ist
das Ruhrgebiet. Seine
Analyse muss sich mit drei - für Fallrekonstruktionen - besonderen
Umständen auseinandersetzen. Die erste Besonderheit besteht darin, dass
die Ausgangsdaten nicht Primärdaten sind, sondern selbst
wissenschaftliche
Fallstudien. Dieser Zugang
bedeute gleichzeitig
eine Erleichterung und ein
methodisches Problem:
Man findet die relevanten Daten in
einer gebündelten Form, aber man muss
bei deren Interpretation die Form ihrer Präsentation reflexiv
mitberücksichtigen („herausrechnen").
Die Fallbeschreibungen, auf die Loer rekurriert, sind damit
gleichzeitig geschätzte
Arbeitsgrundlage und Gegenstand der methodologischen Kritik.
Letztere wird in der Interpretation
zentraler Stellen überzeugend durchgeführt, indem Desiderate einer
„bloßen" Fallbeschreibung
herausgearbeitet
werden. Die zweite
Besonderheit ist darin zu sehen, dass „Fälle" üblicherweise als Person
oder höher
aggregierte Handlungsinstanz
(Organisationen,
Vergemeinschaftungen)
verstanden werden. Als
solche lässt sich das
Sozialgebilde „Region"
jedoch nicht
umstandslos verstehen. Loer bestimmt sie
demgegenüber als „eine
soziokulturelle Einflussstruktur, die sich im Handeln
ihrer innerhalb
eines bestimmbaren sozialgeographischen
Raumes mit unter
Umständen vagen Grenzen
siedelnden Angehörigen
ausdrückt". (142)
Loer versucht nun
diese Einflussstruktur im
Fall des Ruhrgebiets
zu bestimmen, indem er zunächst - und
das ist die dritte Besonderheit - der
basalen, aber in den Sozialwissenschaften selten explizit
aufgeworfenen Frage nachgeht,
inwieweit durch die naturräumlichen Gegebenheiten eines Gebiets das soziale Handeln der
dort siedelnden Menschen vorstrukturiert
wird. Ohne auf die Analyse im Detail eingehen
zu können: Nach seiner plausiblen
Interpretation legten die
Gegebenheiten des heutigen Ruhrgebietes (relativ
siedlungsunfreundliches sumpfiges
Waldland) eine besondere Form der Kooperation nahe: eine
temporäre Zusammenarbeit „auf der
Basis in personalen Beziehungen
abgesicherten Vertrauens ohne Einbindung in dauerhafte hierarchische Strukturen".
(148) Auch in weiteren
Fallbeschreibungen späterer
Zeiträume lässt sich dieses Strukturmuster rekonstruieren und präzisieren: „nicht
eine Orientierung an
übergreifenden gesellschaftlichen Zusammenhängen [bestimmt] das
Handeln (...), was in langfristige
politische Loyalitäten in Herrschaftszusammenhängen
hätte führen können, sondern wiederum
die Orientierung an denjenigen
Beziehungen, die eine
langfristige Sicherung der (primär-) gemeinschaftlichen Solidarität bedeuten". (153)
Die dominante Orientierung an gemeinschaftlichem Handeln erscheint so als „longue durée" (im Sinne Fernand Braudels) des Ruhrgebiets.
Der
Ertrag dieses Bandes liegt nicht nur im
empirischen Bereich, er
gibt auch eine Reihe methodologischer Anregungen. Dafür stehen
nicht nur die zuletzt angesprochenen
Beiträge, sondern gerade auch die
konzeptionellen Überlegungen
Johannes Süßmanns. Ich möchte abschließend auf einen Aspekt
hinweisen, dem
es lohnt, weiter nachzugehen. Er
ergibt sich aus der Würdigung von Fallstudien
als Praxis und aus der Betonung der -
in den Beiträgen zu kurz
gekommenen - „Narrativik". Diese Perspektive ist geeignet, neues
Licht auf das in den hermeneutisch-fallrekonstruktiven Verfahren notorische
Darstellungsproblem zu werfen. Auch
wenn man nicht so weit gehen
will wie Süßmann in seiner
Behauptung, dass Fallstudien „primär
darstellerisch" operieren, „im Modus
der Anschauung, nicht des
Begriffs" (19), kommt man doch
nicht umhin, den Eigenwert des
Darstellerischen zu konzedieren. Es
gibt eine Differenz zwischen
Fallrekonstruktion als methodischer Operation und als
veröffentlichtem Text. In der
Praxisperspektive ist man
aufgefordert, diesen Aspekt des Textes bzw. der Textgattung ernst zu
nehmen und zu fragen, was
darin eigentlich protokolliert ist und sein sollte (20). Dabei
wird deutlich, dass eine
Fallmonographie weder ein Protokoll des
faktischen Entdeckungszusammenhangs
noch allein ein Protokoll der
Bemühung um die Sicherung der
Geltung der gefundenen Hypothesen
sein kann. Im Vergleich mit „normal science"-Publikationen spielt
das Moment der Plausibilisierung qua
Darstellung, wenn nicht gar ein Moment der „Überredung" eine
größere Rolle. Es erscheint von hier aus als Verkürzung, für die
Darstellung einer Fallrekonstruktion
allein die methodischen Regeln der Analyse in Anschlag zu bringen. Entscheidend
sind nicht nur die Kriterien der
Präzision, des methodisch
zwingenden Vorgehens, sondern
es gelten auch Kriterien eines anderen Typs,
Kriterien einer „prägnanten",
„fruchtbaren" und „anregenden" Darstellung. Es scheint sich
mit anderen Worten für
Falldarstellungen das Paradox
einer „zwanglosen Überredung" in
besonderer Weise zu stellen.