Kacza, Thomas

Zwischen Feudalismus und Stalinismus.
Albanische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts

trafo verlag 2007, 389 S., ISBN 978-3-89626-611-8, 34,80 EUR

 

Rezensionen

 

Rezension von Michael Schmidt-Neke in: Albanische Hefte, Nr. 3/2007 S. 23ff.:

Nicht albanische Gesamtdarstellungen der Geschichte Albaniens oder zumindest epochenübergreifende Nationalgeschichten sind (außerhalb von Einleitungskapiteln zu landeskundlichen Handbüchern) nicht häufig; die letzte im deutschen Sprachraum hat Peter Bartl 1995 veröffentlicht.
Thomas Kaczas Ansatz ist, die politische Geschichte Albaniens mit dem Schwerpunkt des kommunistischen Systems aus sozialhistorischem Blickwinkel darzustellen und zu bewerten. Sein Standpunkt, den er schon früher in Büchern über antikolonialistische Bewegungen in Afrika formuliert hat, ist imperialismuskritisch und auf Seiten der Opfer „großer" Politik. Jetzt, nachdem das Ergebnis des Kalten Krieges fest steht, sei der Zeitpunkt für eine differenzierte Auseinandersetzung gekommen. Es geht ihm dabei keineswegs um eine Weißwäsche, sondern er benennt Unterdrückung und Personenkult, das Fehlen von Demokratie und Teilhabe des Einzelnen als Merkmale von Sozialismusmodellen, für deren Entstehung es weder die nötigen objektiven noch die subjektiven Voraussetzungen gegeben habe. Auch die unbequeme, aber berechtigte Frage, wie viele Opfer denn der Systemwechsel und die postsozialistische Ordnung gefordert haben, verführt ihn nicht zu einer Rechtfertigung der Opfer des kommunistischen Systems. Kaczas Periodisierung ist überwiegend konventionell: Unabhängigkeitsbewegung, „formale Unabhängigkeit" (1912-39), Widerstand (1939-44), Aufbau Staatssozialismus (1944-60), Isolation (1960-85), Scheitern des Sozialismus (1985-92), Postsozialismus (1992-2002). Also nicht erst der Bruch mit China, sondern bereits das Ausscheiden aus dem Ostblock markiert des Beginn der Selbstisolation. Sorgfältig arbeitet der Autor die inneren und äußeren Bedingungen für die Ausrufung der Unabhängigkeit 1912 heraus. Dass diese mit einer Entscheidung für eine republikanische Staatsform verbunden war (S. 56), geht allerdings aus den Dokumenten nicht hervor. Der 1914 oktroyierte Monarch, Fürst Wilhelm Prinz zu Wied, traf auf jede Menge Widerstand, aber nicht seitens einer republikanischen Bewegung. Kaczas Urteil über den Diktator Zogu fällt eindeutig negativ aus; er schreibt ihm weder strukturelle Modernisierungen noch die Schaffung eines Nationalbewusstseins auf die Haben-Seite. Seine Stärke war der Schwäche der Opposition geschuldet. Kacza stellt bei der Entstehung der kommunistischen Bewegung fest, dass Enver Hoxha dabei überhaupt nicht präsent war, sondern eine Reihe junger Leute, die nahezu ausnahmslos späteren Säuberungen zum Opfer fielen. Die Kommunistische Partei war seiner Ansicht nach kein importiertes oder ausschließlich ferngesteuertes Produkt der KP Jugoslawien, doch lastet er dem jugoslawischen Einfluss das Scheitern der Einheitsfrontstrategie mit dem konservativen Balli Kombetar wegen dessen großalbanischer Orientierung an. Dadurch wurden der Balli und andere Konservative in eine taktisch motivierte Kollaboration mit den Besatzern getrieben. Die Sieger errichteten eine sozialistische Ordnung, für die „im Grunde alle sozialökonomischen Voraussetzungen fehlten" (S. 142), und setzten dafür auf Repression, Gewalt, Ausgrenzung und eine Reproduzierung der Großfamilie als sozialer Kernstruktur der neuen Führung. Hoxha war (anders als Mehmet Shehu und Nako Spiru) nicht Wortführer einer nationalen Fraktion, sondern taktierte jahrelang zwischen dieser und den projugoslawischen Kräften um Innenminister Koci Xoxe. Der Kominform-Bruch rettete Hoxha und gab ihm Gelegenheit, Xoxe und seine Leute auszuschalten, ohne an der brutalen Unterdrückung irgendetwas zu ändern. Der Kalte Krieg tat das Seine, um die Verhältnisse in Albanien immer weiter zu verhärten, das als „Sowjet-Insel in einer antisowjetischen Welt" Ziel von Planspielen zur DeStabilisierung oder gar Besetzung war (S. 178). Das
Festhalten am klassischen Stalinismus und an der Feindschaft zum tito-istischen Jugoslawien - trotz aller Bekenntnisse zum 20. Parteitag der KPdSU - war für Hoxha eine Überlebensnotwendigkeit und war - so Kacza - nicht marxistisch-leninistisch, sondern nationalistisch begründet. Jede tatsächliche oder auch nur vermutete Dissidenz wurde automatisch mit Verrat an Albanien und am Sozialismus gleichgesetzt und entsprechend verfolgt. Die albanische Version der Kulturrevolution lief anders als in China nicht gegen das Parteiestablishment, sondern auf Betreiben des „Sozialingenieurs" Hoxha (S. 213) im Einvernehmen mit der Parteiführung. Kaczas Verdikt lautet, der Kampf gegen die Religionen bis hin zur Proklamierung des ersten atheistischen Staates der Welt, sei „voluntaristisch" gewesen (ebd.). Auch das in diesem Zusammenhang gepflegte Geschichtsbild der Kontinuität von den Illyrern über Skanderbeg zeige das nationalistische Substrat unter dem leninistischen Firnis, das auch der Bruch mit China und die Selbstisolation zugrunde lag.
Partielle Verbesserungen in der Ära Ramiz Alia (1985-1991) konnten den Zusammenbruch des Systems, analog zu den übrigen osteuropäischen Kommunismen nicht verhindern, obwohl die albanische Führung, nach Kaczas Auffassung völlig unbegründet, immer die revolutionäre Eigenständigkeit Albaniens gegenüber den „revisionistischen" Systemen betont hatte.
Auch die postkommunistische Dekade (bis zur Wahl des Präsidenten Moisiu 2002 im Konsens von Regierung und Opposition) stellt Kacza in einem 40seitigen Schlusskapitel dar. Die enttäuschten Hoffnungen auf eine schnelle Verbesserung der materiellen Lebensverhältnisse, das gescheiterte Verfassungsreferendum von 1994, die gefälschten Wahlen von 1996 und das Desaster der Investitionsfirmen mit anschließenden Unruhen (Kacza vermeidet die Bezeichnung Bürgerkrieg) und Neuwahlen bedeuteten, dass Albanien 1997 erneut bei Null (oder noch weniger) anfangen musste. Oberflächlich wird der Autor, wenn er über die Kosovo-Frage dilettiert. Auch wenn man es zum 100. Mal wiederholt: es verkehrt Ursache und Wirkung, wenn der Westen im Allgemeinen und die Bundesregierung im Besonderen für den Zerfall Jugoslawiens verantwortlich sein sollen, weil sie Slowenien und Kroatien zu früh anerkannt hätten. Milosevics Regime zugute zu halten, es habe sich dem Druck auf die Einigung eines kapitaldominierten Europa widersetzt (S. 319/20), ist deutlich unter dem analytischen Niveau des Autors, und die lockeren Vorschläge, wie eine albanisch-serbische Verständigung eben mal schnell problemlos erreicht werden könnte, wenn die Grenze beider Staaten so durchlässig wie die deutsch-französische würde, vergleicht Äpfel mit Birnen und ignoriert die von ihm in anderem Zusammenhang so hoch gehaltenen subjektiven Faktoren völlig.
Der albanische Sozialismus war - so Kacza - in besonderem Maße von der Herrschaft einer Politbürokratie, der Allianz von Ideologen und Staatssicherheit, einer ineffektiven Wirtschaft und fehlenden individuellen Rechten geprägt (S. 224). Er lehnt es ab, diesen Staat als „Fortschritt mit Schönheitsfehlern" (S. 343) zu betrachten, auch wenn er soziale Errungenschaften wie Bildung, Gesundheit, Wohnraumversorgung und das Fehlen der organisierten Kriminalität konstatiert. Er hält aber gerade nach den Erfahrungen der Jahre seit 1991 die Suche nach einer gesellschaftlichen Alternative für legitim und notwendig. Welche das sein sollte, bleibt offen. Thomas Kacza bezeichnet sich als „Privatforscher" mit Liebe zur Recherche und jahrzehntelanger Beschäftigung mit Albanien. Er erweist den „zünftigen" Albanologen seine Reverenz und hofft, einem breiteren Publikum eine fundierte Übersichtsdarstellung der jüngeren Geschichte an die Hand zu geben. Man kann das Kompliment zurückgeben und feststellen, dass das Ziel erreicht und übertroffen wurde. Man muss sich - wie bei jedem anderen Buch - nicht jede Bewertung des Autors zueigen machen. Es ist beeindruckend, wie viel er - offenbar ohne tiefer gehende albanische Sprachkenntnisse (man merkt es gelegentlich an Orthographie- und Grammatikfehlern) - durch systematische und unabhängige Auswertung vorhandener Literatur herausgefunden hat, so dass sein Buch weit mehr als eine Kompilation vorhandener Arbeiten ist, sondern als eigenständige Gesamtdarstellung der jüngeren Geschichte Albaniens genutzt werden kann und sollte.