trafo verlag 2006, 317 S., ISBN 3-89626-559-8, 24,80 EUR
Rezension
von Wibke
Gerking für: LesArt, Heft 1/2007, S. 44f.:
"Starke Stimme aus der Zukunft.
Zur Edition einer Gesamtausgabe der
Werke von Hedwig Dohm
Ich bin des Glaubens, daß zukünftige
Gesellschatten auf unsere Sitten wie auf die von Urvölkem blicken werden;
ich bin des Glaubens, da die eigentliche Geschichte der Menschheit erst
dann beginnt, wenn der letzte Sklave befreit ist, wenn das Privilegium der Männer
auf Bildung und Erwerb abgeschafft, wenn die Frauen aufhören, eine
unterworfene Menschenklasse zu sein - die
Fesseln der einen binden alle -, dann erst beginnt die freie Entwicklung
der ganzen Menschheit jene Entwicklung, deren Ziel der Mensch ist - ein
Ebenbild Gottes.
Hedwig Dohm
Hedwig
Dohm lebte in der Zukunft. Sie glaubte an die Veränderbarkeit der Menschen,
des Denkens, der Gesellschaft, und deshalb auch daran, daß eines Tages alle
Frauen frei und gleichberechtigt sein würden, Sie war eine der ersten, die
das glaubten. Und die erste in Deutschland, die dafür schrieb und
polemisierte, und das, noch bevor es die erste organisierte Frauenbewegung
gab, die radikal genug war, das Stimmrecht, gleiche Berufs- und
Bildungschancen und Berufstätigkeit für alle Frauen zu fordern, ob Mütter
oder nicht. Eine einsame Denk- und Emanzipationsleistung, zudem das von
einer Frau mit mangelhafter Schulbildung. Durch ihre Ehe mit dem
Journalisten Ernst Dohm kam sie mit literarischen Kreisen in Berührung
und verfaßte mit über 40 Jahren die erste feministische Schrift. Sie hatte
zum Glück noch ein langes Leben vor sich: Erst 1919, mit fast 90 Jahren,
starb sie in Berlin, nach rund 50 Jahren literarischer und journalistischer
Tätigkeit.
Vermutlich hätte Hedwig Dohm sich die Haare gerauft, wenn sie geahnt hätte,
daß sich einige ihrer Polemiken zur Frauenfrage selbst heute, 90, 100 oder
110 Jahre nach ihrer ersten Veröffentlichung, noch so erschütternd
aktuell lesen könnten. Tauschte man ein paar Namen und Zitate aus, so wären
die Schriften jederzeit wieder gegen die
Auswürfe neuerer Zeit von Eva Herman bis Bischof Mixa einsetzbar. Die Namen
ändern sich, die Argumente bleiben dieselben. Was nicht gerade für den
Entwicklungsstand unserer Gesellschaft oder für Hedwig Dohms unerschütterlichen
Glauben an die Zukunft spricht, aber doch dafür, ihre Schriften wieder zu
lesen. Sie ist es wert. Sie erhellt und bezaubert mit ihrer leuchtend
klaren, kalkuliert einfachen Sprache. Und sie läßt einen Tränen lachen über
ihre mal leichtfüßige, mal bissige Ironie (und vielleicht auch weinen -
wenn sie mal wieder allzu genau trifft).
Daß man Hedwig Dohm wieder direkt begegnen kann und nicht nur in
irgendwelchen Fußnoten, ist ein Verdienst des Trafo-Verlags und zweier
engagierter Wissenschaftlerinnen und Hedwig-Dohm-Forscherinnen, der
Historikerin Nikola Müller und der Germanistin Isabel Rohner. 2006, in dem
Jahr, in dem Hedwig Dohm 175 Jahre alt geworden wäre, erschienen die beiden
ersten von geplanten 14 Bänden einer Gesamtausgabe von Hedwig Dohms Werken,
der Edition Hedwig Dohm. In einem kleinen Haus: Die Großen verlegen
offenbar lieber stapelweise Biographien über Schwestern, Mütter, Ehefrauen
und Geliebte berühmter Männer, als sich um Frauen zu kümmern, die es
selbst zu eiwas gebracht haben. Sogar Wie Schwiegermutter eines berühmten
Mannes wurde bereits mit einer eigenen Biographie bedacht: Hedwig Pringsheim
nämlich, deren [Tochter Katia mit Thomas Mann verheiratet war.
Pikanterweise, Freunde und Kenner der Mannschen Familiensage wissen es, war
Hedwig Pringsheim aber zuerst und eigentlich die Tochter einer berühmten
Mutter, nämlich eben der Hedwig Dohm, um die es hier geht: die bis heute
lutende und ihrerzeit auch berühmte
Frauenrechtlerin und Pazifistin, Feuilletonistin und Romanautorin, eine
Frau, die ihrer Tochter in ihrem öffentlichen Wirken und an Berühmtheit
haushoch überlegen war.
Das hielt die Fachwelt allerdings nicht von der völlig abwegigen Meinung
ab, die angepaßte, brave Großbürgersfrau, Gelegenheitsfeuilleton istin
und Saloniere Hedwig Pringsheim sei die eigentlich kreative der beiden
Frauen gewesen. Gerne wurde geätzt, Hedwig Dohm habe in ihrem Roman »Sibilla
Dalmar« schlicht die Briefe ihrer Tochter zu einem Roman zusammengestellt -
und das, obwohl der Briefwechsel verschollen ist.
Nun liegt »Sibilla Dalmar« auf dem Tisch und spricht für sich selbst. Müßig
darauf hinzuweisen, daß der Roman mit dem Leben von Hedwig Pringsheim
genauso viel zu tun hat wie etwa Thomas Manns »Buddenbrooks« mit dessen
Familiengeschichte. Die Inspiration ist ohne Zweifel zum Teil aus dem realen
Leben geschöpft Doch formale Anlage, philosophische Ausdeutung und
sprachliche Gestaltung, kurz: alles, was die Kunst ausmacht, das liegt beim
Autor oder der Autorin, mag er Mann oder sie Dohm heißen.
Und vor allem Hedwig Dohms Sprache böte Stoff für Doktorarbeiten. Sie ist
von einer Direktheit, wie man sie sonst fast nur aus der angelsächsischen
Literatur kennt, gleichzeitig voll eleganter Ironie, gewürzt mit einer
Unzahl kleiner Brüche, die immer wieder aufmerken lassen und dem Fluß
ihrer Sprache etwas fesselnd Quecksilbriges und Doppelbödiges verleihen.
Das einzige, was man Dohms »Sibilla« und ihrem belletristischen Werk
punktuell vorwerfen könnte, ist das, was die Zeitgenossen wohl mit dem
Vorwurf »pädagogisch« meinten. Ab und zu scheint ihr Anliegen, die
Gleichberechtigung von Mann und Frau, deutlicher durch, als der reinen Kunst
guttut Damit ist Dohm allerdings in bester Gesellschaft. Um mit Virginia
Woolf zu sprechen, ist es nicht möglich, frei zu schreiben, wenn man nicht
frei ist. In diesem Sinne schrieb sie etwa über Charlotte Bronte Sätze,
die ähnlich auch auf Hedwig Dohm und mehr oder weniger deutlich auf jede
schreibende Frau zumindest der Vorkriegszeit zutreffen: »Aber wenn man sie
liest und auf diesen Riß, diese Empörung darin acht gibt, dann erkennt
man, daß es ihr nie gelingen
wird, ihr Genie heil und ganz zum Ausdruck
zu bringen. (...) Sie schreibt im Zorn, wo sie gelassen schreiben sollte;
Sie schreibt verrückt, wenn sie besonnen schreiben sollte; Sie schreibt von
sich selbst, wenn sie über ihre Charaktere schreiben sollte. Denn sie führt
einen Krieg gegen ihr Schicksal.« (in: »A Room of One's Own«). Hedwig
Dohm führte sicher keinen Krieg mehr gegen ihr eigenes Schicksal. Das hatte
sie längst in die Hand genommen. Doch sie führte einen Krieg gegen die
Vorurteile in ihrer Gesellschaft. Es wäre ein Wunder, wenn man das nicht ab
und zu in ihren Büchern bemerkte.
»Sibilla
Dalmar« ist bereits der zweite Band der Edition Hedwig Dohm. Ebenso
anregend und lesenswert wie dieser Roman ist der erste »Hedwig Dohm -
Ausgewählte Texte«, eine Auswahl von Novellen, Mini-Dramen und
Zeitungsartikeln. Einiges davon wirkt bis heute provokant. Da ist etwa die Nüchternheit,
mit der Dohm die Verherrlichung der Mutterrolle lächerlich macht. »Daß
die Mütter die geborenen und notwendigen Erzieherinnen ihrer Kinder sind,
gehört zu den Erlogenheiten, die überall
Kurs haben, und die man als Trumpf gegen die moderne Frauenbewegung
ausspielt«, schreibt sie eiwa in »Eine Anregung zur Erziehungsfrage« -
wie sich die Zeiten doch nicht ändern! - und weiter, mit schöner Ironie:
»Ein flüchtiges Hineinblicken in das positive Leben genügt, um zu erkennen,
daß im Großen und Ganzen idie Mütter die schiechtesten Erzieherinnen
ihrer Kinder sind. Man [ frage nur die eine Mutter, was sie von der
Erziehung der anderen hält, und man wird die härtesten und schroffsten
Urteile hören. Ja glaubt man denn, daß auch die vielen, vielen Frauen, die
als Nichtmütter kaum den bescheidensten Ansprüchen an Moral und Klugheit
genügen, als Mütter sich in Tugendspiegel und geistige Potenzen verwandeln?«
Brillante Polemik, gepaart mit Mutterwitz, egal, ob es um Kritik an
Nietzsche geht oder das unschöne Schicksal alter Frauen. Dohm legt den
Finger in die Wunde, mal mit Wib und Scharfsinn, mal mit scheinbarer Naivität,
mal mit höhnischem Gelächter.
Von äußerstem Interesse ist übrigens auch Dohms Blick auf ihre berühmten
schreibenden Zeitgenossinnen wie Helene
Lange, Ellen Key, Lou Andreas Salome. Gerade in den 80er Jahren wurden sie
von vielen allzu unkritisch als Vorreiterinnen der Frauenbewegung
verstanden, nur weil sie überhaupt schrieben. Hedwig Dohms nüchterne
Kritik, belegt durch prägnante, selbstentlarvende Zitate, dürfte so manche
lieb gewordene Ikone entzaubern. Egal, ob man Hedwig Dohm aus
feministischem, aus historischem, aus sprachlichem oder journalistischen
Interesse liest: Die Lektüre bereichert und erfrischt.
Hedwig Dohm hat sich einen festen Platz in der deutschen Geschichte und
Literatur erschrieben. Es häufen sich die Anzeichen, daß das auch wieder
wahrgenommen wird. In ihrer Heimatstadt Berlin wird jetzt erstmals eine Straße
nach ihr benannt. Außerdem hat der Journalistinnenbund ihre Grabstätte
auf dem Matthäi-Friedhof gekauft und will dort eine Gedenkstätte
einrichten. Man darf hoffen, daß die Edition Hedwig Dohm dazu beitragen
wird, daß diese große deutsche Autorin endlich so gewürdigt wird, wie sie
es verdiente.
Rezension von Dr. des. Annika
Wilmers in: Ariadne 51/ Mai 2007, S. 71f.
"Wer war die Frau, die ihren Mitstreiterinnen des radikalen
Flügels der Frauenbewegung als »kühne Bahnbrecherin für die neue Zeit
und die neue Frau« (S. 307, Minna Cauer über Hedwig Dohm) galt? Nach
einer kurzen Einführung in Hedwig Dohms Leben lassen die beiden
Herausgeberinnen des Buches, Nikola Müller und lsabel Rohner, die
Frauenrechtlerin selbst zu Wort kommen: 32 Texte Hedwig Dohms, die zwischen
den Jahren 1859 - zu diesem Zeitpunkt war Dohm gerade einmal 28 Jahre alt
-und 1919 - auf dem Sterbebett der 88-Jährigen - entstanden, vereint der
Band in sich, hinzu kommen zwei zeitgenössische Würdigungen.
Anstoß für diese Ausgabe, die den Auftakt zu einer mehrbändigen Edition
bietet, war der Missstand, dass es bisher keine Gesamtausgabe des
umfangreichen Werkes der Schriftstellerin, die neben zahlreichen Artikeln
unter anderem auch vier Romane, vier Lustspiele und etliche Novellen
verfasst hat, gibt, und viele der Originalausgaben heute nicht mehr
zugänglich sind. Wer sich über das Editionsprojekt informieren möchte,
dem sei die von den Herausgeberinnen betriebene Homepage - www.hedwigdohm.de
- empfohlen.
Als Einstieg in eine Gesamtausgabe eignet sich das vorliegende Lesebuch
besonders gut, weil die Textauswahl die ungewöhnlich vielseitige
Schaffenswelt von Hedwig Dohm eindrucksvoll vorstellt. So vielfältig wie
ihre Ausdrucksformen - von der politischen Streitschrift bis hin zur
literarischen Bearbeitung politischer Themen - so vielfältig ist Dohms
Themenspektrum. Dabei blieb kein Aspekt der Frauenfrage unberührt, und auch
oder wohl vielmehr gerade die Themen, vor denen selbst viele
zeitgenössische Frauenrechtlerinnen noch zurückschreckten, wurden von der
radikalen Verfechterin der Frauenrechte aufgegriffen und eingehend
besprochen. Reiht man die Texte aneinander, liest sich das Buch wie ein
Spiegel der Zeit, mit dessen Hilfe sich der Entwicklung der Frauenfrage
nachspüren lässt.
So forderte Dohm für das weibliche Geschlecht nicht nur gleiche Bildungs-
und Berufschancen, sondern prangert etwa auch die bürgerliche Doppelmoral
mit all ihren Folgen für das Alltags- und Sexualleben von Frauen und
Männern schonungslos als Anachronismus und gesellschaftliches Übel an.
Entschieden wehrt sie sich auch gegen alle biologisti-schen Zuschreibungen.
Das wackelige Argumentationsgerüst der Antifeministen entlarvt sie dabei
ebenso scharfsinnig wie geistreich-humorvoll, so dass man mehr als einmal
darüber staunt, woher diese Frau, der selbst jegliche weiterführende
Ausbildung verwehrt blieb, soviel schriftstellerischen Elan nahm. Und sie
deckt nicht nur Widersprüche als »Falschsprüche« (S. 293) auf,
sondern erweist sich auch als feinsinnige Beobachterin ihrer Zeit. Kam sie
doch beispielsweise zu dem Schluss, dass das zunehmende Engagement von
Frauen in anti feministischen Vereinen in den Jahren vor 1914 doch wenigsten
den positiven Nebeneffekt mit sich brachte, dass sich diese
Antifeministinnen durch ihre öffentlichen Auftritte und Agitationen nolens
volens in der Praxis selbst emanzipierten (S. 280).
In Dohms letzten Lebensjahren geriet der Krieg als Hauptgeißel der
Menschheit ins Blickfeld. Die trotz ihrer akribischen Argumentation zuweilen
spürbare Leichtigkeit der älteren Texte weicht einer tiefen, verzweifelten
Anklage ob des sinnlosen Hinschlachtens einer ganzen Generation. Und wieder
blickt Dohm der Zeit voraus: Während selbst viele kriegskritische Stimmen
sich vom Krieg wenigstens noch eine sittliche Erhebung des deutschen Volkes
erhofften, machte Dohm dieser Illusion schon 1917 ein Ende (S. 291). Zwar
erlebte die Schriftstellerin das Kriegsende noch - ebenso wie die
Einführung des Frauenstimmrechts -, Ruhe und Genugtuung brachte ihr das
aber nicht mehr.
Gelegentlich wäre - neben der Einführung zu Beginn - auch eine knappe
Einordnung einzelner Texte in ihren jeweiligen Entstehungskontext
wünschenswert gewesen. Teils erschließt sich der Anlass, weswegen Dohm zur
Feder griff, aus den Texten selbst, in manchen Fällen aber auch nicht. Wenn
man die Vielzahl der Zeitschriften betrachtet, in denen Dohm publizierte,
dann hatte sie offensichtlich keine Probleme, ihre Texte in Blättern einer
bestimmten (linksliberalen, demokratischen oder sozialistischen)
Gesinnungsrichtung zu platzieren. Auch hier wären einige nähere
Erläuterungen interessant. Wie war Dohms Verhältnis zu den jeweiligen
Redaktionen und Verlegern? Welchen Veränderungen waren diese Beziehungen im
Laufe der Zeit unterworfen? Schließlich wäre für die Leserin/den Leser
auch eine Zeittafel mit den wichtigsten Lebensdaten Dohms hilfreich, die es
ermöglichen würde, die einzelnen Texte der jeweiligen Lebensphase Dohms
zuzuordnen - vielleicht eine Anregung für einen der nächsten Bände. Ohne
Frage aber ermöglicht der Band als Quellensammlung eine weitere
wissenschaftliche Beschäftigung mit Dohms Texten und auch dem
Lesevergnügen tun diese kritischen Anmerkungen - deren Ausführungen das
ohnehin schon über 300 Seiten umfassende Buch zugegebenermaßen noch einmal
anwachsen lassen würden - keinen Abbruch. Legt man das Buch aus den Händen
bleibt die Vorfreude auf die weiteren Bände der Gesamtedition, die
hoffentlich plangemäß erscheinen können ... und zumindest der nächste
Band ist inzwischen erschienen, so dass es kurz vor Redaktionsschluss
gerechtfertigt zu sein scheint, diese Rezension noch zu ergänzen:
»Sibilla Dalmar«, erschienen 1896, ist Hedwig Dohms zweiter Roman
und der mittlere Band der später von der Schriftstellerin konstruierten
Trilogie zu den Lebenswegen dreier Frauengenerationen - zusammengesetzt aus
dem drei Jahre später erschienenen Roman »Schicksale einer Seele«,
»Sibilla Dalmar« und »Christa Ruland«. Von ihrem ersten Roman »Plein
Air« hat sich Dohm später distanziert, möglicherweise haben sich die
Herausgeberinnen deshalb dazu entschieden, ihn in der Dohm-Edition nicht
nach vorne zu stellen.
Sibilla Dalmar ist Berlinerin, siedelt nach ihrer Hochzeit mit dem ebenso
reichen wie wenig intellektuellen Bankier Benno Raphalo aber nach München
über. Im Gegensatz zu ihrem Mann ist sie selbst sehr intelligent und an den
philosophischen, künstlerischen und literarischen Debatten ihrer Zeit
interessiert, muss aber Autodidaktin bleiben, weil ihr als Frau jede
sinnvolle Ausbildung und Tätigkeit verwehrt bleibt. So gelingt es ihr, dem »tristen
Übergangsgeschöpf« (Hedwig Dohm über die Romanheldin, S. 23), auch
in reiferen Jahren nicht, ihrem Leben ihren Weltanschauungen gemäß einen
tieferen Sinn zu geben; vielmehr verharrt sie in Tatenlosigkeit und in
Widersprüchen, die besonders im Gegensatz zu der Romanfigur Albert Kunz,
einem Sozialisten und Sibilla Dalmars spätere Liebe, aufbrechen.
Sibilla Dalmars facettenreiches und zerrissenes Seelenleben, das der
Leserin/dem Leser mit jeweils einer Ausnahme ganz zu Beginn und ganz zum
Schluss des Buches in Form von Briefen Sibilla Dalmars an ihre Mutter
präsentiert wird, wird neben allen individuellen Zügen auch zum Spiegel
ihrer Zeit. Dies betrifft sowohl die Geistesströmungen, mit denen sich die
Romanheldin, u.a. eine Nietzscheleserin, beschäftigt als auch die
angesprochenen sozialen Themen. Allem voran ist es die Stellung der Frau,
die im Roman immer wieder teils direkt, beispielsweise wenn Sibilla Dalmar
über ihre schlechte Ausbildung klagt (S. 165), teils auch indirekt durch
Sibilla Dalmars eigene Verhaltensweisen kritisiert wird. Für eine
Historikerin ist es vor allem diese Perspektive, die das Buch aus heutiger
Sicht so interessant macht. Über den Schreibstil Dohms kann man sicherlich
an manchen Stellen geteilter Meinung sein. Wem Sibilla Dalmars
Reflexionen über ihre eigenen Emotionen teils etwas zu langatmig geraten
sind, sollte aber doch im Kopf behalten, dass sich Hedwig Dohm durch die
konsequente Bindung des Erzählers an die Romanheldin - was eine
übergeordnete allwissende Perspektive ausschließt - auch als eine sehr
moderne Schriftstellerin erweist.
Die Veröffentlichung des Romans löste 1896 einen regelrechten Skandal aus,
glaubte sich ein guter Teil der Münchner Gesellschaft doch in den
Romancharakteren wiederzuerkennen. Gegen eine Assoziierung der Romanheldin
mit Hedwig Dohms ältester Tocher Hedwig Pringsheim, wie es auch die ältere
Forschung formulierte, verwahren sich die beiden Herausgeberinnen in ihrer
Einleitung zum Roman aber eindeutig. Abgerundet wird die Romanausgabe durch
den Abdruck mehrerer zeitgenössischer und in ihrem Urteil unterschiedlich
ausfallenden Rezensionen. Diese bereichern die Lektüre sehr, helfen sie
doch zusätzlich dabei, sich dem literarischen Bild eines Frauentypus und
der dazugehörenden exklusiven Gesellschaftsschicht um die Jahrhundertwende
zum 20. Jahrhundert anzunähern.
Besprechung von ginger.schwarz
vom 03.02.2007 auf: NEON.
Das Magazin (Auszug)
"Hedwig Dohm? Feminismus? Auch heute noch? Ja, auch heute noch.”
Es war schon bedauerlich:
ich hörte mich um im Kollegen-/Bekannten- und Freundeskreis, der, wie ich
behaupten möchte, doch weitestgehend informiert und gebildet: dennoch:
niemand hatte je von Hedwig Dohm (1831-1919) gehört. Erwähnte ich dann, daß
sie zur ersten Generation der deutschen Frauenrechtlerinnen gehörte, dann
erntete ich zwar ein „ah ja.“, allerdings mit dem unausgesprochenen
Zusatz „gut, zeitlich einordnen kann ich die jetzt zwar so ungefähr,
trotzdem habe ich keine Ahnung, wer das sein soll“; erwähnte ich dann des
weiteren, daß sie sich nicht nur mit ihren Schriften (größtenteils
feministisch, doch nicht ausschließlich), sondern auch mit Romanen einen
Namen machte, die ihrer Zeit teilweise so skandalös rezipiert wurden, daß
literarische und qualitative Aspekte ebendieser Romane zugunsten des
vermeintlich autobiographischen Inhaltes (ergo der vermeintlich skandalösen
Enthüllungen) unter den Tisch fielen, auch dann erhielt ich als Antwort ein
„ah ja“ mit dem Zusatz eines unausgesprochenen Fragezeichens. ...
Um so erfreulicher ist es, daß sie wiederentdeckt wurde; nun – 88 Jahre
nach ihrem Tod – sie erneut verlegt wird; zwei junge Frauen – Nikola Müller
und Isabel Rohner – sie aus der Versenkung holten. 2006 erschienen die
ersten Bücher der Edition Hedwig Dohm (trafo verlag Berlin), in diesem Jahr
folgen zwei weitere Bände, herausgegeben von eben erwähnten Frauen. Doch
nicht nur das. Diese Frauen ermöglichen es uns nun – mit Gerd Buurmann im
Gespann – Dohms Stimme fast leibhaftig zu vernehmen, im Dialog mit
Nietzsche, Möbius, Groddeck und anderen Antifeministen vergangener Zeiten,
die so vergangen gar nicht scheinen, wenn – wie diese drei auf der Bühne
es tun – unter anderem statt dessen der Name Eva Herman eingesetzt wird."
Link zum
vollständigen Wortlaut
Rezension auf der Website Lobby für Menschenrechte - Link
REZENSION
von Petra Öllinger in: Zs. An.schläge, das feministische Magazin, Wien,
Ausg. Nov. 2006, S. 39:
Wir gratulieren. Und jubilieren?
Femmage an die
Frauenbewegerin Hedwig Dohm. Nikola Müller und Isabel Rohner rufen
die feministische Literatin mit einer Reihe ausgesuchter Texte in viele Gedächtnisse
(zurück) - auch in jenes von Petra Öllinger.
Jubiläum -
ein Begriff, der Skepsis
ob der Folgeerscheinungen auslösen
sollte. Zu mal, wenn festliches
Erinnern beispielsweise
an Schriftstellerinnen mit Biographien, Werksaugaben und diversen
Neuauflagen einhergeht, bei denen
frau das Gefühl hat, Wortbrocken von
entweder prominenten, gut verkäuflichen
Jubilarinnen vor die Augen geworfen
zu bekommen. Oder von Expertinnen,
deren Textspenden oft oberflächlich
bleiben. Manche Jubiläumsfrauen
werden überhaupt - fast möchte
frau behaupten - vergessen. Zwei der potentiellen
Gründe: Das Gedenkjahr ist
irgendwie unrund und/oder die zu Feiernde
war gedanklich nicht anschmiegsam
und äußerte so unpopuläre
Aussagen wie "Weil die Frauen Kinder gebären,
darum sollen sie keine politischen
Rechte haben. Ich behaupte: weil die
Männer keine Frauen gebären,darum
sollen sie keine politischen Rechte haben, und ich finde die eine Behauptung
mindestens so tiefsinnig wie die andere."
Hedwig Dohm,1876, "Das Stimmrecht
der Frau".
Ein
„unrunder" Geburtstag (der 175.),
so radikal und so brillant. Trotzdem und
deswegen - zwei machten sich auf, Hedwig
Dohms umfangreiches Werk, das
bis dato lediglich in „Häppchen", wenn
überhaupt, vorgelegen ist, in möglichst
zusammenhängender Form herauszugeben.
Nikola Müller und Isabel
Rohner haben im Berliner trafo Verlag die Edition Hedwig Dohm ins Leben gerufen
und sich selbst in ein hohes Maß
an Recherchearbeit gestürzt, deren Resultate
keinesfalls die eingangs erwähnten
Skeptizismen nähren.
Startschuss bildet die vorliegende Ausgabe
ausgewählter Texte, die einen Querschnitt
des vielfältigen literarischen
Schaffens der Frauenbewegerin Hedwig
Dohm zeigen. Im vorliegenden Band
findet sich eine Fülle von Essays, Feuilletons,
Briefen, Aphorismen und belletristischer Texten ( z. B. "Werde, die du
bist", ein atmosphärisch dichter Text über
den späten Emanzipationsversuch einer Frau, der auch den Verlauf einer depressiven
Verstimmung eindrucksvoll nachzeichnet.).
Schon beim Überfliegen
des Inhaltsverzeichnisses fällt auf, dass Hedwig
Dohms Arbeiten an Aktualität nichts
eingebüßt haben: "Sind Berufstätigkeit
und Mutterpflichten vereinbar?",
1900 (köstliche Seitenhiebe auf die
einzementierte Meinung, dass beides
eben nicht vereinbar ist), "Die neue Mutter",
1900, oder "Zur sexuellen Moral der
Frau", 1911. Deutlich wird in ihren Arbeiten: Frauenrechtlerin ist nicht gleich Frauenrechtlerin. In "Reaktion in der Frauenbewegung" hebelt Hedwig Dohm auf scharfzüngige Weise die manchmal fast kurios anmutenden Argumente von Ellen Keys, Lou Andreas-Salome und Laura Maholm bezüglich der Frage, welche Rolle der Frau zukommt, aus. Sie überführt die drei der Widersprüchlichkeiten
innerhalb ihrer eigenen Argumentation und kritisiert, dass sie alle
Frauen über einen Kamm scheren,ohne
die individuellen Lebens-umstände
zu berücksichtigen. Hedwig Dohms
Stärke liegt darin, dass sie die Frauen,
"da abholt, wo sie stehen" und keine
Wertigkeiten an deren Herkunft, Bildung
und Tun koppelt.
Ein Blick
auf ihre eigene Lebensgeschichte
- einen kurzen und sehr guten
Überblick bieten die beiden Herausgeberinnen
im ersten Kapitel - zeigt: Hedwig Dohm
selbst war der bürgerlichen
Frauenbewegung zu radikal.
Mit der Erstarkung des radikalen
Flügels innerhalb dieser
Bewegung findet Hedwig Dohm jedoch
Unterstützerinnen ihrer Ansichten. Sie tritt den Gründungskomitees
verschiedener Frauenvereine bei bzw.
bekleidet das Amt der Beisitzerin.
Wenn sie im
oben erwähnten Kapitel
formuliert: "Auch Frau Lou hat das Beste,
was über Frauen gedacht worden ist,
von Männern gehört.", ist das nur ein
Beispiel für ihren Witz, ihre
Scharfsichtigkeit, ihren Spott, ihre
Frische sowie
ihren sprachlichen und gedanklichen
Esprit. Fähigkeiten und eine mutige
Haltung, die frau heute in vielen Aussagen
vermisst.
Hedwig Dohms
leidenschaftliche Gedanken
und vor allem Forderungen sind
aktueller denn je. Folglich keimt die
Frage auf: Gibt's in dieser Hinsicht eigentlich
einen Grund zu jubilieren?
Bericht von Rüdiger Oberschür über eine Buchlesung in der Gießener
Allgemeinen v. 8. Juni 2006, S. 31
"Gegen frauenfeindliche Denker. Nikola Müller und Isabel Rohner
stellen Texte von Hedwig Dohm vor.
»Für jeden meiner orthographischen Fehler mache ich die Männer
verantwortlich« - so lautet eine der vielen gewagten Äußerungen, der
mutigen Frechheiten, die die Schriftstellerin Hedwig Dohm Zeit ihres Lebens
der Männerwelt, dem engstirnigen Patriarchat entgegenbrachte. Grund dafür:
ihre unzulängliche Schulausbildung im Berlin des 19. Jahrhunderts. Nur
einer von vielen Missständen, die Dohm wagte, öffentlich zu beklagen.
Bereits 1873 forderte sie als eine der ersten in Deutschland das Stimmrecht
für Frauen und setzte sich in ihrem umfangreichen Gesamtwerk aus Romanen,
Novellen, Feuilletons, Essays und Theaterstücken für die politische,
soziale und ökonomische Gleichstellung von Männern und Frauen ein. Hedwig
Dohm (1831-1919) hatte da vor allem auch die akademische Klasse vor Augen,
mit ihrem pauschalen Theoriegezwurbel über die Frau als Weib an sich,
zwischen angeblicher Naturrolle und gesellschaftlich gewolltem Konformismus.
Von der Geistesgeschichte bis zur Psychoanalyse machte Dohm Front gegen
frauenfeindliche Denker aller Art, etwa wie Nietzsche oder Georg Groddeck,
einen Weggefährten Freuds.
Die Historikerin und Redakteurin Nikola Müller hat nun zum 175. Geburtstag
der Autorin zusammen mit der Germanistin Isabel Rohner ein Lesebuch zum
Jubiläum herausgebracht. »Hedwig Dohm - Ausgewählte Texte«, heißt es
und beinhaltet Briefe; Novellen, Aphorismen und Essays. Im Gästehaus der
JLU am Philosophikum stellten die beiden auf Einladung des
Frauenkulturzentrums und im Namen der Frauenbeauftragten der JLU eine
Auswahl aus ihrem Buch vor.
In einer jeweiligen textlichen Strichfassung präsentierten Roher und
Müller eine Art szenische Lesung zwischen wissenschaftlichem Smalltalk und
literarischem Vortrag. Unterstützt wurden die zwei engagierten
Forscherinnen dabei durch den Schauspieler Gerd Buurmann, der mehr als nur
eine Zeile mit wildem Leben erfüllen konnte und der auch erstmalig Gießen
besuchte.
Das glückliche Trio schaffte es da im Laufe von eineinhalb Stunden auf
einfühlsame und geistreiche Weise, den 30 Zuhörern die wunderbare
Literatur Hedwig Dohms näher zu bringen. Müller und Rohner porträtierten
das Werk dieser großen Feministin auch immer aus ihrer eigenen Biografie im
Deutschland der Kaiser- und Kriegsjahre. Als glänzende Autodidaktin
schildern Müller und Rohner die Schriftstellerin« die für jeden noch so
kleinen Funken Bildung kämpfen musste, und betonen auch während der Lesung
immer wieder Dohms Gattungsfestigkeit. »Sie war eine Meisterin aller
Genres«, so Rohner, zurzeit auch als wissenschaftliche Mitarbeiterin der
Gießener KoMparatistik tätig, über Dohm, die tatsächlich ebenso
glänzende Novellen wie Briefe, brillante Essays und auch Dramen geschrieben
hat. Vor allem aber galt sie auch schon Zelt ihres Lebens als pointierte
Polemikerin, was - weil diese Textsorte in Deutschland eher unbeliebt war -
dazu führte, dass Hedwig Dohm lange in Vergessenheit geriet.
Dagegen setzen Rohner und Müller auf engagierte Art und Weise ihre
wissenschaftliche Arbeit über die Autorin und gaben am Ende noch einen
Ausschnitt aus Dohms »Werde die du bist« zum Besten, eine fiktionale
Geschichte um die Anstaltsinsassin Agnes Schmidt und eine frisch entstehende
Liebe.
Dohms gesamtes und sonstiges CEuvre wird in den nächsten Jahren erst noch
aufgearbeitet werden müssen. Da stehen Müller und Rohner wohl auch gern
Gewehr bei Fuß, zwei weitere BÄnde mit Feuilletons sind bereits für 2007
geplant. Denn Hedwig Dohm, die Tochter eines Zigarrenfabrikanten mit 17
weiteren Geschwistern, hat ein Volumen an qualitativ hochwertigen Werken
hinterlassen, das so bis heute selten zu finden ist und das ergo erst einmal
überschaut werden will.
Rez. von Ruth Niehaus in: AVIVA-BERLIN.de im Juni 2006:
http://www.aviva-berlin.de/aviva/content_Buecher_Biographien.php?id=8252
"Ausgewählte Texte - herausgegeben von Nikola Müller und Isabel Rohner.
Ratlose BuchhändlerInnen und komplizierte Beschaffungswege sind passé - ein wichtiger Schritt ist getan, der fabelhaften Denkerin und Autorin Hedwig Dohm den Platz einzuräumen, der ihr gebührt.
Endlich! Der erste Band einer kritischen Gesamtausgabe erscheint zum 175. Geburtstag.
87 Jahre nach ihrem Tod startet der trafo-Verlag die Edition Hedwig Dohm, herausgegeben von Nikola Müller und Isabel Rohner, beide ausgewiesene Dohm-Kennerinnen.
Die Zeit ist mehr als reif, um so mehr, als es bislang zwar die eine oder andere Neuauflage einzelner Texte der radikalen Feministin (1831-1919) gab, doch niemals eine kritische Edition. Eine erstaunliche Marginalisierung, meinen die Herausgeberinnen, angesichts der zentralen Bedeutung Dohms für die Geschichte der deutschen Frauenbewegungy, die bereits ihren ZeitgenossInnen bewusst war.
Müller und Rohner versammeln im ersten nun vorliegenden Band Briefe, essayistische und belletristische Texte Dohms die, chronologisch geordnet, einen guten Querschnitt durch das umfangreiche Werk der Schriftstellerin, Journalistin und Philosophin zeigen.
Mit stilistischer Brillanz schrieb sie gegen das Patriarchat in Wissenschaft und Politik an und scheute sich nicht, Beiträge zur Frauenfrage anerkannter Größen wie Nietzsche, Sombart oder Maupassant als bedauerlich geistlos zu brandmarken.
Wem bislang nur die meisterhaften und auch heute noch mitreißenden Essays und Feuilletons bekannt sind, in welchen sie kompromisslos für die Sache der Frau focht, der entdeckt in "Werde, die du bist" eine einfühlsam erzählte Novelle. Der fein gesponnene innere Monolog der Heldin, einer alternden Witwe, führt uns eindringlich die psychologischen Auswirkungen der damals herrschenden Repression gegen Frauen vor Augen. "Unfähigkeit ist der Schlaftrunk, den man dir, alte Frau, reicht. Trink ihn nicht! Sei etwas! Schaffen ist Freude! Und Freude ist fast Jugend!", formuliert sie an anderer Stelle.
Die Leistung Hedwig Dohms ist vor dem Hintergrund der repressiven Stimmung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts umso beeindruckender.
Aktiv und risikobereit hatten sich die Frauen in der 48er Revolution für Gleichheit und Freiheit eingesetzt. Begeistert folgten sie 1832 wie Louise Otto Peters, der Mitbegründerin des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins, der Einladung zum Hambacher Fest. ("Dem Reich der Freiheit werb’ ich Bürgerinnen"). Die Maßnahmen der Reaktion nach der Niederschlagung der Freiheitsbewegung trafen sie jedoch in ungleich stärkerem Maße. Es hagelte Verbote und Repressionen. Anders als ihre Schwestern aus der Arbeiterschaft, galt für Frauen aus dem Bürgertum ein Arbeitsverbot. Als Antwort auf mögliche Freiheits- und Gleichheitsbestrebungen wurde die Verschiedenheit von Mann und Frau zum politischen und pädagogischen Programm erklärt. Falls sich für Frauen die favorisierte Möglichkeit der Lebensgestaltung einer standesgemäßen Heirat nicht realisieren ließ, war Arbeit eine soziale Notwendigkeit. Die einzige Beschäftigungsnische für den Gelderwerb war die Arbeit als Gouvernante, Gesellschafterin und, ab Mitte des Jahrhunderts, als Lehrerin. Der Freiheitskampf der organisierten Frauen konzentrierte sich daher auf eine nachhaltige Verbesserung der Bildungschancen für Mädchen und Frauen. Aktivistinnen handelten im Bewusstsein eines drängenden sozialen Erfordernisses, im Mittelpunkt der Argumentation stand jedoch in alter Tradition die Zweckdienlichkeit der angestrebten Bildung:
Ging es in der kurzen Revolutionszeit noch um die Heranbildung besserer Bürgerinnen, die ihre Erziehungsaufgabe gleichsam als Staatauftrag verstehen sollten, so blieb die Gleichung gebildete Frauen = tugendhaftere bessere Mütter bestehen. Das Recht auf Bildung als Naturrecht wird nur sehr vereinzelt artikuliert.
Um z.B. das Wahlrecht erfolgreich fordern zu können, waren die "Gemäßigten" unter den Feministinnen der Ansicht, Frauen müssten ihre Fähigkeiten erstmal unter Beweis stellen.
Diese im Zeitzusammenhang verständliche Haltung eines großen Teils der organisierten Frauen war nichts für Hedwig Dohm, die nicht gewillt war, von ihren in der Euphorie der 48er Revolution aufgeflammten Idealen zu lassen. Kompromisslos wollte sie das Stimmrecht für Frauen, gleiche Bedingungen für Ausbildung, Studium und Arbeit und all dies ohne den Frauen einen Tauglichkeitsnachweis abzuverlangen. Auch von der Idee eines spezifischen "Gattungscharakters" der Frau, die von etlichen gemäßigten Feministinnen propagiert wurde, hielt Dohm nichts. In vielen Schriften entlarvte sie die sogenannte "Natur der Frau" als soziales und kulturelles Konstrukt. Der Mütterlichkeit, so äußerte sie sich unmissverständlich, müsse die Speckschicht der Idealität, die man ihr angeredet hat, genommen werden. So wirkte sie lange als Einzelkämpferin, doch stets in regem Austausch mit den fortschrittlichsten Intellektuellen der damaligen Zeit. In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts organisierten sich endlich auch die radikalen Frauen verstärkt und Hedwig Dohm schloss sich den "Schwestern im Geiste" an.
88 Jahre nach Erringung des Frauenstimmrechts (noch zu Lebzeiten Dohms) sei die Gleichberechtigung zwar noch nicht durch alle Institutionen, aber durch alle Köpfe gegangen, schreibt Alice Schwarzer. Das ist sicher so, doch manchmal ist es, als wäre die Zeit stehen geblieben, seit den fulminanten Wortgefechten, die Hedwig Dohm sich mit unzähligen Antifeministen geliefert hat. "Man kommt sich auf dem Gebiet der Frauenfrage immer wie ein Wiederkäuer vor", schrieb Dohm und dieser Eindruck scheint sich angesichts der aktuellen familienpolitischen Debatten wieder zu bestätigen:
Schade, dass Hedwig Dohm nicht in Maischbergers Talkrunde sitzen konnte, als es um die Geburtenrate in Deutschland ging. Das Lamento des Medienwissenschaftlers Bolz über den Familienniedergang und das Ende der Männlichkeit, verursacht durch berufstätige Frauen, hätte sie zweifelsohne an jenen Arzt erinnert, der zu ihrer Zeit die Theorie von der physiologischem Schwachsinn des Weibes unters Volk brachte. Mit seiner Idee von der potentiellen genetischen Impotenz von Karrierefrauen, machte Bolz dem Mediziner alle Ehre.
Und was hätte sie Eva Hermann, Tagesschausprecherin und Sachbuchautorin, entgegnet, die, unbeleckt von jeder historischen Kenntnis, den verstaubten Zankapfel der biologischen Determination der Frau wieder ausgräbt. Bar jeder Ironie schreibt sie, Frauen verstießen gegen Gesetze, die das Überleben unserer Spezies einst gesichert hätten.
Die beinahe freundliche Mitleidigkeit mit der Hermanns und Bolzens Beiträge aufgenommen wurden, zeigt, dass es sich bei den beiden um VertreterInnen einer mittlerweile unwesentlichen Randgruppe handelt, die aber natürlich trotzdem mitreden darf.
Immerhin, es geht also doch voran.
Noch in diesem Jahr erscheint Hedwig Dohms Roman "Sibilla Dalmar" (1896), darüber hinaus folgen bis zum Jahr 2008 sieben weitere Bände mit Romanen, ihrer feuilletons, darunter Glossen, Rezensionen und Anti-Kriegs-Stücke, die Edition ihrer Briefe und schließlich der Essays – ein großes Vorhaben, dem eine nicht minder große Resonanz beschieden sein möge!
Lesen Sie mehr: AVIVA-Redakteurin Ruth Niehaus "sprach" mit der Schriftstellerin, Publizistin, Dramatikerin und Feministin über Gleichberechtigung und die längeren Beine der Männer. Hier geht´s zum
Interview.
Weitere Infos unter: www.hedwigdohm.de