[= Network Cultural Diversity and New Media, Bd. 2], 284 S., zahlr. Abb., ISBN 3-89626-479-6
REZENSIONEN
Rezension von Martin Zierold (Wien) in: MEDIENwissenschaft, H. 2/2006,
S. 240f.:
"Vor dem Hintergrund des aktuellen kulturwissenschaftlichen
Diskurses um soziale Aspekte von Gedächtnis und Erinnerung hat Wolfram
Dornik eine für diese Forschungsrichtung einerseits außergewöhnliche,
andererseits typische Arbeit verfasst. Vergleichsweise außergewöhnlich und
begrüßenswert ist seine unaufgeregte und empirisch akribische
Auseinandersetzung mit dem Phänomen Erinnerung' im World Wide Web. Derzeit
scheinen hierzu vielerorts apokalyptische Szenarien en vogue zu sein:
Aleida Assmann etwa konstatiert in ihrem Aufsatz „Zur Mediengeschichte des
kulturellen Gedächtnisses", mit den digitalen Medien, die Artefakte
ihrer Materialität berauben, „verschwindet [.] weit mehr als nur eine
geheimnisvolle Aura; mit ihr verschwinden Realität, Geschichte und
Gedächtnis" (in: Astrid Erll, Ansgar Nünning [Hg.] Medien des
kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität - Historizität - Kulturspezifität,
Berlin: 2004, S.45-60, hier 58).
Völlig unbeeindruckt von derlei gespenstischen Diskussionen geht Dornik
ganz selbstverständlich davon aus, dass das Internet - zumindest potentiell
-„genauso ein Erinnerungsort wie beispielsweise ein Denkmal" (S.15)
sein kann. So will er untersuchen, ob sich zum Thema Holocaust und
Nationalsozialismus auf österreichischen Internetseiten bereits „eigenständige
,virtuelle' Erinnerungskulturen" (ebd.) entwickeln. So erfreulich es
ist, dass hier jemand eine empirische Analyse an die Stelle von eher
feuilletonistischen Klagen stellt, so bedauernswert bleibt, dass Dorniks
Studie in ihrer Durchführung eben doch auch typisch für viele Arbeiten des
Gedächtnisdiskurses ist: so umfassend die Fallstudie, so knapp und wenig
überzeugend die theoretischen Grundlagen. Die zentralen theoretischen
Konzepte wie 'Gedächtnis','Erinnerung', 'Erinnerungsort' oder,Identität'
werden jeweils nur mit wenigen Zeilen skizziert. Doch gerade für eine
Arbeit, die sich dem Internet widmen möchte, reicht es nicht aus, nur knapp
auf das Konzept von 'kollektivem' und ,kulturellem Gedächtnis' bei Jan
Assmann zu verweisen (vgl. Das kulturelle Gedächtnis, München
1992). Diese Terminologie, die an frühen Hochkulturen entwickelt wurde,
kann nicht ohne weiteres auf gegenwärtige Gesellschaften und das heutige
Mediensystem übertragen werden - auch wenn dies viel zu oft unreflektiert
geschieht.
Dass Dornik nicht eine ausführlichere theoretische Fundierung liefert, ist
gerade deshalb bedauerlich, weil so die gesamte Studie unter ihren
Möglichkeiten bleibt. Gerade die innovative Idee einer nüchternen Analyse
von Erinnerung im Kontext des Internet müsste ja im Hinblick auf ihre
theoretischen Konsequenzen für aktuelle Konzepte von Gedächtnis und
Erinnerung ausgeleuchtet werden. Wenn am Ende der Arbeit konstatiert wird,
dass Erinnerungsangebote im World Wide Web sich auch heute „nach
traditionellen Mustern, die im ,materiellen' Raum geprägt wurden"
orientieren (S.210), dann müsste die theoretische Arbeit beginnen.
Stattdessen endet das Buch genau hier und dies mit zwar richtigen, aber doch
wenig hilfreichen Gemeinplätzen wie diesem: „Wie die Entwicklungen des
Internet und die Konstruktion von historischen Identitäten und Erzählungen
weitergehen wird, kann an dieser Stelle nicht einmal annähernd seriös
beantwortet werden." (S.217)
Trotz dieser Defizite bleibt es Dorniks Verdienst, zahlreiche
österreichische Websites zum Thema Holocaust und Nationalsozialismus
gesichtet und eine Auswahl qualitativ ausgewertet zu haben. Auch ist es
beeindruckend zu sehen, dass das vermeintlich grenzüberschreitende Netz im
Kontext historischer Themen vor allem im regionalen Bereich und oft zur
Verbreitung alternativer Erinnerungsgeschichten genutzt wird. So lässt sich
mit Dornik wenigstens exemplarisch zeigen, dass es im Internet entgegen
mancher Sorgen durchaus Orte für mediale Erinnerungsangebote geben kann und
dass die Forschung zum Zusammenhang moderner Medien und gesellschaftlicher
Erinnerung erst an ihrem Anfang steht.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von: Erik Meyer, Sonderforschungsbereich Erinnerungskulturen,
Justus-Liebig-Universität Gießen
E-Mail: erik.meyer@sowi.uni-giessen.de
"Die Reflexion verschiedener Formen der Vermittlung von Vergangenheitswissen ist inzwischen ein etablierter Bestandteil des
geschichtswissenschaftlichen Diskurses. Das Interesse beschränkt sich nicht nur auf Aspekte der Geschichtsschreibung im engeren Sinne, sondern
hat sich ausgehend von Arbeiten zur Geschichtskultur auf alle Arten der Repräsentation von Vergangenheit ausgeweitet und fokussiert vor allem
die Präsentation der Zeitgeschichte in publikumswirksamen Formaten wie Ausstellungen und Artefakten der audio-visuellen Massenmedien. Darüber
hinaus lassen sich die Gegenstände der Geschichtskultur als Ausdruck gegenwärtiger gesellschaftlicher Konstellationen interpretieren, die
jeweils spezifische ästhetische Darstellungsstrategien und historische Deutungen begünstigen beziehungsweise hervorbringen. Entsprechende
Fragestellungen sind somit auch im interdisziplinären Forschungsfeld der Erinnerungskulturen und dem dort vorliegenden Interesse an Medien des
kollektiven Gedächtnisses zu verorten.
Aus dieser Perspektive stellt insbesondere im deutschsprachigen Raum die Vergegenwärtigung von Nationalsozialismus und Holocaust sowohl einen
umfangreichen Gegenstandsbereich als auch ein vielfach bearbeitetes Forschungsthema dar. Dies zeigt auch die Studie von Wolfram Dornik,
deren empirischer Teil mit einer quantitativen Bestandsaufnahme von Websites zur österreichischen Zeitgeschichte beginnt: 22 Prozent der von
ihm erfassten 370 Sites beschäftigen sich mit dieser Materie (S. 87).[1] Während jedoch für elektronische Massenmedien wie das Fernsehen und
„konventionelle“ Bildmedien wie Fotografie und Film bereits einschlägige
Publikationen vorliegen, finden digitale und interaktive Medien noch wenig Berücksichtigung. Ausnahmen bilden die Rezensionen entsprechender
Ressourcen aus geschichtsdidaktischer oder gedenkstättenpädagogischer Perspektive. Aus erinnerungskultureller Sicht bleibt die Darstellung des
Einflusses der Digitalisierung bislang vor allem auf die Archivierung von Inhalten beispielsweise in elektronischen Datenbanken bezogen.
Solche Ansätze fokussieren die mediale Funktion der Speicherung und ihr gemeinsamer Nenner lässt sich mit Jan Assmann folgendermaßen resümieren:
„Durch die exponentiell gesteigerten Speicherungsmöglichkeiten des Computers werden Grenzen und Selektionsmechanismen hinfällig, die von
der Ökonomie und Verwaltbarkeit materieller Speichermedien diktiert sind.“ [2] Diese Diagnose gibt wiederum Anlass zu eher
kulturpessimistischen Szenarien, die daraus eine Fragmentierung oder – ausgehend von Konvertierungs- und
Konservierungsproblemen – gar eine Erosion des kulturellen Gedächtnisses ableiten. [3] Für eine Analyse
gegenwärtiger Erinnerungskulturen erscheint demgegenüber jedoch vielmehr die Bedeutung Neuer Medien für die Verbreitung digital darstellbarer
Inhalte relevant.
Auch Wolfram Dornik geht in seiner Untersuchung von „Erinnerungskulturen im Cyberspace“ von dieser Prämisse aus, wenn er feststellt, dass das
Internet gar kein Speichermedium sei und verfolgt die These, „dass das Internet ein Spiegel des kommunikativen Gedächtnisses einer Gesellschaft
ist“ (S. 88). Als Grundlage zur Überprüfung dieser These liefert er
einen Abriss über „Österreichisches Gedächtnis und (historische) Identität in der Zweiten Republik“ (S. 43ff), in dessen Rahmen auch die
betreffenden Begrifflichkeiten geklärt werden. Sowohl der Gedächtnis-Begriff (S. 43) als auch der Begriff (kollektiver) Identität
(S. 45) werden jedoch nur kurz definiert ohne auf alternative Konzeptionen zu verweisen. Die damit einhergehende Periodisierung und
die Zuordnung von Leitmotiven sowie die Aufzählung relevanter Aspekte der österreichischen Erinnerungskultur erscheinen recht
schematisch. Auch das darauf folgende Kapitel, das theoretische Befunde zum Verhältnis von digitaler Technologie und Geschichte zusammenträgt, ist
ähnlich angelegt. Was Dornik als eine gegenstandsadäquate Kombination von historischen, kultur- und medienwissenschaftlichen Theorien
konzipiert, wirkt wie ein facettenreiches Kaleidoskop. Die Ausführungen
rekurrieren häufig auf die teils aufgeregten Debatten über utopische Aspekte des Internets, die in Deutschland in den letzten Jahren unter
dem Titel „Netzwissenschaften“ geführt wurden. Was als Einführung in die
Thematik angelegt ist, mag für mit dem Diskurs über computervermittelte Kommunikation nicht vertraute Fachwissenschaftler etwas exotisch
anmuten. Einige der erwähnten Phänomene wie etwa die Konstruktion von Identitäten in den Spielwelten der Multi-User-Dungeons (S. 63 ff)
verstellen den Blick auf die mögliche Bedeutung des Mediums im vorliegenden Zusammenhang eher.
Demgegenüber wird die Perspektive im empirischen Teil der Arbeit deutlicher. Wolfram Dornik nähert sich seinem Untersuchungsgegenstand
durch eine Kartografie von Websites zur österreichischen Zeitgeschichte. Dabei unterscheidet er Websites, die der wissenschaftlichen
Fachinformation dienen (indem etwa Quellen oder Publikationen zugänglich
gemacht werden), Repräsentativsites von Institutionen (die hauptsächlich Informationen über die betreffende Einrichtung geben) und thematische
Sites, die einen bestimmten zeitgeschichtlichen Aspekt darstellen. Diese typologische Einordnung ist überzeugend und wird nochmals nach
spezifischen Trägern (z.B. Museen, Universitäten, Verlagen)
beziehungsweise Präsentationsformaten (z.B. Datenbanken, Foren, Magazinen) differenziert und quantifiziert. So entsteht ein instruktiver
Überblick, bei dem jedoch Sites mit rechtsradikalen und revisionistischen Inhalten definitorisch ausgeschlossen bleiben.
Ausgehend von dieser Recherche werden neun Beispiele im Detail untersucht, die das Spektrum der Bezugnahme auf Nationalsozialismus und
Holocaust illustrieren. Dabei wird auf Repräsentativität verzichtet, da die quantitativ dominanten Sites von Institutionen mit ihren
Informationen über Öffnungszeiten, Lage etc. in der Regel inhaltlich nicht gleichermaßen aussagekräftig sind. Für diese qualitative
Untersuchung wurde ein ausführlicher Kriterienkatalog entwickelt. Dieses Instrument stellt eine herausragende Leistung dar, insofern es Websites
als Quelle für kulturwissenschaftliche Analysen ernst nimmt und sich wohltuend von den technizistischen Instrumenten der bislang betriebenen
Online-Forschung abhebt.
Leider gelingt Wolfram Dornik die Anwendung dieses Instruments nicht ebenso überzeugend. Insbesondere die Kriterien zur eigentlichen
Quellenkritik werden etwas pedantisch verfolgt: Das Fehlen von Angaben und Nachweisen, die etwa für wissenschaftliche Publikationen verbindlich
sind, wird nicht nur unter methodologischen Gesichtspunkten
problematisiert, sondern vor allem unter dem Aspekt mangelnder Sorgfalt thematisiert. Dies mag in einer Web-Rezension angebracht sein. Werden
Websites hingegen als Untersuchungsgegenstand verstanden und erheben nicht explizit den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, dann gilt es diese
Eigenschaft der Artefakte zu interpretieren – ähnlich wie bei anderen historischen Dokumenten als Ausdruck der Gattung oder anderer
Kontextfaktoren. Darüber hinaus wird die Ansicht vertreten, dass unter den fehlenden Nachweisen „die Nachvollziehbarkeit und das damit
einhergehende Vertrauen in den Inhalt" (S. 192) leidet. Dies mag zutreffen, aber es muss konzediert werden, dass User häufig andere
Kriterien anwenden, auch wenn diese nur bedingt objektive Gültigkeit beanspruchen können: Sie interpretieren etwa die prominente Platzierung
einer Website in einer Trefferliste bei einer Suchmaschine als Qualitätsmerkmal oder sehen die Richtigkeit von Angaben dann verbürgt,
wenn es sich beim Anbieter um eine etablierte Institution handelt. Auch Dornik selbst orientiert sich an ähnlichen Kriterien, wenn er einer
Website ausgehend von deren grafischer Gestaltung attestiert, dass damit dem „hohen ethischen Anspruch“ der Anbieter
entsprochen werde (S. 166). Es wäre jedoch zu reflektieren, in wie weit es sich dabei eben um eine
etablierte gestalterische Konvention handelt.
Abgesehen von ähnlich weit reichenden Schlussfolgerungen und Werturteilen an anderer Stelle gibt die Arbeit einen guten Überblick
über die Vielfalt der Darstellungs- und Thematisierungsstrategien sowie das Ausmaß der Nutzung gegebener technologischer Möglichkeiten. Auch die
Konklusion bezüglich der verfolgten „Symmetrie“-These wird am
empirischen Material plausibel: In den untersuchten Websites spiegeln sich nicht nur etablierte inhaltliche wie ikonografische Muster der auf
Nationalsozialismus und Holocaust bezogenen österreichischen Erinnerungskultur(en) wider, sondern sie ermöglichen auch die
Artikulation „alternativer“ Perspektiven. Für weitere Forschungen in diesem Zusammenhang wäre es wünschenswert, als Vergleichsebene weniger
den materiellen Raum zu fokussieren und diesen dann mit dem Konstrukt des „Cyberspace“ zu kontrastieren, als das Verhältnis von Websites zu
anderen Verbreitungsmedien zu untersuchen.
[1] Wolfram Dornik ist sich bewusst, dass solche Erfassungen nur eine
Momentaufnahme darstellen können. Auf der Website www.zeit-ge-schichte-n.net präsentiert er ein aktualisiertes Verzeichnis
und dokumentiert auch Aspekte seiner Dissertationsschrift.
[2] Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, in: Erwägen, Wissen, Ethik 13 (2002), S. 239-247, hier S. 246.
[3] Osten, Manfred: Das geraubte Gedächtnis. Digitale Systeme und die Zerstörung der Erinnerungskultur, Frankfurt a.M. 2004.
URL zur Zitation dieses Beitrages: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-1-213>