[= Auf der Suche nach der verlorenen Zukunft, Band 16], trafo verlag 2004, 198 S., zahlr. Abb., ISBN 3-89626-456-7, 17,80 EUR
Von
Detlef Kannapin in: Utopie kreativ, Nr. 168, Oktober 2004, S. 951–953,
Auszug):
1793 wurde in Paris eine Frau hingerichtet, die
der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
die noch fehlende der Frauen hinzufügen
wollte. 1793 wurde in Berlin für die Reform
des Allgemeinen Preußischen Landrechts formuliert, dass eine Frau ohne
Einwilligung des Mannes keinen Beruf ausüben und kein
Geschäft tätigen darf. 1793 wurden in London
>Vorlesungen über die Erziehung der Frau<
zum Bestseller, in denen festgestellt wurde:
Frauen, die ihr Leben dem Lernen widmen, verlieren ihren weiblichen
Charakter.<
Mit diesen Sätzen beginnt die Berliner Historikerin
Hannah Lund ihre Studie zu den Salons um 1800 als europäischem Phänomen.
Ihren Ausführungen folgend fehlt den Frauen zu
dieser Zeit mehr oder weniger alles, was die
Voraussetzung für eine bürgerliche Person ausmachen sollte: das allgemeine
Menschsein, eine berufliche oder geschäftliche Tätigkeit, Bildung.
Das bürgerliche Ideal von »Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit«,
das heute elementar zur Disposition
steht, hat die »Schwesterlichkeit«
nicht einfach nur vergessen, sondern
aus herrschaftlichen Gründen suspendiert. Bürgerliche Kultur als männliche
Kultur ist offensichtlich lange das Zentrum der Kultur
schlechthin. Aber gerade in der Phase der Französischen Revolution
und danach wissen sich Frauen, zunächst
ausschließlich Frauen aus den begüterten Schichten der Gesellschaft, zu
wehren. Sie schaffen sich Freiräume: die Salons.
Lunds Minimaldefinition eines Salons, bewußt die
Aporien des Begriffs und die mögliche empirische
Vakanz der Begriffsbestimmung berücksichtigend,
lautet wie folgt: »Unter Salon
ist eine Geselligkeitsform zu verstehen, die in den Räumen und unter
der Regie einer Frau stattfindet und
deren Hauptzweck die gebildete und bildende Unterhaltung ist. Die Gäste
sind beiderlei Geschlechts, kommen aus verschiedenen Ständen, Religionen,
Schichten und Berufsgruppen. Zulassungskriterien wie Einkommen
oder Titel gibt es nicht, Vorschriften
und Statuten auch nicht. Von einem Salon ist dann die Rede, wenn die Gesprächspartnerinnen und -partner
die Möglichkeit haben, gleichberechtigt
miteinander umzugehen. Das bedingt
auch einen gewissen Abstand vom Hof
und der höfischen Macht.« Im Zuge der drängenden Aufklärung gegen die
sich überlebende, aber keineswegs abtretungswillige Aristokratie,
erscheinen die Salons in zweierlei Hinsicht als bahnbrechend, wenn nicht prorevolutionär.
Frauen erarbeiten sich eigene Lebens-
und Artikulationsräume, und unter ihrer
Regie kann ein Aufweichungs- und Aushöhlungsprozeß
der Standesunterschiede in der
Epoche des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus stattfinden.
Erstmals, und das muß als historiographische
Innovation betrachtet werden, sind die Salons in einem vergleichenden
internationalen Zusammenhang mit
wissenschaftlichen Methoden porträtiert
worden. Das französische Modell besitzt mindestens zwei Neuerungen. Bereits
im 17. Jahrhundert entstanden, läßt sich
erstens in der Erfindung der Salons mit dem »Hotel Rambouillet« (ab
1610) die Tendenz zur Schaffung einer
Gegenöffentlichkeit vom Hoffeststellen, die später Vorbildcharakter
tragen wird. Zweitens wird der Salon der wohl schillerndsten Persönlichkeit
der Salonkultur in Frankreich während
der Revolution zum Mittelpunkt der
Subversivität: Anne Louise
Germaine de Staels (1766–1817) »Verräumlichung« der Aufklärung.
Trotz der vielen Anfeindungen gegen ihre
Person, trotz Verbannung und
Entehrung, ist für das neue Selbstbewußtsein
der Frau bezeichnend, daß sie
ihre eigene Autorenschaft gesellschaftskritischer Romane und Essays nicht verhehlt. Voraussetzung
für eine erfolgreiche Saloniere ist allerdings das Nicht- oder
Nichtmehr-Vorhandensein
von familiären Verpflichtungen und
eine großzügige finanzielle Unterstützung durch
die Familie und Freunde.
Für Großbritannien
und Preußen gilt hingegen die familiäre
Ungebundenheit eher als Ausnahme. Manche der Salonieren haben mit einer
heftigen Doppel- und Dreifachbelastung zu kämpfen, was neben der
Salonführung die Erziehung von Kindern
(und zwar von vielen) und eine staatsbürgerliche Inpflichtnahme der »Verbesserung
und Auffrischung« ihrer Männer beinhaltet. Im Gegensatz zu Frankreich ist der
englische »Bluestocking Circle« (etwa 1750–1800)
ein Sonderfall der Salons, da er als
netzwerkartige Freundschaftsverbindung unter
Frauen (bei männlicher Beteiligung) den intellektuellen
Austausch und die Vernunftschulung
zwischen Frauen betreibt. Wie ambivalent der emanzipatorische Ansatz
der britischen Salons bewertet werden muß,
geht z. B. daraus hervor, daß die
Elementarschrift des frühen Feminismus »Eine Verteidigung der Rechte
der Frauen« (1792) von Mary Wollstonecraft,
durch die Protagonistinnen des »Bluestocking
Circle« rundweg abgelehnt wird, weil sie darin eine Gefahr für die
Schicklichkeiten gesellschaftlicher
Konventionen wittern, in deren
Rahmen sie sich weiter bewegen zu
müssen glauben. Immerhin können fast alle englischen Salonieren
anonym Schriften publizieren.
Die hierzulande wohl bekanntesten Salons sind
die Berliner Salons, die zwischen 1780 und 1806 ihre Blütezeit erfahren.
Lund parallelisiert sie
mit einem Seitenblick auf Weimar und Wien, wo
ebenfalls Salons entstehen. Prekär und verhängnisvoll für den Verlauf der deutschen Geschichte im
19. Jahrhundert hat sich ausgewirkt, daß das aufklärerische Potential der Salons von
Henriette Herz (1764–1847) und Rahel Levin Varnhagen (1771–1833) mit ihren essentiellen Fragen
danach, was eigentlich unter dem Wort Mensch
zu verstehen ist und ob nicht das Fragen als solches erst das vernünftige Werden anzeigt, durch
eine aristokratisch-männlich-nationalistische Gegenbewegung kaum zur Entfaltung kommt.
Diese Fragen betreffen auch die Grundkonstitutionen des Seins der Frauen
und die Zuschreibung
als Jüdinnen.
Vor dem Hintergrund des Projekts der Aufklärung ist
einer der liberalsten Männer seiner Zeit, Theodor Gottlieb von Hippel, 1792 zu der Frage vorgedrungen, warum »Weiber« eigentlich
keine Personen sein sollen. Reichlich Antwort geben die Geistesgrößen der
Zeit, die alle verzückt
in den Salons verkehrt haben und sich
oft als Freunde und Gönner der Salonieren ausgeben: Wilhelm von Humboldt,
Gentz, Achim von Arnim und Clemens von Brentano. Der Geschlechterunterschied ist naturgegeben,
schreiben sie, und vom Charakter der »Natur« ergibt sich die
untergeordnete gesellschaftliche Stellung
der Frau. Juden sind dem deutschen Volke
»äußerlich«. Sie behaupten das, obwohl sie beredte Zeugen der angenehmen
Geistesatmosphäre durch die Salonieren
geworden sind. Von Arnim und Brentano gründen 1811 die bislang kaum
erforschte sogenannte »Christlich-teutsche
Tischgesellschaft«, von deren
Aufnahme »Franzosen, Philister,
Juden und Frauen« ausgeschlossen
sind. Die nationalistische Drehung des deutschen Bürgertums während
der Befreiungskriege gegen Napoleon zerstört schließlich
das umfassende Aufklärungswerk der Salons, dessen soziale Akzeptanz
vielleicht einige der Verheerungen des folgenreichen Bündnisses
aus Adel und Bürgertum hätte verhindern
können.
Als
Langzeitergebnisse bleiben laut Lund von
den Salons eine individuelle, »indirekte« Emanzipation
des selbständigen Mündig-Werdens
der Frauen sowie ihre Vorbildwirkung für
die spätere Artikulation sozialer Forderungen
durch Frauen. Oder, in den Worten der Autorin gefaßt: »Die
Hinterlassenschaft der Salonieren ist das Experiment selbst.«
Die Arbeit von Hannah
Lund, die auf ein historisch interessiertes
Publikum und weniger auf den Fachdiskurs
zielt, ist akribisch recherchiert,
äußerst genau im Quellenumgang, wohltuend
vorsichtig und differenziert im Urteil sowie ausnehmend gut geschrieben und
zu lesen, was im Zeitalter des
Verlusts ordnungsgemäßer germanistischer Ausbildung mittlerweile
als einer der Hauptvorteile der Lektüre klassifiziert werden muß.