[= Autobiographien, Bd. 18], trafo verlag 2004, 576 S., zahlr. Abb., ISBN 3-89626-313-7, 36,80 EUR
Besprechung von Siegfried Birkner in: RotFuchs, Heft
Februar 2006, S. 25
"Ein Leben für die Philosophie: Herbert Hörz.
Lebens wenden. Vom Werden und Wirken eines Philosophen vor, in und
nach der DDR. So hat Prof. Herbert Hörz sein neues Buch überschrieben, das
2005 im Berliner trafo verlag Dr. Wolfgang Weist erschienen ist. Es sind
Stationen des eigenen Lebens, die der Autor beschreibt, wobei er an
Ereignisse und Personen erinnert, die so manchem Interessenten bekannt sind.
Er berichtet über das Werden eines in Stuttgart geborenen Philosophen, der
in Thüringen seine Jugend verlebt, in Jena studiert und als Schüler von
Georg Klaus an das Philosophische Institut der Humboldt-Universität zu
Berlin geht. Er absolviert 1964 in Moskau einen Studienaufenthalt und kommt
schließlich an die Akademie der Wissenschaften der DDR, deren Vizepräsident
er eine geraume Zeit ist. Hier erlebt er die „schöne und komplizierte
Zeit philosophischer Arbeit in der DDR", muß dort aber auch demütigende
Abwicklung, Berufsverbot und lähmende Arbeitslosigkeit hinnehmen. Doch Hörz
war und ist Philosoph genug und besitzt zudem einen starken Charakter, der
auch diese Belastungen verkraftet. Überdies zählen neben der unverdrossen
ausgeübten wissenschaftlichen Tätigkeit auch die Familie zu den Ruhepolen
in diesem unruhigen Leben. Darum sind viele Aussagen ihm nahestehenden
Personen und insbesondere dem kreativen Gedankenaustausch mit seiner Frau,
der Ethikerin Helga E. Hörz, gewidmet. In diesem Zusammenhang sei auf einen
besonderen Vorzug des Buchs verwiesen: Der Autor ist nicht nur Philosoph,
sondern auch Historiker; so sind ihm die Würdigungen seiner Mitstreiter und
zahlreichen Freunde innerhalb und außerhalb der DDR hoch anzurechnen.
Sicher wäre ein Namensverzeichnis für Wissenschaftler von damals und heute
nützlich gewesen, aber das hätte den Umfang des Buchs noch mehr erweitert.
Immerhin verweist das Inhaltsverzeichnis auf einige Zeitgenossen des Autors.
Herbert Hörz ist ein kritischer Denker. Sein Verdienst ist es, die
Wissenschaftsphilosophie ausgebaut und für Vertreter anderer
Wissenschaftsdisziplinen erschlossen zu haben. Die Philosophie war und ist für
ihn Erklärung der Welt, Ideengenerator und Lebenshilfe, weil und wenn sie
spezielles Wissen in umfassende Beziehungen dialektisch einordnen kann.
Damit begründet der Autor sein konsequentes Wirken für interdisziplinäres
Arbeiten und seinen Wissenschaftsoptimismus. Dem Leser seines Buchs wird
deutlich: Für Hörz gibt es keine Tabus. Stets hat er an Erkanntem und erst
recht an bloß Verkündetem gezweifelt, denn „fehlender Zweifel ist der
Tod von Wissenschaft und gesellschaftskritischer Philosophie" (S. 520).
Darum war und ist er auch gegen jegliche Überführung von Philosophie in
Politik, wie sie von Robert Havemann und anderen gefordert wurde. Herbert Hörz
lehnt konsequent Politisierungen ab: „Politische Haltungen haben in der
Wissenschaft nicht über Wahrheit oder Falschheit
von Erkenntnissen
zu richten". (S. 208) Freilich macht sich der Philosoph auch
Gedanken über Gegenwart und Zukunft der Gesellschaft. So folgt er seit längerem
der von ihm entworfenen Vision einer Assoziation freier Individuen mit
sozialer Gerechtigkeit und ökologisch verträglichem Verhalten. Aber zunächst
vertritt er seine philosophischen Erkenntnisse und Überzeugungen heute
und hier - als Präsident der inzwischen geachteten Leibniz-Sozietät und
als noch immer international wirkender Philosoph... und Bücherschreiber:
„Wer einmal von der Wissenschaft ergriffen ist, den läßt sie nicht
mehr los. Es ist wie eine Sucht..." (S. 516) Das ist auch eine Antwort
auf die Frage, die wohl nicht nur der Rezensent sich stellt: Warum schreibt
der Autor über Wenden, wenn er doch sich und seiner Sache treu geblieben
ist? Herbert Hörz hat sich nicht gewendet und war schon gar nicht
Wendehals. Für sein Leben und wissenschaftliches Wirken vor, in und nach
der DDR trifft zu, was er einem Mitstreiter zu dessen „rundem"
Geburtstag geschrieben hat: „Sein Lebenslauf ist transparent und
nachzulesen. Er behielt seine ungebrochene Haltung nach der Wende, ohne
seine Biographie zu verleugnen und stand zu seinen Positionen. So ist er
kein Nostalgiker, aber auch keiner, der vorauseilenden Gehorsam
zeigt..." (S. 237) So ist er, der Herbert Hörz! Ich wünsche dem Buch
viele Leserinnen und Leser, dem Autor viel Kraft für weiteres kreatives
Philosophieren."
Buchbesprechung von Heinz
Engelstädter in: IWV Berichte, hrsg. v. Forschungsinstitut der IWVWW
e.V., November 2005, S. 81f.:
"Das Buch erschien im Trafo
Verlag Berlin, ISBN 3-89626-313-7. Es enthält den Lebensweg, Erfahrungen
und Wertungen dieses international bekannten Wissenschaftlers, der als
Präsident der Leibniz-Sozietät e.V. die deutsche Akademietradition
rechtmäßig fortsetzt.
Einleitend begründet er, warum er das Nachdenken über seine Lebenswenden
der Öffentlichkeit widmet. Hauptgrund ist seine ständige Sorge für
humanes wissenschaftliches und politisches Denken. Unter dieser
Voraussetzungen kann Wissenschaft gedeihen und günstiger zu neuen
Erkenntnissen gelangen. Fairness im Diskurs strittiger Probleme und
menschlicher persönlicher Umgang sind dafür unerlässlich.
Hörz hat dies in allen seinen Lebenswenden beherzigt. Die Quellen dafür
sieht er bereits in seiner Jugend- und Schulzeit, die er in Echterdingen und
Erfurt verbrachte. Vielseitig interessiert nimmt er in Jena das Studium von
Philosophie und Physik auf, das seinen weiteren Lebensweg bestimmt - seit 50
Jahren von seiner Gattin Helga begleitet. Engste persönliche Bindung,
gemeinsames Schaffen und politisches Engagement vereinen beide in allen
Lebenswenden.
In Anbetracht seiner Leistungen konnte Hörz seinem Lehrer Georg Klaus nach
Berlin folgen, als dem das Philosophische Institut der Humboldt-Universität
anvertraut wurde. Die wissenschaftliche Begabung ließ den jungen Akademiker
nach wenigen Jahren den Lehrstuhl "Philosophische Probleme der
Naturwissenschaften" an diesem Institut mit aufbauen - ein Unikat in
der wissenschaftlichen Landschaft. Seine Vorgänger und er entwickelten es
zu einer wissenschaftlichen Schule mit nationaler und internationaler
Ausstrahlungskraft.
Aus innerem Antrieb und wissenschaftlicher Verantwortung widmete sich Hörz
immer wieder komplizierten theoretischen Problemen und hielt seine
Mitarbeiter und Studenten zu gründlichem Nachdenken und methodologischem
Augenmaß an. Hörz schildert Erlebnisse und Risiken bei der Ausprägung
wissenschaftlicher Kreativität und umgeht dabei weder unerfreuliche
ideologisch- politische Hemmnisse, noch persönliche Missgunst und Neid.
Eingehend schildert er seinen theoretischen Erkenntnisgewinn, vor allem
hinsichtlich des dialektischen Determinismus, von Zufall und Gesetzen, der
Heuristik, der Selbstorganisation. Zahlreiche Publikationen entstanden,
deren humaner Aspekt deutlich zu erkennen ist. So erlangte er Ansehen in der
internationalen Wissenschaft.
Sehr aufschlussreich ist die Schilderung des wissenschaftlichen und
persönlichen Ertrags, den er aus der Begegnung mit Freunden und
Diskussionspartnern gewinnen konnte. Differenziert geht er ein auf E. Broda,
R.S. Cohen, P. Feyerabend, J. Götschl, R. Havemann, F. Hintze, W.
Hollitscher, L. Hornik, A. J. Iljin, G. Klaus, F. Klix, R. Löther, H-J.
Treder, S. Wollgast und K. Zweiling.
Im 6. Abschnitt des Buches schildert Hörz seine Position zu Philosophie und
Politik in der DDR. Auseinandersetzungen um die Entwicklung von Philosophie
unter "frühsozialistischen" Machtverhältnissen, Erfahrungen der
Profilierung von Wissenschaftseinrichtungen, Hoffnung und Repressionen,
Machtstabilisierung, Apologie, Systemimplosion und möglicher Neubeginn
werden kritisch und selbstkritisch dargestellt.
Danach behandelt er seinen Übergang an die Akademie der Wissenschaften der
DDR, den Anfang und das Ende des dortigen Bereichs "Philosophische
Fragen der Wissenschaftsentwicklung", konzeptionelle Grundlagen und
ihre Ergebnisse, Streit um die heuristische Funktion von Philosophie im
Problemrat, die "Abwicklung" dieses strategischen
Wissenschaftsbereichs und weitere Aktivitäten zwischen "Wende"
und Ende des Moratoriums für die Akademieinstitute.
Es folgen interessante Episoden aus dem Philosophenalltag. Sie berichten vom
familiären Geschehen, von Erfahrungen mit „Westkollegen" bis zum
Mauerbau, Studienaufenthalten in Moskau, wissenschaftlichen Tagungen in
Kühlungsborn, Tätigkeiten in der "Urania", von Hochschulreform
und Lehrbuchdiskussionen, von Debatten um Kybernetik als Philosophieersatz,
Parteiversammlungen, Generationsspezifik und Kunstgenuss. Die
DDR-Wissenschaftler beschämende Praxis zwischen Integritätskommission und
Auflösungsvertrag wird geschildert.
Die Abschnitte 10 und 11 der "Lebenswenden" behandeln die laut
Einigungsvertrag rechtmäßige Fortsetzung der deutschen Akademietradition
in der Leibniz-Sozietät e.V. und die Tätigkeit von H. Hörz als ihr
Präsident. Eine inhaltliche Zwischenbilanz wird gezogen. Sie geht auf das
Millenniumfieber in der Philosophie und deren intellektuelles und
gesellschaftliches Vermögen, Erfahrungen eines Philosophen, auf Zweifel als
Grundprinzip kreativen Handelns, notwendige Wechsel, auf Theoriekrise und
Freiheitsgewinn, Wahrheit und Toleranz ein. Die Bilanz gipfelt in der
Forderung nach einer neuen Aufklärung.
Den Schluss der Schrift bilden Anmerkungen zu den einzelnen Kapiteln und ein
Anhang.
Der außerordentliche Gedankenreichtum und die Ehrlichkeit der
"Lebenswenden" rechtfertigen, dass jeder, der genaueres über
Wissenschaftler und Wissenschaft in der DDR erfahren möchte, nicht auf die
Lektüre dieses Buches verzichten kann.
Aus persönlicher Kenntnis sei noch ein Wort hinzugefügt. Es betrifft das
stete Eintreten von Herbert Hörz für wissenschaftlich fundierte Politik.
Sein Standpunkt zu Werten - meinem Spezialgebiet - macht das besonders
deutlich. 1980 formulierte er, in der Wissenschaft gehe es um die
theoretischen Voraussetzungen für Bewusste Tätigkeit von Menschen, die
sich über ihre gesellschaftliche und politische Organisation vollziehen.
Hierzu gehöre die Gesetzeserkenntnis ebenso wie die Bestimmung der Ziele
bewussten Handelns, die sich in Werten ausdrücken lassen und zu Normen des
Handelns führen. Als Werte seien demnach gesellschaftlich relevante
Sachverhalte zu bezeichnen, die das erreichte materielle und kulturelle
Lebensniveau der Gesellschaft bestimmen und die Ziele der weiteren Erhöhung
angeben. Verhaltensnormen fungieren als Wertmaßstäbe und Regulatoren des
Handelns.
Weiter schrieb er: "Da es keine ewigen Werte gibt und Normen veralten
können, muss auf Grund der Erfahrungen eine ständige Überprüfung durch
die politische Organisation und eine Präzisierung der Werte und Normen
erfolgen...Letzten Endes kann nur die gesellschaftliche Praxis über den
Wert unserer theoretischen Vorstellungen entscheiden. Daher ist die bewusste
Tätigkeit immer Nutzung theoretischer Erkenntnisse. Auch der
gesellschaftliche Prozess muss ständig der theoretischen Analyse
unterliegen, weil nur so Voraussetzungen für die bessere Annäherung von
Prognose und Resultat, von Plan und Ergebnis zu erreichen sind." (H.
Hörz: Zufall - eine philosophische Untersuchung, Berlin 1980, S. 202)
Zu solchen Aussagen gehörten nicht nur damals Mut und festes Vertrauen in
die Wissenschaft als interdisziplinäres Projekt menschenwürdigen Handelns.
Dieser werttheoretische Ansatz -historischer Charakter von Werten und
Erkenntnis ihrer humanen Durchführung - versetzt bisherige Werttheorien aus
geglätteten Wertvorstellungen und Idealen, aus Machtansprüchen und
Ideologien in die wahren Konfliktfelder der sozialen Evolution. Dissipative
Strukturen gesellschaftlichen Denkens und Handelns werden erreicht und
folglich die konkret-historisch möglichen humanen Chancen.
Selbst wenn diese anfangs nur in "Nischen" des sozialen Umfelds zu
verwirklichen sind, haben sie größte Bedeutung für menschenwürdige
Moral, Politik und Vertrauen in der Welt. Das wissenschaftliche Problem der
Werte sind nicht nur humane regulative Ideen und deren Wandel, sondern die
weltweit menschenwürdige Realisierung. Diese universell tragfähige
Wertkompetenz entspricht dem Wesen der Wissenschaft und der persönlichen
Verantwortung von Wissenschaftlern. Die "Lebenswenden" des Herbert
Hörz belegen, wie er dem stets treu geblieben ist.
Besprechung von Rolf Löther in: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät, Bd. 80 (2005), S. 158-161:
REZENSION
von Claus Baumgart für ekz.Bibliotheksservice Reutlingen, November 2005:
Der Autor gehörte zu den bekanntesten und auch international
renommiertesten Philosophen der DDR. Er beschäftigte sich mit
Wissenschaftsphilosophie und -geschichte, arbeitete u. a. zu Heisenberg und
war Editor der Schriften von Helmholtz – und das ist nur ein Bruchteil der
Themen, mit denen sich dieser äußerst produktive Wissenschaftler
beschäftigte. Der Philosoph engagierte sich aber auch in Funktionen, als
Dekan, Sektionsdirektor, Vizepräsident der Akademie, in FDJ und
Gewerkschaft. Sehr interessant sind die vielen Porträts von Zeitgenossen,
die ihm auf seinem Weg in der DDR und im Ausland begegneten (Robert D. Cohen,
Paul Feyerabend, Robert Havemann, Walter Hollitscher, Georg Klaus usw.). Er
beschreibt die politischen und fachwissenschaftlichen Konflikte, denen er
sich stellen musste. So entsteht gleichsam eine Geschichte der vor allem an
der Akademie betriebenen Philosophie für fast die gesamte DDR-Zeil. Das Buch
ist Faktenspender und für philosophisch interessierte Leser äußerst
anregend. Leider fehlt ein Namensregister. Streitbar und Stoff für viele
Diskussionen bietend.
Buchvorstellung
von John Erpenbeck in: Leibniz Intern. Mitteilungen der Leibniz-Sozietät,
Nr. 27 v. 15. Juni 2005, S. 15f.:
"Eine eigene, historisch gewachsene,
teils großartige, teils sehr problematische Kultur
ist mit der Deutschen Demokratischen Republik untergegangen. Und mit
ihr, radikaler und vollständiger denn je bei deutschen
Wenden, die sie tragende Schicht von Künstlern, Wissenschaftlern, Intellektuellen.
Geblieben sind einige Vereinzelte,
die schon vor 1989 auch in der Bundesrepublik
zu geachtet waren, um sie einfach
ins Vergessen zu schicken, einige weltanschauungsneutrale Naturwissenschaftler
und Techniker, einige – wenige
– kreative Oppositionelle und Dissidenten,
und nicht wenige Anpasser und Opportunisten. Das wäre kaum problematisch,
würden sich letztere nicht Deutungshoheit der ostdeutschen Nachkriegsgeschichte
anmaßen.
Umso wichtiger sind Denk-, Erlebnis- und Erinnerungsbücher
wie das gerade von Herbert Hörz
vorgelegte. Herbert Hörz, einer der renommiertesten DDR-Philosophen, hat hier Zeugnis abgelegt. Darüber werden sich seine Freunde, zu denen auch ich mich zähle, freuen und seine Gegner von einst und
jetzt ärgern. Freuen und ärgern werden
sich aber auch Wissenschafts-, insbesondere Philosophiehistoriker:
Freuen, weil damit ein neues, umfangreiches, faktenberstendes und klar
positioniertes Material vorliegt, ärgern, weil sie möglicherweise ganz andere
Positionen und Blickwinkel bevorzugen.
Dabei ist dies vielleicht
der größte Vorzug des Buches: seine
hinterfragbare Objektivität und radikale Subjektivität. Hörz behauptet
nirgends, Ereignisse und Personen objektiv zu schildern. Aber er gibt auch
selten emotionale Werturteile ab. Er versucht
bei Freund und Feind Sachargumente
und Fakten vorzutragen, ohne Sympathien und Antipathien zu verschleiern.
Das mag man mögen, bedauern oder
gar ärgerlich finden, wie bei den diversen Seitenhieben auf Karl-Friedrich Wessel,
es ist jedoch insgesamt ein ehrliches, überprüfbares
Verfahren. Zwar führt es zuweilen
zu einer fast hölzernen Erzählweise,
besonders in den privateren Ausführungen
zu Lebensumständen, Ehe, Familie,
doch wird man auch hier durch die
Einsicht in eine typisch-untypische
ostdeutsche vom-Bademeisters-Sohn-zum-Akademiemitglied-Biographie, durch
sachlich höchst spannende Lebensumstände
entlohnt.
Tatsächlich liegt auf dieser persönlich-privaten Ebene der erste große
Gewinn der Lektüre. Hier zeigen sich nämlich die sehr
nachfühlbaren, die nahezu zwingenden
Voraussetzungen der Identifikation mit der DDR-Geschichte, ihren Wendungen
und Windungen. Bei aller hohen Intelligenz,
aller Strebsamkeit, allem Fleiß wäre
der Junge aus kleinsten Verhältnissen, aus einer achtköpfigen Familie, unter westdeutschen
Bedingungen kaum das geworden, was er war und ist. Viel zu oft wird
vergessen, dass das eigentliche Wunder
sozialistischer Entwicklungen nicht in der Umwälzung der ökonomischen
Verhältnisse lag, die freilich eine grundlegende Voraussetzung bildete,
sondern darin, dass sich für eine ganze, im Ganzen vordem chancenlose
Klasse traumhafte Arbeits- und Entwicklungsmöglichkeiten
eröffneten, welche die Klügsten und Begabtesten voll zu nutzen verstanden.
Nicht die Wirtschaftspolitik, die
Bildungspolitik war beispielhaft, wie die
PISA-Ergebnisse erst jüngst wieder schmerzhaft deutlich machten.
Der zweite, eher zu vermutende Gewinn liegt
in der minutiösen, teilweise sogar allzu detaillierten Schilderung
wissenschafts- und vor allem
philosophiehistorischer
Entwicklungen in dem kleinen, sich
real und ideologisch immer weiter einmauernden Land, im Wechselspiel historischer
Chancen und begrenzter Freiräume. Spannend wäre es, die von Manfred
Buhr so detailliert beschriebene Dialektik
von lebensphilosophischen und positivistischen Strömungen in der nichtmarxistischen
Philosophie einmal ohne Zorn und Eifer auf die marxistische zu übertragen. Dann würde sich schnell herausstellen, dass der stets
ehrabschneiderisch gemeinte und zuweilen politisch folgenreiche
Vorwurf des „Positivismus", der Herbert Hörz und Mitstreiter
immer wieder traf, ähnlich anmaßend
eingesetzt wurde wie lebensphilosophische Angriffe auf positivistische Bemühungen,
Philosophie als falsifizierbare Wissenschaft zu betreiben. Am
deutlichsten wird das vielleicht in den
ständigen Angriffen auf Hörz' Bemühen,
ein Bündnis zwischen Philosophie, Einzelwissenschaften und Einzelwissenschaftlern
zu schmieden. Die Idee, Philosophie auch als Verallgemeinerung und Heuristik
einzelwissenschaftlichen Vorgehens zu fassen, hat jedenfalls weitaus mehr
Realitätsgehalt als die Behauptung, Einzelwissenschaftler – Physiker, Chemiker,
Biologen, Psychologen usw. – seien im
Grunde zu dämlich, um zu verstehen
was sie da eigentlich methodologisch trieben und erst der Philosoph,
am besten in Gestalt des damals linkssektiererisch-charismatisch
auftretenden Peter Ruben, könne sie auf den Pfad marxistischer
Tugend führen.
Damit ist
ein dritter Lektüregewinn angedeutet. Herbert Hörz hat viele Ehrungen und
viele Schmähungen erfahren. Beides spricht für ihn. Die Ehrungen erhielt
er für fachliche Leistungen, nicht für
die Ausfüllung übertragener Ämter.
Im Gegenteil ist erstaunlich,
welche Produktivität er trotz
zahlreicher Leitungsaufgaben entwickelte.
Über zwanzig Monografien, mehr
als 500 Einzelveröffentlichungen sprechen,
im wahrsten Sinne des Wortes, Bände. Die
Schmähungen waren leider nicht weniger
zahlreich. Vielleicht hätte da
dem Autor ein schlechteres Gedächtnis mehr genützt. So verliert sich
manche Kontroverse im Kleinlichen. Andererseits hat er mit nahezu allen
bedeutenden und weniger bedeutenden Philosophen des Landes
Kontakt gehabt. Viele Namen liest
der später Geborene hier zum ersten Mal,
vielleicht auch zum letzten Mal, denn die
Bemühungen um eine gerechte, umfassende Aufarbeitung der Philosophiegeschichte
der DDR sind nicht eben zahlreich
und fast ausschließlich apologetisch.
Anrührend sind besonders die Porträts von
Weggefährten und Mitarbeitern, Förderern
und Freunden. In dem Kapitel „Weitere
Begegnungen" werden liebevoll wenn
auch zuweilen mit kritischem Abstand
Porträts von E. Broda, R. S. Cohen, P. Feyerabend, J. Götschl, R.
Havemann, F. Hintze, W. Hollitscher, L. Hornik,
A.J. lljin, G. Klaus, F. Klix, R. Löther, H.-J. Treder, S. Wollgast
und K. Zweiling gezeichnet. Eine Fülle weiterer Personen wird im übrigen
Text namhaft gemacht – ganz nebenbei ein
Who-is-Who der DDR-Philosophie.
Zuletzt sei
auf die großen, niemals abgeschworenen
sozialistischen Überzeugungen
verwiesen, die Hörz sowohl bei der
Darstellung von Instituts- und Akademiegeschichte
als auch bei der Analyse von Wende
und Abwicklung leiten. Nirgends
findet sich eine so detaillierte Darstellung der selbst gegen bundesdeutsches
Recht durchgeführten, also kriminellen Auflösung der Akademie der
Wissenschaften der DDR, nirgends auch
eine so kenntnisreiche Zusammenfassung
der Nachfolgebewegungen, die in
der Gründung und dem Ausbau der Leibniz-Sozietät kulminierten, deren in
geheimer Abstimmung gewählter Präsident Herbert Hörz heute ist.
Sein Buch fasst, unvollständig wie wir Freunde mit Blick auf die Zukunft
hoffen, das Lebenswerk eines der profiliertesten deutschen
Wissenschaftsphilosophen zusammen
und ist zugleich Aufforderung an andere,
deren Erfahrungen und Wissen mit
der Wende scheinbar entwertet wurde,
ihre Gedanken und Erinnerungen, Maximen
und Reflexionen aufzuschreiben, um die
Deutungshoheit nicht gänzlich den Abwicklern und Anpassern zu überlassen.
Nicht nur dem Autor, auch dem trafo Verlag, der half, diese Barrikade
wider den vergesslichen Zeitgeist zu errichten, sei für das Buch
ausdrücklich gedankt.