Ulrich van der Heyden in: die hochschule
Heft 1/2003, S. 259ff.
Eine ernsthafte, professionelle ‚Aufarbeitung' der Institutionsgeschichte
kann nur gelingen, wenn diese mit Insiderwissen (so lange es zur Verfügung
steht) ergänzt, abgeklärt oder sich in Diskussionen, die durchaus konträr
verlaufen können, in einer objektiven Sichtweise durchsetzt.
Dies trifft natürlich vor allem auf Vorgänge aus der jüngsten Geschichte
zu, wo noch Emotionen eine große Rolle spielen und bei der objektiven
Darstellung Probleme bereiten können. Deshalb ist eine Abgleichung des aus
den Archiven gewonnenen Wissens mit den individuellen Erfahrungen von
Akteuren eines zur Geschichte gewordenen Vorgangs so wichtig und in Bezug
auf die Forschungen der Geschichte der DDR – wo dies keineswegs zur
allgemeinen Methode historiographischen Forschens gehört – immer wieder
anzumahnen. Versuche, dieses Manko zu beseitigen bzw. Materialien, wie zu
Papier gebrachte Erinnerungsberichte, Interviews und dergleichen mehr für
spätere Forschungen zur Verfügung zu stellen, können nicht hoch genug
bewertet werden.
Die Leibniz-Sozietät hat sich schon des öfteren mit der Akademiegeschichte
befasst, was ja auch nahe liegt, stammen doch fast alle Mitglieder der
Sozietät aus der Akademie der Wissenschaften der DDR.
Auf einem Kolloquium im Juni 2000 stand die Geschichte der Akademie
von 1945 bis zur Abwicklung der Institute und die im Widerspruch zum
Einigungsvertrag stehenden Auflösung der Gelehrtengesellschaft 1991 bzw.
1992 im Mittelpunkt. Die dort gehaltenen Referate werden nunmehr einem
breiteren Lesepublikum zugänglich gemacht. Sich mit diesem Zeitraum zu
beschäftigen, wurde um so dringlicher, so das Selbstverständnis der
Autoren, als immer wieder Legenden verbreitet wurden und werden, die allein
das Ziel haben, die in der DDR erbrachten Leistungen von Wissenschaftlern zu
ignorieren oder zu diskreditieren.
Die Autoren aller Beiträge können sich in starkem Maße auf persönliche
Erfahrungen und Erlebnisse stützen. Sie haben die Akademie und die
Forschung an ,ihren' Instituten entscheidend mitgeprägt. Diese Berichte
stellen eine erste Annäherung an die Darstellung wissenschaftlicher,
sozialer und politischer Prozesse in der jüngeren Wissenschaftsgeschichte
dar. Unberücksichtig bleiben allerdings - neben den Anfängen in den ersten
Nachkriegsjahren - viele fachspezifische Entwicklungen in den einzelnen
Disziplinen.
Die Beiträge des vorgelegten Bandes sind zum größten Teil aus der
Sicht von Wissenschaftlern geschrieben, die der oberen oder mittleren
Leitungsebene angehörten. Sie stellen auch so etwas wie Bilanzen eines höchst
verdienstvollen und weiterhin gewürdigten - heute aber von manchen Leuten
eben ignorierten oder gar diskreditierten - Lebenswerkes der Autoren und
ihrer Kollegen dar.
Die Erforschung und Auseinandersetzung mit der DDR-Akademiegeschichte ist für
die Leibniz-Sozietät nicht abgeschlossen, sondern soll in den kommenden
Jahren ihre Fortsetzung finden. Einstweilen findet man in diesem Buch neben
allgemeinen Reminiszenzen zur Akademiegeschichte unter anderem Ausführungen
des ehemaligen Präsidenten W. Scheler über die gesellschaftliche und
staatliche Integration der Akademie, von U. Hofmann über die Planung und
Organisation der Forschung an der Akademie sowie von J. Herrmann über die
Wechselbeziehungen zwischen der Tätigkeit der Klassen, der
Forschungen und den internationalen Wissenschaftsbeziehungen. Einige der
Beiträge gehen auf speziellere Fragestellungen ein. So beleuchtet A. Laube
die akademische Forschung und die Kooperationsbeziehungen am Beispiel der
Reformationsgeschichte. W. Schirmer untersucht die Frage, ob
Akademie-Institute angewandte Forschung betreiben sollt. K. F. Alexander
stellt die Grundlagenforschung und Technologie-Entwicklung im
Zentralinstitut für Elektronenphysik in den Jahren 1969 bis 1989 vor. P.
Oehme bietet Erfahrungen aus einem Akademie-Industrie-Komplex an.
Interessante Einblicke vermittelt C. Grote über die deutsch-deutsche
Wissenschaftsbeziehungen der Akademie. Forschungserfolge und -lücken zur
antiken Kulturgeschichte an der Akademie werden von R. Müller benannt.
Insgesamt gesehen wird im jedem der genannten aber auch in den hier nicht
extra aufgeführten Beiträgen deutlich, was alles an wissenschaftlichen
Erfahrungen und Leistungen mit der Abwicklung der Akademie der
Wissenschaften der DDR abgebrochen und verlorengegangen ist. Für den
Wissenschaftshistoriker werden mit den zu Papier gebrachten Wortmeldungen
einzigartige Quellen bereitgestellt. Auf eine Fortführung der
‚Aufarbeitung' der jüngsten Akademiegeschichte kann man gespannt sein.