[= Schriftenreihe des Hedwig Hinze-Instituts Bremen, Bd. 7], trafo verlag, 2003, 215 S., Abb., ISBN 3-89626-239-4, EUR 22,80
Besprechung von Gabriele Metzler in: Vierteljahresschrift für Sozial- und
Wirtschaftsgeschichte, 92. Band, Heft 2 (2005), S. 219:
"In ihrer Bremer Magisterarbeit untersucht Dauks die öffentliche
Debatte über das Problem der Kinderarbeit, die 1903 für den gewerblichen
Bereich eine umfassende gesetzliche Regulierung erfuhr, 1911 auch für den
hauswirtschaftlichen Bereich. Das Thema war bis zur Verabschiedung des
Gesetzes von 1903 überaus präsent, trat danach jedoch in den Hintergrund,
obwohl damit längst nicht alle Missstände behoben waren.
Dauks konzentriert sich in ihrer Analyse auf vier gesellschaftliche
Gruppen: die bürgerlichen Sozialreformer, organisiert in der
„Gesellschaft für soziale Reform"; die Lehrer im „Deutschen
Lehrerverein"; die Gewerkschaften sowie die bürgerliche
Frauenbewegung, vor allem den „Bund Deutscher Frauenvereine". In
einer präzisen Auswertung der Zeitschriften dieser Organisationen kann
Dauks zeigen, welche Konjunkturen das Thema Kinderarbeit erlebte: Zuerst von
den Sozialreformern in der „Sozialen Praxis" angesprochen, nahmen
sich später Lehrer und Frauenvereine dieser Frage an. Sie blieben mit ihren
Forderungen stets gemäßigt. In den Diskussionen auf Seiten der
Gewerkschaften spielte es keine zentrale Rolle, sondern bildete dort ein
Element einer umfassenderen, auf grundsätzliche Verbesserungen im
Arbeitsleben ausgerichteten Programmatik; es waren auch eher die
sozialdemokratischen Frauen, die die Kinderarbeit thematisierten und nicht
die von Dauks untersuchten Autoren des „Centralblattes".
Mit ihrer Auswahl kann Dauks - auch wenn sie in dieser Hinsicht die
Erkenntnischancen ihrer Untersuchung nicht voll ausgeschöpft hat - die
Mehrdimensionalität sozialpolitischer Diskussions- und Aushandlungsprozesse
andeuten: Ihre Darstellung etwa der Beiträge der bürgerlichen
Sozialreformer beleuchtet einmal mehr, wie weit die
„Verwissenschaftlichung des Sozialen" (L. Raphael) um die
Jahrhundertwende bereits vorangeschritten war. Mit sozialpolitischen
Initiativen verbanden sich freilich oftmals auch professionelle
Eigeninteressen, wie die Positionen der bürgerlichen Frauenbewegung (die in
der Aufsicht über die Durchführung des Gesetzes Betätigungschancen für
Frauen sah) und der Lehrer verdeutlichen. Auch die Rolle und Bedeutung von
solchen pressure groups in der Sozialpolitik des Kaiserreichs wird
erkennbar, wenngleich sie von Dauks nicht systematisch thematisiert werden.
Abgerundet wird die Studie von einem ausführlichen, für die weitere
Forschung nützlichen Anhang mit - gelegentlich sehr knappen -
Kurzbiographien der zeitgenössischen Autoren, statistischen Angaben sowie
einer umfassenden Bibliographie der ausgewerteten Zeitschriftenbeiträge.
HSOZKULT 10.8.2003, Rez. v. Wolfgang Ayaß:
"Seit einigen Jahren ist im Kasseler "Archiv der deutschen
Frauenbewegung" ein Exemplar der 1998 an der Universität Bremen
angenommenen Geschichtsmagisterarbeit von Sigrid Dauks "Kinderarbeit im
Spiegel sozialpolitischer Zeitschriften (1890-1920)" zugänglich. Jetzt
ist diese Arbeit mit etwas unpräziser gewordenem Titel in Buchform in der
Schriftenreihe des Hedwig Hintze-Instituts Bremen erschienen. In dieser
Schriftenreihe sollen unter anderem herausragende Examensarbeiten veröffentlicht
werden.
Nach Bismarcks Sturz waren die aus der preußischen Gesetzgebung
stammenden und im Kern seit 1853 geltenden Jugendarbeitsschutzbestimmungen
1891 in einer Novelle zur Gewerbeordnung, dem sog.
"Arbeiterschutzgesetz", etwas verbessert worden. Nun war
Fabrikarbeit für alle schulpflichtigen Kinder verboten. Außerhalb der
Fabriken, also im Handwerk, der Hausindustrie und insbesondere in der Land-
und Forstwirtschaft, war Kinderarbeit weiterhin ausschließlich aufgrund der
Schulpflicht eingeschränkt. Die
Bestimmungen der Reichsgewerbeordnung wurden notdürftig durch einige lokale
Polizeiverordnungen ergänzt, die insbesondere das verbreitete Zeitungs-, Brötchen-
und Milchaustragen durch Kinder am frühen Morgen untersagten.
Das Gesetz, betreffend Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben, vom 30. März 1903, das sog. "Kinderschutzgesetz", brachte erhebliche
Veränderungen. Auf formaler Ebene wurde erstmals ein eigenständiges Gesetz
zur Regelung der Kinderarbeit erlassen, die einschlägigen Bestimmungen des
Titel VII der Reichsgewerbeordnung
blieben jedoch weiterhin gültig. Wichtiger waren die inhaltlichen
Neuerungen: Nun erstreckte sich der gesetzliche Jugendarbeitsschutz erstmals
über die Fabriksphäre hinaus auf weitere Gewerbezweige, für die
allerdings unterschiedliche Altersgrenzen festgelegt waren. So galt
beispielsweise im Fuhrwerksbetrieb ein Beschäftigungsverbot für Kinder
unter 14 Jahren, während im Handel schon 12-Jährige arbeiten durften. Darüber
hinaus enthielt das "Kinderschutzgesetz" zwei wesentliche Einschränkungen:
Nach wie vor war die (nicht als Gewerbe geltende) Land- und Forstwirtschaft
nicht erfasst, was sich im Übrigen bis 1960 nicht änderte. Außerdem
unterschied das Gesetz von 1903 – erstmals – zwischen fremden und
eigenen Kindern. Für "eigene Kinder", worunter auch Nichten und
Neffen verstanden wurden, galten deutlich abgeschwächte Schutzvorschriften.
Letzte Reste dieser Unterscheidung finden sich noch heute im
Jugendarbeitsschutzgesetz, das nicht für die "Beschäftigung durch
Personensorgeberechtigte im Familienhaushalt" gilt (§ 1).
Die öffentlichen Auseinandersetzungen um das
"Kinderschutzgesetz" des Jahres 1903 bilden den Kern des Buchs von
Sigrid Dauks. Diese Auseinandersetzung ist die letzte umfassende öffentliche
Debatte zum Thema Kinderarbeit in Deutschland. Während der Weimarer
Republik konnten keine weiteren Verbesserungen in Bezug auf die Kinderarbeit
erreicht werden; das 1903 verabschiedete Gesetz blieb bis zum "Gesetz
über Kinderarbeit und über die Arbeitszeit der Jugendlichen" vom 30.
April 1938 gültig. Sigrid Dauks untersucht die Stellung von vier
gesellschaftlichen Gruppen: der bürgerlichen Sozialreformer, der Lehrer,
der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung und schließlich der bürgerlichen
Frauenbewegung. Leider bleibt die Arbeitgeberseite unberücksichtigt. Über
die Stellung der industriellen bzw. landwirtschaftlichen
Interessenvereinigungen erfahren wir bei Sigrid Dauks fast nichts.
In vier Kapiteln stellt Dauks jeweils die ausgewählten Zeitschriften und
die dahinter stehenden Vereine und Verbände vor, um anschließend eine
eingehende Analyse der Positionen und spezifischen Vorstöße zu
unternehmen. Die Fragestellungen sind: Wann und wie wurde das Thema
Kinderarbeit aufgenommen? Wie wurde berichtet und diskutiert? Welche
Positionen und Lösungsvorschläge wurden vertreten? Wie sind die
verschiedenen Gruppen selbst auf dem Gebiet des Kinderarbeitsschutzes aktiv
geworden? (S. 13).
Eigentlich müsste man befürchten, dass bei einem solchen, quer zum
zeitlichen Ablauf stehenden Gliederungsprinzip jeder chronologische
Zusammenhang verloren geht. Doch Sigrid Dauks beginnt ihre Auswertung
klugerweise mit der "Sozialen Praxis", der mit gut 300 Artikeln
ertragreichsten Zeitschrift, die sich als "wahre Fundgrube" (S.
36) erwies. Im Spiegel dieser Artikel kann die Autorin somit bereits in
diesem frühen Kapitel die wichtigsten empirischen Untersuchungen vorstellen
wie die 1898 durchgeführte Regierungsenquete über die gewerbliche
Kinderarbeit. Die Zeitschrift der "Gesellschaft für Soziale
Reform" berichtete auch ausführlich über die verschiedenen Petitionen
und die Etappen des Gesetzgebungsverfahrens. Nach Verabschiedung des
Gesetzes schufen die vielen Übergangs- und Ausnahrneregelungen und die Tätigkeit
der Gewerbeinspektoren Aniass für weitere Meldungen und Berichte. Insgesamt
hielt die Redaktion der "Sozialen Praxis" das Gesetz von 1903 für
"eine hochbedeutsame Tat der Sozialreform" (S. 45).
Die deutschen Volksschullehrer kümmerten sich erst spät um das
Thema Kinderarbeit Während der Kinderarbeitsschutzdebatten der Bismarckzeit
war von ihnen wenig zu hören. Dies änderte sich ab Mitte der 1890er Jahre
schnell und nachhaltig. Jetzt traten die Volksschullehrer bzw. ihre
Vereinigungen mit Kongressbeschlüssen und eigenen empirischen
Lokaluntersuchungen an die Öffentlichkeit. Die von Sigrid Dauks
ausgewertete "Pädagogische Zeitung" schenkte der Kinderarbeit große
Aufmerksamkeit. Die standespolitische Zielsetzung der Aufwertung der
Volksschule - und damit des Prestiges der Lehrerschaft - spielte eine unübersehbare
Rolle, Ein Name taucht in dem Buch immer wieder auf: Konrad Agahd, jener
unermüdliche Rixdorfer Volksschullehrer, der unzählige Artikel für die
verschiedensten Zeitschriften verfasste und selbst eine eigene empirische
Untersuchung zur Arbeit von Schulkindern durchführte. Agahd war innerhalb
der deutschen Lehrerschaft neben dem Hamburger Oberlehrer – und
linksliberalen Reichstagsabgeordneten – Johannes Halben der wichtigste Kämpfer
gegen die Kinderarbeit. Agahd wird gern als "Vater" des
Kinderschutzgesetzes bezeichnet, wobei allerdings unklar bleibt, was nun
jenseits seiner weitläufigen Publizistik Agahds konkreter Beitrag zu diesem
Gesetz gewesen sein soll, das er zwar insgesamt für einen Fortschritt
hielt, jedoch auch in wesentlichen Punkten, wie der
fehlenden Einbeziehung der Landwirtschaft, ablehnte.
Enttäuschend blieb für Sigrid Dauks die Gewerkschaftsseite. Das Verbot der
Kinderarbeit war zwar eine Jahrzehnte alte Programmforderung der
Sozialdemokratie; das Erfurter Programm des Jahres 1891 forderte radikal das
Verbot jeder "Erwerbsarbeit" (also nicht nur
"Gewerbsarbeit") von Kindern. Trotzdem konnte Dauks im
ausgewerteten "Correspondenzblatt der Generalkommission der
Gewerkschaften Deutschlands" in erster Linie nur während des
Gesetzgebungsverfahrens des "Kinderschutzgesetzes" eine
dichte Berichterstattung finden. Selbst die Tätigkeit der ab 1906 gegründeten
sozialdemokratischen Kinderschutzkommissionen thematisierte die
Gewerkschaftszeitung nur selten.
In der bürgerlichen Frauenbewegung wurde – so Dauks – das
Problem der Kinderarbeit "nur phasenweise und punktuei!
wahrgenommen" (S. 139). In den Forderungen blieb man gemäßigt. In
keiner der untersuchten Zeitschriften ("Die Frau", "Die
Frauenbewegung", "Neue Bahnen") bzw. von keinem der dahinter
stehenden Vereine wurde ein generelles Verbot der Kinderarbeit gefördert.
Nichtsdestoweniger fällt auf, dass wichtige Protagonistinnen der
Frauenbewegung wie Alice Salomon sich früh mit dem Thema (Frauen-)Arbeitsschutz
bzw. Kinderarbeit befassten. Das Gesetzgebungsverfahren selbst verfolgte die
Frauenbewegung mit großer Aufmerksamkeit, nicht zuletzt, weil eine
Erweiterung des Jugendarbeitsschutzes nicht ohne Ausbau der kontrollierenden
Gewerbeaufsicht erfolgen konnte. Hier hoffte die Frauenbewegung auf
Schaffung qualifizierter Frauenarbeitsplätze. Wie in allen untersuchten
Zeitschriften stellt Sigrid Dauks auch bei den Frauenzeitschriften nach der
Verabschiedung des Gesetzes ein deutlich zurückgehendes Interesse am Thema
Kinderarbeit fest.
Der ausführliche Anhang enthält drei aus zeitgenössischen Untersuchungen
zusammengestellte Tabellen über die quantitative Verbreitung der
Kinderarbeit, leider nicht immer vollständige Kurzbiographien der Autoren
der Zeitschriftenartikel, ein Quellen- und Literaturverzeichnis und schließlich
eine vollständige Auflistung der über 500 in den
ausgewerteten Zeitschriften gefundenen Artikel.
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte, 6. Band (2004), S. 289:
"Die interessante Studie behandelt die sich um 1900 entwickelnde
öffentliche Debatte über Arbeitsverhältnisse, die in einer Grauzone
außerhalb der großen Industrie angesiedelt waren und in denen oft Kinder
der Erwerbsarbeit nachgingen. Da in der bisherigen Forschungsliteratur
durchweg die Fabrikarbeit von Kindern thematisiert wurde, wird hier
Pionierarbeit geleistet. Träger der Diskussion über Kinderarbeit
vorwiegend in Land- und Hauswirtschaft waren vor allem Volksschullehrer, die
organisierte Arbeiterbewegung, bürgerliche Sozialreformer und die
bürgerliche Frauenbewegung. Nachgezeichnetund analysiert sind die Debatten
in der Zeitschrift >Soziale Praxis< Sprachrohr der Gesellschaft für
Soziale Reform, in der >Pädagogischen Zeitung<, Verbandsorgan des
Deutschen Lehrervereins, im >Correspondenzblatt< der Generalkommission
der Gewerkschaften Deutschlands und in der Presse der Frauenbewegung. Die
Aktivitäten dieser Blätter sind durchweg darauf gerichtet, zur Bekämpfung
der Kinderarbeit legislatives Eingreifen des Staates einzufordern. Über die
Analyse der Berichterstattung hinaus bietet die Arbeit – unter anderem in
einem statistischen Anhang, zahlreiche Informationen zum Ausmaß der
Kinderarbeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Aufschlussreich sind auch die
Kurzbiographien der an der Debatte beteiligten Zeitschriftenherausgeber und
Herausgeberinnen sowie der Autorinnen und Autoren." HOLGER BÖNING,
BREMEN