Preuße
(Hrsg.) Preuße
(Hrsg.)[=
Autobiographien, Bd. 22], trafo verlag 2005, 173, ISBN 3-89626-228-9,
13,80 EUR
Rezension von Aron Ziegelschmitt,
08.08.2005:
Seit Olims Zeiten widerspricht die biographische Erfahrung des
Einzelnen der nationalen Geschichtsdichtung. Schon Homer soll Tatsachen
unterdrückt, Motive neu interpretiert und menschliche Handlungen in ein künstliches
Kausalnetz verflochten haben, um wahnhafte Taten rechtfertigen oder
zumindest erklären zu können. Für das jüngst vergangene Jahrhundert geht
der Vorwurf des tendenziösen Geschichtsfalsifikats, welches die
Zeitgenossen raffiniert manipuliert, an alle politisch handelnden Seiten. Am
Ende steht die offizielle Geschichtsbewältigung der Bundesrepublik. Der
arbeitslose angegraute TV-Konsument etwa sieht im Schulprogramm das
schwarz-weiße Zerrbild seiner DDR-Vergangenheit und der rüstige Rentner
zappt sich befremdet durch Guido Knops lugubre Allusionen.
Was aber bleibt dem Teenager, der den schulischen Geschichtsunterricht nur mühevoll
mit dem elterlichen Erlebnisbericht zu korrelieren vermag? Nichts als die
Lektüre von Bildbänden, Dokumentensammlungen und autobiographischem
Material. Die historischen Sequenzen im Fernsehen können uns immerhin die
Stimmung der Zeit vermitteln, sofern es unkommentierte Stummfilm- oder
Originaltonkonserven sind.
Günther Preuße weiß, was unsere Jugend braucht. Er hat zwölf „Rückblicke
auf das Jahr 1945“ gesammelt, sechs davon teils kollektive Berichte damals
Jugendlicher und fünf Kindheitserinnerungen in Form authentischer, ungeschönter
Tonbandprotokolle und den Brief eines über achtzigjährigen Greises. Aus
diesen deutschen Reminiszenzen hat er ein ehrliches Buch geformt, mit
Vorwort, Zeittafel des Jahres 45 und Glossar, hilfreich für das Verständnis
ganz unbegreiflicher Geschehnisse. Zeittypische Erinnerungsfotos fehlen
ebenso wenig wie künstlerische Illustrationen. Jeder Erinnerung hat der
Protokollant eine knappe Biographie vorangestellt, die trotz nüchterner Kürze
in anrührender Weise seine Sympathie für die Interviewten und ihre
Schicksale kundtut. Die Kollektion ist nicht unbedingt repräsentativ –
sieben Ostlebensläufen und drei Vertriebenenschicksalen stehen nur drei
Westbiographien gegenüber, darunter die eines Zonenflüchtlings und eines
Westberliners. Wie nicht anders zu erwarten, reflektieren die Erzähler die
Vergangenheit aus dem Kontext ihres weiteren Lebensweges, der förmlich übersät
war mit Interpretationsangeboten. Trotzdem wird der aufmerksame Leser sehr
nachdenklich, wenn er von den höchst realen Endzeitschicksalen die
moralphilosophischen Begriffe abstrahiert, wie sie uns die mit Worthülsen
überbaute Gegenwart darbietet. Der Herausgeber allerdings hat in seiner
Einleitung sorgsam alles gemieden, was das Leid jener Jugend mit
Vorstellungen von Rache, Strafe und Vergeltung verknüpfen könnte.
Günther Preuße sei bedankt für diese wertvolle kleine Sammlung von
Zeitzeugenstimmen, rechtzeitig aufgezeichnet vor dem endgültigen
Verstummen.