Elviera Thiedemann
“Es kam ein langer lichter Herbst. Tagebuch der Wendezeit 1989/90”,
trafo verlag, Berlin 2000, 2. Aufl., 133 S., ISBN 3-89626-223-8
Rezensionen:
- Zs. Die Brücke 6/1999, S. 110
...der großartige wie bescheidene Band [ist] eine Bestätigung für die
Arkribie und Geduld ..., mit der er aufgezeichnet wurde. Vermutlich ist
dieser band ziemlich einmalig, besonders natürlich wegen seines Inhalts,
aber auch durch die Intensität der Darstellung dieser 16 Monate in der
Geschichte der DDR...
[der Band] leistet einen entscheidenden Beitrag zu einer schonungslosen
Kritik an einer verfehlten Vereinigungspolitik der politischen Klasse der
BRD. Das Tagebuch legt die Sensoren frei, die nötig sind, um die Ereignisse
der WENDE in ihrer ganzen Tiefe zu erfassen. Mit E. Th. Arbeit ist genau das
möglich. Gilt es doch, besonders das Persönliche vor den "Rittern der
Geschichtsklitterei" in Schutz zu nehmen....
Viele einfache Bürger der DDR haben, besonnen und
ehrlich, versucht, die Angelegenheiten der Gesellschaft mit den
persönlichen und familiären zu verbinden, was ihnen nicht immer möglich
war. Darunter litten besonders viele Frauen, aber nicht nur Lehrerinnen (wie
ETh} Aber es gelingt unserer Autorin beispielhaft, den Lesern zu
ermöglichen, alle bewussten und unbewussten Erschütterungen bis in profane
und intime Bereiche nachzuempfinden. Das Buch gestattet auch denen,
die solch ein Tagebuch nicht geführt haben, die Chronologie der eigenen
Erlebnisse mit den Aufzeichnungen EThs zu vergleichen und eigene
Erinnerungen leichter zu reproduzieren.
Nach wie vor haben viele Menschen aus der DDR Schwierigkeiten, sich in alle
Finessen der anderen Gesellschaft einzuordnen, sich anzupassen. „So fand
sich plötzlich ein ganzes Volk auf der Anklagebank oder zumindest auf dem
Müli-haufen der Geschichte..." (Fritz Vilmar). Das hat sich bei vielen
DDR-Bürgern, trotz gewisser materieller Zugewinne als das grosse Unbehagen
manifestiert. Es waren viele, scheinbar unbedeutende Dinge, materielle und
mentale, die den Menschen verloren gegangen sind. Viele Menschen sind erst
in der Phase des Verlustes fähig, die Grosse des Verlustes der Werte zu
schätzen. Deshalb tun sie wenig, um dem Verlust vorzubeugen.
So ist es auch mit dem Wendetagebuch der Elviera Thiedemann. Wer es
nicht gelesen hat, weiss nicht, was er verloren hat.
- Utopie kreativ, Nr. 113,
März 2000
Die Aufarbeitung der DDR-Geschichte ist nicht allein Sache der Historiker
oder eigens dazu berufener Kommissionen. Auch Menschen anderer Profession
tragen mitunter Wertvolles dazu bei, indem sie ganz subjektiv, ohne Anspruch
auf Allgemeingültigkeit und wissenschaftliche Objektivität, über ihr in
der DDR gelebtes Leben berichten. Hauptsache, ihr Rückblick ist wahr und
unverfälscht - und sie verstehen zu schreiben! Beides trifft auf das Buch
von Elviera Thiedemann zu und macht es zu einer interessanten Lektüre. Der
Form nach handelt es sich bei diesem Text um ein Tagebuch, einen
Zeitzeugenbericht. Er wurde geschrieben, um »mit dem gewaltigen
gesellschaftlichen Umbruch fertig zu werden, also nicht mit dem Gedanken an
eine spätere Veröffentlichung« (S. 12). Was den Reiz dieser sehr
persönlich gehaltenen Aufzeichnungen ausmacht, ist ihre besondere
Perspektive, denn die Autorin kommt aus der »erzgebirgischen Provinz«. Und
dort, im »Tal der Ahnungslosen«, weit ab von den Zentren der »friedlichen
Revolution«, erlebte sie auch -ähnlich wie 200 Jahre zuvor Jean Paul im Fichtelgebirge
- den Zusammenbruch der bisherigen Ordnung und das Ende der DDR. Sie
berichtet darüber, indem sie beschreibt, wie sich ihr Leben in den Monaten
zwischen August 1989 und Dezember 1990 veränderte. Auf diese Weise entsteht
ein, in seiner Detailtreue und Authentizität, beindruckendes Bild des
historischen Umbruchs - freilich ein sehr persönliches und subjektives
Bild, nicht frei von Naivität, aber ein erlebtes und nicht im nachhinein
konstruiertes. Dies, vor allem anderen, macht das Buch, lesenswert.
Der Ort des Geschehens ist klein, überschaubar und von der medialen
Außenwelt so gut wie abgeschnitten. »Es sprach sich nicht allzuviel herum,
Westfernsehen war nicht zu empfangen und die Stasi spielte im täglichen
Leben ... keine wesentliche Rolle« (S. 11). Jeder kannte jeden und für das
Zusammenleben gab es feste Regeln. Die Autorin wirkte hier als
Schuldirektorin. Das heißt in heutiger Lesart, sie gehörte der örtlichen
Funktionselite an. Im Rückblick sieht sie sich aber vor allem »dienend«,
und zwar im doppelten Sinne: »im eigenen Bewußtsein einer großen Idee, im
Bewußtsein anderer der Macht« (S. 11). Diese Ambivalenz bestimmt dann auch
ihre Rezeption der »Wende«, die für sie Befreiung und Ruin zugleich
bedeutete, Gewinn und Verlust, Ende und Anfang. Ihr Tagebuch zeugt davon.
Bedingt durch den Beruf der Autorin, vermittelt das Buch auch so manchen
Einblick in den Schulalltag der DDR. Szenen täglicher Routine, Probleme und
Konflikte, ihre Bewältigung ebenso wie ihre Verdrängung, werden dem Leser
nahe gebracht. Gerade die von der Autorin in schlichter Erzählweise
wiedergegebenen kleinen Begebenheiten des Schulalltags, die mitunter grotesk
anmutenden Situationen und Lächerlichkeiten, geben einen tiefen Einblick in
das Leben, so wie es war, mit allen seinen Hoffnungen und Illusionen,
Schönheiten und Befriedigungen, aber eben auch Ängsten und Verzweiflungen.
Der nach der Wende mächtig in die Kritik geratene Bereich der
»Volksbildung« wird uns hier aus Insider-Sicht nahe gebracht, im Grunde
genommen positiv bewertet, aber keinesfalls unkritisch. Auch räumt die
Autorin mit dem Vorurteil auf, alle schulischen Angelegenheiten seien durch
die SED bestimmt gewesen und es hätte keine Freiräume gegeben. Diese gab
es sehr wohl, aber sie wurden eben sehr verschieden genutzt! Man muß ihr
wohl zustimmen in dieser Frage, wenn auch nicht im Ganzen, was die Bewertung
des DDR-Schulsystems anbetrifft. Als »bittere Erkenntnis« formuliert die
Autorin heute: »Absolute Linientreue über viele Jahre war gleichbedeutend
mit der Verschüttung des gesunden Menschenverstandes. Denn es gab andere,
die für uns dachten« (S. 39).
Eine dritte Säule des Buches stellt der Bericht aus dem Privatleben dar,
die Schilderung der Ehe, die Beschreibung der Sorgen um die Kinder, die
Fragmente einer Liebesbeziehung, wodurch die Ehe auf die Zerreißprobe
gestellt wurde u.a.m. Diese sehr private, intime Dimension des Buches
erhöht seinen Wert als persönliches Dokument ganz außerordentlich. Die
Ehrlichkeit und Bedingungslosigkeit des Ganzen wird dadurch noch
unterstrichen, ebenso wie der Tagebuchcharakter der Publikation, denn der
historische Umbruch wird letztlich privat erlebt, gebrochen durch das
persönliche Schicksal eines jeden einzelnen. Fritz
Vilmar betont im Vorwort, daß das Zusammenwachsen der Deutschen in Ost und
West erst dann gelingen werde, wenn die Westdeutschen das »schwierige Leben
und Wirken« der Menschen in der DDR und deren Erfahrungen mit der »Wende«
wirklich »ernst nehmen« (S, 8).
Sigrid Busch, Ulrich Busch
- Zeitschrift für Politikwissenschaft, Nr. 1/2002, S. 237f.
Auszug: Die Autorin präsentiert ihr persönliches Tagebuch, das sie in der
Zeit der Wende nicht mit dem Gedanken an eine spätere Veröffentlichung
geschrieben hat, sondern nur um die gesellschaftlichen Umbrüche besser zu
verkraften. Es setzt am 19. August 1989 ein und endet am 1. Januar 1991. Die
Aufzeichnungen bieten ein breites Spektrum aus dem Alltag in der Endzeit der
DDR.