“Das Alphatier – aus dem Leben der Gertrud Duby-Blom”

von Simone Hantsch

trafo verlag 2000, ISBN 3-89626-176-2

 

Rezensionen:

Monika Melchert für: Argonautenschiff 11/2002, Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft, Berlin und Mainz e.V., Aufbau-Verlag, Berlin, November 2002

Wir danken dem Aufbau-Verlag für die Vorabdruck-Genehmigung!

“Berlin am Ende des Jahres 1947; ein fiktives Gespräch zweier Frauen, die beide die Jahre des Nationalsozialismus zuerst in Paris und danach im mexikanischen Exil überstanden hatten; parallele und später so unterschiedliche Lebensstationen: „Anna, ich möchte zurück nach Mexiko. Dort habe ich bereits eine Aufgabe. Ich werde mich weiter um die Lacandonen kümmern. Ich habe mein neues Leben schon begonnen, als ihr noch auf eure Rückkehr gewartet habt. Das Land, in das ihr zurückgekehrt seid, ist eure Heimat. Hier sind eure Wurzeln, meine nicht. Ich wollte euch nicht im Stich lassen. Aber was soll ich hier? – Anna nickt: Ja, Gertrud, ich verstehe dich. Geh zurück nach Mexiko!“ (S. 123) Da ist die Hälfte des Lebens gelebt. Ob Anna Seghers zu diesem Zeitpunkt nicht auch viel lieber wieder zurückgegangen wäre nach Mexiko, diese Frage bleibt offen. Gertrud Duby-Blom jedenfalls macht ihren Vorsatz wahr und lebt seit Frühjahr 1948 bis zu ihrem Tod erneut in der mexikanischen Wahlheimat, als Fotografin, praktische Ethnologin, als Fremdenführerin und Abenteurerin. In der sowjetischen Besatzungszone ist manches anders, als die Remigranten es sich in Mexiko erhofft hatten.

Diese Frau (1901-1993), geboren als Tochter eines Gemeindepfarrers Lörtscher im Berner Oberland, hatte eine behütete Kindheit. Die junge Schweizerin erwirbt 1921 ein Diplom für Sozialarbeit an der Frauenschule für Sozialarbeit in Zürich, engagiert sich links und wird Mitglied der Schweizer Sozialdemokratischen Partei. Später wird sie Präsidentin der Frauenbewegung der SP Schweiz. 1925 heiratet sie Kurt Düby. 1934 dann, auf dem Internationalen Frauenkongreß gegen Krieg und Faschismus in Paris, wird Gertrud Duby zur Sekretärin des neugegründeten Frauenkomitees gewählt. Wo immer sie in ihrem Leben Aufgaben erwarten, die ihren vollen Einsatz verlangen, nimmt sie die Herausforderung an. Ihre Herkunft zeichnet ihr ein Leben in Mexiko nicht vor, wohl aber eines voller sozialem Engagement für die Benachteiligten und an den Rand der Gesellschaft Gedrängten. Wie Tausende andere emigrierte Ausländer wird Gertrud Duby kurz vor Ausbruch des zweiten Weltkriegs von den Franzosen eingesperrt, und zwar im Internierungslager Rieucros in Südfrankreich. Dort trifft sie unter anderen Mitgefangenen Lenka Reinerova und begegnet auch ihrer Freundin Steffi Spira wieder. Als die Freilassung gelingt, reist sie über die Schweiz nach Genua: Ziel ist ein Land in Übersee, das die Flüchtlinge aufzunehmen bereit ist. Auf der Schiffsreise, die auch sie über New York führt, beginnt ihr Traum von Mexiko von ihr Besitz zu ergreifen: sie liest während der Überfahrt das Buch „Mexique, terre indienne“ von Jacques Soustelle (Paris 1936). In Mexiko beteiligt sie sich an den Aktivitäten des Heinrich-Heine-Clubs, in dem sich die deutschen Antifaschisten zusammenfinden, Anna Seghers, Ludwig Renn, Bodo Uhse, Egon Erwin Kisch, Walter Janka, die Freundinnen Steffi und Lenka. Gertrud Duby hält hier einen Vortrag über „Frauen in der mexikanischen Revolution“; sie schreibt für die Exilpresse, macht sich mit dem Land vertraut. Im Kontakt mit Bodo Uhse und der „Liga für deutsche Kultur“ organisieren sie die Einreise weiterer kommunistischer Flüchtlinge. Gertrud Duby liebt Mexiko. Sie bewundert die tropischen Landschaften und die reiche Architektur der alten Städte, die dichten Wälder und riesigen Vulkane. Immer wieder besteigt sie den Popocatepetl, begleitet auch deutsche Freunde als Führerin auf den Berg, darunter die Jankas und Pierre, den Sohn von Anna Seghers.

1943 dann wird das Jahr der größten Herausforderung: Sie kommt erstmals in den Bundesstaat Chiapas, wo die meisten Nachkommen der Mayas leben, der Ureinwohner Mexikos. Sie kann sich von San Cristóbal de las Casas aus der ersten offiziellen Expedition in die Selva Lacandona anschließen. Fortan wird Gertrud Duby immer wieder zum Volk der Lacandonen zurückkehren, sie schließt Freundschaft mit einzelnen Familien, verfolgt die Lebenswege dieser Menschen, betreut sie, wie sie nur kann. In diese wunderbaren, doch abgelegenen Regenwälder der Region gelangt man nur per Flugzeug oder auf beschwerlichen Wegen mit den Pferden. Sie lernt den Archäologen Frans Blom kennen, gebürtiger Däne, später wird sie seine Frau. Mit Frans Blom bereitet sie immer neue Expeditionen in die Selva Lacandona vor, sie fotografiert und dokumentiert die natürlichen wie die sozialen Existenzbedingungen der Indigenas. Unablässig ist sie mit ihrer AgfaBox unterwegs. Von der gleichen Faszination durch das Volk der Maya und ihre uralte Kultur spricht die Erzählung „Die Heimkehr des verlorenen Volkes“, die Anna Seghers um 1957/58 schreibt und in ihren Zyklus „Die Kraft der Schwachen“ aufnimmt. Beide Frauen, im Exilland Mexiko erstmals mit dieser großen Tradition konfrontiert, begeisterten sich für das alte Kulturvolk mit seinen Zeugnissen aus der präkolumbianischen Vergangenheit, den eindrucksvollen Pyramiden und Bauwerken im Urwald. Dieses Volk, in seiner Geschichte seit der Eroberung durch die Spanier mehrfach hin- und hergestoßen und verdrängt, bekam unter Präsident Cárdenas endlich sein angestammtes Land zurück. So endet die Erzählung von Anna Seghers mit den Sätzen: „Der Häuptling sagte: ’Hier ist es. Wir bleiben.’ Sie ließen sich endgültig nieder, und sie wohnen  auch heute dort.“ Eine Heimkehr, der symbolischer Wert zukommt.

Das Buch von Simone Hantsch bietet zahlreiche aussagestarke Fotografien aus mehreren Jahrzehnten. An dieser Stelle sei ausdrücklich an den verdienstvollen Band des Instituto de Investigaciones Interculturales Germano-Mexicanas erinnert: „Mexiko, das woltemperierte Exil“, herausgegeben von Renata von Hanffstengel, Cecilia Tercero Vasconcelos und Silke Wehner Franco, Mexiko 1995. Auch darin kann man einige der wunderbaren Bilder Gertrud Duby-Bloms vom Alltagsleben der Lacandonen finden: beim Fischen, Weben, Korbflechten; Frauen, Kinder, Alte. Bald wird sie die „Mutter der Lacandonen“ genannt. 1950 erwerben die Bloms in San Cristóbal ein Landhaus, dem Gertrud den Namen „Na Bolom“ gibt, was in der Sprache der Mayas „Haus des Jaguar“ bedeutet. Dort richtet sie eine Art Sozialstation ein, wo die Ergebnisse ihrer jahrelangen Forschungen zusammengetragen und dokumentiert werden, wo auch einige ihrer Schützlinge Zuflucht finden können. Gemeinsam mit Frans Blom arbeitet sie an dem zweibändigen Werk „La Selva Lacandona“. Gertrud Duby-Blom bleibt immer eine unruhige, umtriebige Frau. Auch nach dem Tod ihres Mannes und im hohen Alter läßt sie nicht nach, ihr Lebenswerk weiterzuverfolgen. Sie trägt zusammen, sammelt und archiviert. Es entsteht der Bild-Text-Band „Chiapas indígenas“, sie schreibt zahllose Zeitungsartikel, macht Fotoausstellungen u.a. in Mexiko, New York und 1990 auch in Hamburg. Man ehrt sie mit mexikanischen und internationalen Preisen; so wird sie 1991 in Stockholm von den Vereinten Nationen im Rahmen des United Nations Environment Programme (UNEP) für ihr Engagement um den Regenwald in die Reihen der „Global 500“ aufgenommen Nach ihrem Tod besteht das Haus „Na Bolom“ als „Biosphärenreservat Gertrude Duby Blom“ weiter. Dennoch resümierte Gertrud Duby-Blom am Ende nicht ohne Bitterkeit: „Mein Leben ist übervoll von verlorenen Kämpfen: Gekämpft gegen die Nazis ... und jetzt beleben sich die faschistischen Tendenzen auf dem ganzen Planeten.“ Zu jener Bitterkeit trugen nicht zuletzt die ständigen Querelen unter den Linken bei, die sie ihr Leben lang erfahren hat, ja auch Vorwürfe, sie selbst habe während der Kriegszeit für gegnerische Geheimdienste gearbeitet – Vorwürfe, die mit ihr viele weitere Westemigranten getroffen hatten. Gertrud Duby-Blom hatte lange Zeit Kontakte zu Paul Merker, in diesem Umfeld waren alle gefährdet. Auch deshalb wollte sie einst nicht im Nachkriegseuropa bleiben.

Die Autorin und Lateinamerikawissenschaftlerin Simone Hantsch hat in der Reihe „Biographien europäischer Antifaschisten“, in der der trafo Verlag Berlin seit nunmehr vier Jahren bereits eine ansehnliche Zahl von biographischen Studien vorlegte, das Leben und Wirken der Gertrud Duby-Blom gut recherchiert und in einer erzählerischen Diktion so aufbereitet, daß es sich mit Vergnügen und Gewinn durch das 20. Jahrhundert hindurch verfolgen läßt. Zur Vertiefung unserer Kenntnisse über die Jahre des antifaschistischen Exils in Mexiko leistet die Studie einen guten Dienst. Im dokumentarischen Anhang des Bandes stellt die Verfasserin eine ausführliche Bibliographie der Artikel Gertrud Duby-Bloms von 1941 bis 1987 zur Verfügung, was den Benutzerwert beträchtlich erhöht. In den Jahren bis Kriegsende waren es vor allem Veröffentlichungen in der „Demokratischen Post“ und in „Freies Deutschland“, später in der mexikanischen Presse sowie in Fachzeitschriften.

Wenige Tage nach Gertrud Duby-Bloms Tod am 23. Dezember 1993 beginnt am 1. Januar 1994 mit der Besetzung der Stadt San Cristóbal de las Casas der große Aufstand der Zapatistas in Chiapas – Signal der Ermutigung und ein Zeichen des Fortwirkens dieser bedeutenden Frau.”

 Monika Melchert