Oliver Reschke:
“Der Kampf der Nationalsozialisten um den roten Friedrichshain (1925–1933)”,
trafo verlag 2004, 250 S., zahlr. Abb., ISBN 3-89626-145-2, 26,80 EUR
REZENSIONEN
Klartext, Nr. 11/2004, Berlin, S. 2:
"Rezension:
Nazis im roten Friedrichshain. Das
Buch von Oliver Reschke ist eine erste lokalhistorische Studie über das
Vordringen der NSDAP bis 1933 im Arbeiterbezirk Friedrichshain. Gestützt
auf ein umfangreiches Quellenstudium, über 800 Quellen werden angeführt,
wird hier ein Thema bearbeitet, dessen Aktualität nicht zu übersehen ist.
Schon in „Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung" Nr. 1/2002
machte der Autor auf sich und seinen Forschungsgegenstand aufmerksam.
Aus der Stadtliteratur ragen bisher der Roman von Karl Veken „Auf Tod und
Leben" (1961), der rund um den „Baltenplatz", den heutigen
Bersarinplatz, und das berüchtigte Keglerheim (Mörderkeller) in der
Petersburger Straße 94 angesiedelt ist, und John Staves Erinnerungen und
Beobachtungen „Stube und Küche" (1987) heraus. Es ist das Verdienst
von Oliver Reschke, nunmehr mit einer profunden Forschungsarbeit
wissenschaftlich zu belegen, dass in Friedrichshain, einem für die
Arbeiterbewegung geschichtsträchtigen Berliner Bezirk, seitens der NSDAP
„Der Kampf um Berlin" zu einem großen Teil ausgetragen wurde. In der
Einleitung findet sich der Hinweis: Während über den Widerstandskampf
zwischen 1933-45 mehrere Forschungsarbeiten vorliegen, besteht auf dem
Gebiet der regionalen Faschismusforschung bis 1933 ein Defizit für Berlin.
Nachgewiesen wird auch, dass in den Arbeiterbezirken Friedrichshain, Wedding
und Neukölln die Spaltung der Arbeiterbewegung das Vordringen der Nazis
begünstigte. Diese drei Bezirke waren in ihrer sozialen und politischen
Struktur zu dieser Zeit vergleichbar.
Der Absatz zur Frage der Finanzierung der NSDAP (S. 113) regt zur Diskussion
dieses Themas erneut an. Man kann sich der Hoffnung des Autors anschließen,
dass seine Studie auch einen Vergleich anregt, wie sich das Vordringen der
Nazis in den bürgerlichen Bezirken Berlins Steglitz oder Zehlendorf
vollzogen hat."
Werner Ruch
Rezension von Lothar Berthold,
Berlin, 15.08.2005:
Am 25.
November 2004 fand mitten im traditionsreichen Berliner Bezirk
Friedrichshain, nämlich
im bekannten Literatur-Cafe „Sibylle" in der Karl-Marx-Allee, eine
der dort üblichen und
löblichen Buchvorstellungen statt. Meine Frau und ich haben zusammen mit
rund 30 alten Friedrichshainern und anderen Besuchern an dieser
interessanten Veranstaltung teilgenommen.
Oliver Reschke, ein noch jüngerer Historiker, der bei Laurenz Demps an der
Humboldt-Universität zu Berlin studiert und examiniert hatte, stellte sein
Buch „Der Kampf der Nationalsozialisten um den roten Friedrichshain 1925–
1933" vor. Schon in der BzG 1/2002 hatte
er in einem Aufsatz „Die Kampfzeit der NSDAP im roten Friedrichshain"
in Kurzfassung seine
Forschungsergebnisse vorgestellt.
Nun gab es in der „Sibylle" eine lebhafte Diskussion. Fragen und
Antworten wechselten ab. Alte
Friedrichshainer Genossen bestätigten die Forschungsergebnisse Reschkes,
gaben Ratschläge, noch Fehlendes zu ergänzen (für eine wünschenswerte
zweite Auflage) und ermunterten
den Autor und den Verlag, der Friedrichshainer Studie weitere über das
Wirken der
Faschisten vor und nach 1933 in den anderen Berliner Bezirken folgen zu
lassen. Das wurde vor allem auch durch den
Hinweis Reschkes in der Aussprache angeregt, dass der Nazivormarsch
vor 1933 hauptsächlich in den Bezirken erfolgreich war, in denen in erster
Linie die Bourgeoisie dominierte wie z.B. in Zehlendorf.
Doch nun zu
Reschkes Buch. Der Verfasser hat im trafo verlag dr. wolfgang weist ein
historisch wichtiges, gründliches und in dieser Zeit hoch aktuelles Werk
veröffentlicht. Fast minutiös
zeichnet er nach, wie die braunen Nazibanden in der zweiten Hälfte der
Weimarer Republik in einem bedeutenden Berliner Bezirk, einem traditionellen
Arbeiterbezirk, nämlich im Friedrichshain, sich „an die Macht" zu
putschen versuchten. Terror, Mord und Totschlag zeichneten
ihren Weg. „Straßen, Plätze und Häuser sind stumme Zeugen dramatischer Ereignisse
dieser Zeit", schreibt der Autor in seinem Vorwort. Oliver Reschke ist
diese Straßen und Plätze mit dem Stadtplan in der Hand abgelaufen, hat die
Häuser und ehemaligen Vereinslokale der Nazis (so sie heute noch
existieren) aufgespürt, von denen aus sie den blutigen „Kampf um
Berlin" führten - und den sie im roten Friedrichshain doch nicht gewinnen konnten.
So ist eine
eindrucksvolle Arbeit über die Strategie und Taktik der braunen Bataillone
des Monopolkapitals
entstanden, über ihren Auf- und Ausbau und über die Dummheit Tausender,
die nicht nur den Trommeln der SA-Banden folgten, selber zu Trommlern
wurden, sondern die diesen Scharlatanen aufsaßen bis zum bitteren Ende.
Reschke beginnt
mit einer Charakteristik des Berliner Stadtbezirks Friedrichshain und mit
dem Aufbau, der Gliederung und Organisation der NSDAP in Berlin. Als
chronologischen Ausgangspunkt wählt er das Jahr 1925, das Jahr, da die
relative Stabilisierung des Kapitalismus zu greifen begann und noch die großbürgerlichen
Parteien der Weimarer
Republik
zusammen mit der SPD und großen Teilen der Gewerkschaften, zusammen mit der
Polizei und der Reichswehr für die Sicherung der Ausbeutergesellschaft des
Monopolkapitals und Junkertums ausreichten.
Dem Neuaufbau der NSDAP und ihrer Formationen vor allem auch im
Friedrichshain widmet Reschke
gründliche Aufmerksamkeit. Dieser Aufbau der Sektionen und Ortsgruppen der
NSDAP und der SA-Stürme vollzog sich langsam und mühevoll. Er scheiterte völlig,
als die Nazis mit der Gründung von so genannten Betriebszellen in Berliner
Großbetriebe einzudringen suchten.
Dieses Bild änderte
sich gleichsam schlagartig nach dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, der
zunehmenden Kraft der Arbeiterorganisationen, vor allem der Kommunistischen
Partei Deutschlands, und der damit verbundenen rasch anwachsenden
politischen Krise des kapitalistischen
Herrschaftssystems. Jetzt entwickelten sich und wuchsen - direkt gefördert durch
Monopolkapital und Junkertum - die Nazipartei und ihre Schläger- und Terrororganisationen,
vor allem die SA, zu wahren Machtinstrumenten der herrschenden Klasse. Das
galt vor allen Dingen für die deutsche Hauptstadt und ihre Arbeiterbezirke,
in erster Linie für den roten Friedrichshain.
Oliver Reschke zeichnet diesen Nazivormarsch in Berlin unter Führung
des Gauleiter Goebbels, den Auf- und
Ausbau der berüchtigten SA-Stürme einschließlich ihrer Mitgliederzahlen
genau nach. Umfangreich dokumentiert er Aktivitäten, Auftreten und
Erscheinen der NSDAP im Friedrichshain. Völlig zu Recht widmet er der so
genannten Saalschlacht im „Saalbau Friedrichshain", auf der Walter
Ulbricht, damals politischer Sekretär
des Berliner KPD-Bezirks, in einer Naziversammlung als Diskussionsredner
auftrat und der Demagogie der Hitlerpartei das Programm der KPD zur nationalen
und sozialen Befreiung des deutschen Volkes entgegensetzte. Die von der KPD
im Mai 1932 initiierte Antifaschistische
Aktion als kämpferische breite Massenbewegung aller Nazigegner verlegte den
Nazis den Weg.
Anmerkungen,
Personenverzeichnis sowie Quellen- und Literaturverzeichnis und andere Hinweise
schließen sich einer Schlußbetrachtung an.
Auf vier Karten
(Auszüge aus Stadtplänen) dokumentiert der Autor außerdem die Verkehrsund
Sturmlokale der NSDAP von April 1926 bis Ende 1932, in denen die Nazis sich
zusammenrotteten. Er hat die Straßen aufgesucht, in denen die SA-Mörder
Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter jagten und oft auch
meuchelten. Ein ausführlicher Kommentar erläutert die Kartenausschnitte.
Auf einer Karte stellt er die Verkehrslokale der KPD denen der Nazis im
September 1932 gegenüber.
Ein kleiner
Bildteil beendet den Band. Leider ist die Wiedergabe der Bilder zum großen
Teil von geringer
Qualität.
Den „Kampf um die Straße" in Berlin konnten die Nazis im
Friedrichshain vor 1933 nicht gewinnen.
Das weist Oliver Reschke akribisch nach. Selbst auf dem Höhepunkt ihrer
Erfolge, anläßlich der Reichstagswahlen am 31 Juli 1932, als die NSDAP in
ganz Deutschland zur stärksten Partei
wurde, blieben sie im Friedrichshain weit zurück. Nach Oliver Reschke
erreichte die KPD 38,5 Prozent und die SPD 28,1 Prozent der Stimmen. Noch
viel deutlicher zeigte sich dieses Ergebnis bei der letzten Reichstagswahl
vor der Errichtung der faschistischen Diktatur. Am 6. November 1932 blieb
die KPD mit 31 Prozent abermals stärkste Kraft in Berlin. Die NSDAP sackte
auf 26 Prozent ab. Die SPD erhielt nur 23,3 Prozent der Stimmen. Im
Friedrichshain aber stimmten 43,3 Prozent der Wähler für die Kommunisten,
für die Sozialdemokraten 23,9 Prozent und für die Nazis nur noch 20
Prozent. Und selbst bei den
Reichstagswahlen am 5. März 1933, über einen Monat nach der Errichtung der
Hitlerdiktatur, eine Woche nach dem von den Nazis organisierten
Reichstagsbrand, als der nun staatlich gelenkte Mordterror vor allem gegen
die Kommunisten schon offen wütete,
blieb die KPD im Friedrichshain noch mit großem Abstand stärkste Partei.
Das alles
und viel mehr ist bei Oliver Reschke über den Vormarsch der Nazis im
Friedrichshain nachzulesen. Es ist auch nachzulesen, wie sich die Arbeiter
gegen den Naziterror
zur Wehr setzten, wie Kommunisten Sozialdemokraten zu Hilfe kamen und auch umgekehrt,
und wie sie siegreich waren, wenn sie gemeinsam handelten. So
ist das Buch „Der Kampf der Nationalsozialisten um den roten
Friedrichshain 1925 -1933" nicht nur ein interessantes und lehrreiches Geschichtswerk.
Es ist zugleich eine Warnung für die Gegenwart. Wieder rotten sich
Nazis in Berlin zusammen. Wieder genehmigen
Gerichte ihre Aufzüge. Und wieder schützt die Polizei Faschisten gegen Antifaschisten
- und das alles „rechtsstaatlich"!
Noch ist das überschaubar,
nicht lebensbedrohlich. Doch Oliver Reschke zeigt beweiskräftig, ja
geradezu minutiös und beschwörend, wie aus kleinen Anfängen die völkermordende
Diktatur des Hitlerfaschismus erwuchs.
Wehret den Anfängen, springt dem Leser aus jeder Seite entgegen. Deshalb
Dank an den Autor, seinen Mentor und den Verleger. Als ich mir die Schlußfolgerungen
aus Reschkes Buch durch den Kopf gehen ließ, kamen mir die Worte Bertolt
Brechts in den Sinn, der 1941 im Epilog seines „Der aufhaltsame Aufstieg
des Arturo Ui" über Hitler geschrieben hatte:
„So was hätt
einmal fast die Welt regiert! Die Völker wurden seiner Herr, jedoch Daß
keiner uns zu früh da triumphiert -Der
Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch."
Und damit kommt
der Rezensent zu dem, was er an diesem Buch vermißt, leider vermißt.
Welche gesellschaftlichen Kräfte standen hinter der Nazibewegung? Wessen Klasseninteresse
vertrat sie? Oder, einfacher und deutlicher gefragt: Wer bezahlte eigentlich
diese SA-Terrorbanden, ihre Uniformen, ihre Aufmärsche und Quartiere, ihre
Ausbildung und ihre
Waffen, ihren wahrhaft gigantischen Propagandaapparat? Mit welcher Absicht
und zu welchem Zweck?
„Spätestens an
dieser Stelle muß die Frage nach der Finanzierung der aufwendigen
Propagandaaktionen gestellt sowie die generelle Parteifinanzierung
betrachtet werden." Reschke
fragt das in seinem Buch zu Recht. Doch die Betrachtung ist allzu kurz,
wenig gründlich, lückenhaft und schöpft nicht aus den Quellen, sondern
nur aus Literatur zweiter Hand.
Vor einem halben
Jahrhundert habe ich über „Das Programm der KPD zur nationalen und sozialen
Befreiung des deutschen Volkes vom August 1930" promoviert. Schon
damals hatte ich
mich mit dem Klassencharakter der Hitlerbewegung und der Finanzierung der
Nazipartei durch Großkapital und Junkertum zu beschäftigen. Die
Quellenlage war zu jener Zeit außerordentlich kompliziert, viele Quellen
mir damals nicht zugänglich. Das ist heute natürlich ganz anders. Und
trotzdem konnte ich die folgenden Geldgeber, deutsche und internationale, für
die Hitlerbewegung ermitteln, hier nur in Auswahl und in alphabetischer
Folge: Borsig, Bosch, Deterding, du Pont, Hugenberg, Kirdorf, Kreuger,
Krupp, Morgan, Poensgen, Rockefeiler, Schacht, von Schröder, Siemens,
Springorum, Thyssen, Vogler, Zangen; die Hohenzollern und andere Adlige, den
Reichsverband der deutschen Industrie. Inzwischen gibt es darüber eine
umfangreiche Literatur. Jeder Interessierte kann das selber nachlesen. Ich
erwähne das nur deshalb, weil es interessant und lehrreich zugleich ist,
wie die Vorläufer der Finanzkapitalisten, die Vorgänger der Unternehmerbände
von heute, ihre Nazis schon damals vorsorglich und rechtzeitig bezahlten.
Oliver Reschke kann seine Betrachtungen bei einer hoffentlich notwendig
werdenden zweiten Auflage sicher ohne großen Zeitaufwand ergänzen.
Das gilt auch für andere Fragen, die man in einer solchen Arbeit gründlicher
berücksichtigt wünschte. So ist unverständlich,
warum die Quellen des konsequentesten Gegners der Nazibewegung,
die Quellen der Kommunistischen Partei Deutschlands, so wenig ausgewertet
wurden. Das gilt nicht nur für die Zeitungen und Zeitschriften der KPD und
der von ihr beeinflußten Massenorganisationen. Das gilt auch für die
Arbeiten von Wilhelm Pieck. Walter Ulbricht und Wilhelm Fiorin, die in
dieser Reihenfolge in dem vom Autor behandelten Zeitraum Politische Sekretäre
des Bezirks Berlin-Brandenburg-Lausitz-Grenzmark
der KPD waren und den Kampf der Kommunisten und ihrer Verbündeten gegen die
vordringenden Nazis leiteten. Das gilt für die energischen Anstrengungen
der KPD-Führung, Erscheinungen des individuellen Terrors in der
Arbeiterbewegung als Antwort auf den Mordterror der Nazis als der Entfaltung
des antifaschistischen Massenkampfes und der Einheitsfrontpolitik der KPD
schädlich zurückzuweisen.
Und so gibt
es noch weitere Fragen an den Autor, auf die der Leser gerade heute gern
eine Antwort hätte, und Hinweise für
eine solche Antwort. Der Rezensent hat sie mit dem Autor besprochen.
Abschließend
bleibt aber festzuhalten: Der trafo verlag dr. wolfgang weist hat mit der
Arbeit von Oliver Reschke ein wichtiges Buch in ansprechender Form veröffentlicht.
Er hat damit zugleich einem noch jüngeren Historiker den Weg in die
geschichtswissenschaftliche Literatur geöffnet. Dafür ist dem Verleger
ausdrücklich zu danken, und es ist ihm Mut zu machen, mit dem Reschke-Titel
eine Reihe zu eröffnen.
Oliver Reschke
sollte also beim Thema bleiben. Er selber weist in seiner Arbeit darauf hin,
wie sich in
anderen Berliner Stadtbezirken der Aufbau der Naziorganisationen vor 1933 vollzog
und wo vor allem sie ihre Hauptbasen hatten und wie der Nazivormarsch mit
der sozialen Zusammensetzung in diesen
Stadtbezirken zusammenhing. Für neue Forschungsarbeiten gibt es also noch
ein weites Feld.