ISBN 3-89626-144-4, trafo verlag 1999, EUR 19,80
Besprechung von
Jochanan Trilse-Finkelstein in: Ossietzky, Nr. 8/2005:
"Dem Menschen ein Helfer
Er begrüßte die Oktoberrevolution und war einer der ersten Kritiker Stalins. Er lebte für die Revolution, haßte aber die revolutionäre Phrase. Den Zweifel hielt er für eine Tugend des radikalen Sozialisten.« Die Rede ist von einem fast vergessenen Mann: Jacob Walcher. Die 1998 im Berliner Trafo-Verlag erschienene Biographie, der diese Sätze entnommen sind, hätte viele Leser verdient. Zu wünschen ist, daß die von Michael Lukas und Nicole Seidel gestaltete Walcher-Ausstellung, die kürzlich im Brecht-Weigel-Haus in Buckow gezeigt wurde und nun nach Dresden und Augsburg wandern soll, dazu beitragen wird, die Lebensleistung dieses deutschen Revolutionärs bekannter zu machen.
In Bertolt Brechts Arbeitsjournal und seinen Briefen wird Jacob Walcher (1887-1970) oft erwähnt, zum Beispiel 1948: »nachm(ittags) bei jakob walcher, der über die schwierige lage spricht, nüchtern und positiv wie gewöhnlich.« Und wie Brecht holten sich viele andere kluge Leute Rat bei dem aus Oberschwaben stammenden Metallarbeiter und Gewerkschafter, der 1910 nach Berlin gekommen und hier vor allem bei Rosa Luxemburg in die politische Lehre gegangen war.
25 Jahre später, im Exil, ging Willy Brandt bei Jacob Walcher in die politische Lehre. Ihre Wege trennten sich in den Nachkriegsjahren, und sie entzweiten sich. Aber noch 1982 schrieb Brandt sehr achtungsvoll über seinen Mentor von damals: »Walcher war für mich einer der kernigsten Repräsentanten der alten deutschen Arbeiterbewegung, selbstsicher und kulturbewußt, kein blutleerer Intellektueller, sondern ein intelligenter und vitaler Facharbeiter. Man kann sich heute kaum mehr vorstellen, welche Bildung, auch klassischer Prägung, und welches Kunstverständnis sich dieser Typus eines klassenbewußt-en Arbeiters angeeignet hatte.« Man kann das umso weniger, wenn man die Profile heutiger Politiker auf dem Bildschirm sieht.
Die eingangs zitierte Biographie von Ernst Stock und Karl Walcher zeigt als tiefen Einschnitt in Walchers Leben den Ersten Weltkrieg mit dem historischen Versagen der SPD. Auch Walcher sollte Soldat werden, wurde aber zum Glück dienstuntauglich geschrieben. So konnte er sich mit ganzer Kraft in die politischen Kämpfe einbringen. Angesichts der auch durch Mitschuld der SPD verlorenen Revolution von 1918 streckte er bald seine Fühler zur KPD aus, auf ihrem Gründungsparteitag saß er im Präsidium. Beim Zweiten Kongreß der Kommunistischen Internationale in Moskau trug er so prinzipielle Standpunkte vor, daß sogar Lenin Beifall klatschte.
Nach der Rückkehr nach Deutschland, wo die revolutionären Erhebungsversuche beendet waren, begann für ihn die Sisyphosarbeit des politischen Alltags, besonders in Gewerkschaftsfragen. Ihm war die Einheit der Gewerkschaften besonders wichtig. Dadurch geriet er immer wieder zwischen alle politischen Stühle. 1928 aus der KPD ausgeschlossen, begründete er mit anderen die Kommunistische Partei Opposition (KPO). Auch dort zerstritt er sich und ging zur SAPD. Als 1933 die geeinigte Rechte über die zerstrittene Linke gesiegt hatte und viele Linke ins Exil gingen um zu überleben, war er zunächst in Paris als Reichssekretär der SAPD tätig. 1941 konnte er in die USA fliehen, wo er wieder als Dreher und Metallarbeiter arbeitete.
1946 ging er nach Ostberlin, um am Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft mitzuwirken – aber nicht nach dem Stalin-Modell. Abermals wurde er aus der Partei, diesmal der SED, ausgeschlossen, obwohl sich Wilhelm Pieck für ihn verwandte. Er starb im Alter von 83 Jahren im Frieden des Menschen, der bis zuletzt dem Menschen ein Helfer war, wie sein Freund Hermann Budzislawski am 4.7.1970 in der Weltbühne schrieb. Die Hoffnung auf eine lernfähige sozialistische Bewegung hatte er nie aufgegeben."