Norbert Grohs

 

Unterwegs zu Schatzinseln

 

Poesie und Philosophie

 

 

Besprechungen

2019, 2. Auflage, 158 S., ISBN 978-3-86465-120-5, 12,80 EUR

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Geführte Schatzsuche. Besprechung von Hubert Laitko, Juni 2019

 

Norbert Grohs: Unterwegs zu Schatzinseln. Poesie und Philosophie. Trafo Literaturverlag: Berlin 2019. 158 S.

 

Die Schätze, die es hier zu suchen und zu finden gilt, sind nichtalltägliche Ein- und Aussichten zu einer unabgrenzbaren Fülle von Lebensfragen, vielgestaltig wie das Leben selbst, verbunden aber durch das vitale Interesse, das ihnen eignet. Wer sich auf sie einlässt, wird nolens volens in ihre Erwägung einbezogen und wird sich so oder so zu ihnen verhalten – nur gleichgültige Distanz ist kaum möglich. Man kommt den Intentionen des Autors vielleicht näher, wenn man sich diese Lebensfragen in einem räumlichen Bild vorstellt, als Orte auf der geistigen und moralischen Landkarte der Gegenwart, hier und da nach ihrer thematischen Verwandtschaft locker zusammengeballt zu Schatzinseln im ewig unruhigen, in ständigem Wandel befindlichen Meer der Bedeutungen. Die Leserschaft ist aufgerufen zum Geocaching in dieser mentalen Landschaft, und die Boote, die für die Suche bereitstehen, sind die von Norbert Grohs geschaffenen Gedankendichtungen.  

Was man bei dieser Suche erwarten kann, mag ein fast willkürlich gewähltes Beispiel deutlich machen: Es unterscheidet sich beträchtlich, ob wir jemanden / erklärtermaßen akzeptieren trotz seines Andersseins, / seines Ungewöhnlichen, oder wirklich respektieren / in diesem Eigentümlichen und uns oft Unbekannten. / In einem Falle lassen wir einander schlicht nur gelten. / Im andern stellen wir uns aufgeschlossen und sehr mutig / einem Bild des Eigenen und Fremden, das zu schärfen ist [91]. Das Reden von Toleranz ist längst zum Gemeinplatz geworden, erst recht, seitdem Migration als ein gravierendes gesellschaftliches Problem empfunden wird, aber wo findet man schon einmal eine solche Differenzierung, die bequeme Indifferenz von einer Toleranz unterscheidet, die unter die Haut geht und die den Finger ausdrücklich auf diesen Unterschied legt? Das Exempel sollte zeigen, dass Grohs es seiner Leserschaft nicht leicht macht, auch wenn es manchmal auf den ersten Blick so scheinen könnte. Passives Rezipieren wird dieser Dichtung nicht gerecht, aktives Reflektieren ist gefordert.

Die hier vereinten Texte gehören zum Typus Gedankendichtung, die seit dem 19.Jh. – unter dem Stichwort Gedankenlyrik im Kontrast zur Erlebnislyrik – als eigenständiges literarisches Genre gilt (Almut Todorow 1980). Lange führte sie im Kosmos der Literatur eher eine Randexistenz, neuerdings zeigt sich diese Gattung in einem noch zaghaften Aufschwung, für den sich auch die vorliegende Sammlung von Gedichten als ein Symptom verstehen lässt. Es sind Abstrakta wie Denken, Wissen, Lernen, Liebe, Ehe, Zufriedenheit, Vertrauen und viele andere mehr, oft schon in den Überschriften der einzelnen Gedichte adressiert, die betrachtet und interpretiert werden und sämtlich Aspekte der conditio humana bedeuten. Viele von ihnen entstammen dem Alltagsleben, jede und jeder kann damit etwas anfangen. Andere wie biosozial, ontogenetisch oder selbstreflexiv aber sind theoretische Begriffe oder philosophische Kategorien, die auf einen akademischen Hintergrund Bezug nehmen.

So nähern sich die hier vorgestellten Texte – mehr oder weniger, unwillkürlich oder gewollt – dem Typus des (philosophischen) Lehrgedichts, das mit dem ausgehenden 18.Jh. seine große Zeit hinter sich zu haben schien, nun aber, mit dem Aufschwung der Gedankendichtung, zu einer Renaissance ansetzt. Marion Poschmann gab ihrem Gedichtband Geliehene Landschaften (2016) den Untertitel Lehrgedichte und Elegien. Unvermeidlich ist mit der Form des Lehrgedichts ein pädagogischer und moralischer Impetus verbunden. Der Gestus des Sollens, des Empfehlens, des Ermahnens ist bei Grohs nicht zu überlesen. Doch er ist nicht aufdringlich. Eher ist er eindringlich zu nennen, vor bevormundenden Untertönen bewahrt durch eine starke Nähe zum Menschen, die das gesamte Textkonvolut durchdringt: Den Menschen halbwegs zu verstehen / mit dessen Schwächen und auch Gaben, / muss man für ihn in jedem Fall / jede Menge übrig haben [76]. Der Autor lässt seine lesenden Mitmenschen spüren, dass sie ihm  nicht gleichgültig sind, und macht dadurch die Einladung zum Mit- und Nachdenken, die in seinen Zeilen steckt, erwägenswert und am Ende akzeptabel.

Diese Aura einer universalen Mitmenschlichkeit, die sich manchmal in einem Wir artikuliert, ist aber auch das Äußerste an Subjektivität, das Grohs sich gestattet. Da ist kein lyrisches Ich, das seine Gefühlszustände ausbreitet, da ist meist überhaupt kein Erzähler, der argumentiert. Die Konstellationen entfalten sich aus sich heraus, und ihr Subjekt ist in der Regel der Mensch oder auch das unpersönliche man. Strukturell gebundene Unterscheidungen der Individuen nach Geschlecht, sozialem Status, Beruf usw. spielen eine eher geringe Rolle, Individuen werden vor allem differenziert nach Haltungen, die sie haben können oder auch nicht. Der Gestus des Allgemeinmenschlichen fungiert als eine Art Universalschlüssel zu den Gemütern der Lesenden. Er ist ein Kunstgriff des Autors, der jedes mögliche Publikum an die Angel nimmt.

Viele der in Form von Lyrik dargebotenen Überlegungen könnten auch in Gestalt von Prosa formuliert werden, ohne dass die darin angesprochenen Gegenstände aus dem Blick geraten müssten. Worin besteht der spezifische Vorzug der hier gewählten Sprachform? Ich vermute, er liegt vor allem in der Leichtigkeit, mit der mittels der lyrischen Form Worte und Wendungen aus ihren gewohnten Kontexten gelöst und in das freie Spiel der Interpretationen einbezogen werden, bis sie Bedeutungen offenbaren, die von den vertrauten abweichen oder gar mit ihnen kontrastieren. Alltägliche Redeweisen werden in die Mangel der Reflexion genommen und büßen alsbald ihre Alltäglichkeit ein: Jeder kocht auch nur mit Wasser, / da kann keiner überraschen. / Fraglich bloß, mit wie vielen / Wassern einer ist gewaschen [38]. Die Binsenweisheit Irren ist menschlich kontert Grohs: Weniger bekannt: / aus Irrtümern lernen, / nicht schnurstracks wieder / unbeirrbar zu werden [46]. Solche Volten durchziehen das gesamte Textmassiv und zeitigen unterwegs auch überraschende Wortneuschöpfungen wie Denk-mal-Schutz, Fitness-Studiosus, Übe-Täter oder Kulturallmende. Die tradierte Versform – hier ein wenig Wilhelm Busch, dort eine Prise Erich Kästner, dazwischen ein klassischer Schüttelreim – nutzt Grohs manchmal, um sich beim Publikum einzuschleichen, bis eine unverhoffte dialektische Wendung die Lektüre jäh aus der Behaglichkeit reißt.

Apropos Dialektik: Unter den konstruktiven Paradigmen, denen diese Dichtung folgt, ist sie unverkennbar das dominierende, das immer wieder aufgerufen wird. Manchmal wird vordergründig eine Spur gelegt – ein Name (Sokrates, Platon, Marx) oder eine Wendung (alles fließt, List der Vernunft). Weitaus häufiger aber bedarf es des analytischen Blicks, der die Denkfigur der einander durchdringenden Gegensätze hinter den präsentierten Konstellationen erkennt. Das ist bei Grohs Programm. Der Untertitel des vorliegenden Bandes lautet nicht von ungefähr: Poesie und Philosophie. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich seine Dichtung: Es fließt der Aphorismus / als eine Art von Grenzfluss / zwischen praktischer Philosophie / und Gedankenpoesie [96]. Manche der hier zusammengefügten Textbausteine sind in Versform gebrachte Aphorismen oder Epigramme, die man auch außerhalb ihres aktuellen Kontextes als einprägsame Sentenzen zur Kenntnis nehmen kann.

Das Verhältnis von Poesie und Philosophie wird auch in der philosophischen Fachliteratur zum Thema gemacht. So widmet sich Wolfgang Breidert in seiner Studie Philosophie in Gedichten (2013) der Frage, wie philosophische Topoi – über den jedem Gedicht eigenen philosophischen Hintergrund hinaus – explizit in der Poesie aufgegriffen werden. Im Zusammenhang mit der zeitweise hohen Popularität der fernöstlichen Gedichtform Haiku in Deutschland kennzeichnet Udo Wenzel (2003) die Gedankenlyrik als „eine reflektierende Lyrik, die gedankliche oder gar weltanschauliche Zusammenhänge thematisiert und diese oft lehrhaft präsentiert. Die Gedichte sind für die Gedanken da, nicht umgekehrt“.

Für eine eventuelle Neuausgabe der Studie von Breidert wären auch Norbert Grohs’ Schatzinseln ein ergiebiges Untersuchungsmaterial. Sie bilden eine belastbare Brücke zwischen Philosophie und Dichtung, die in beiden Richtungen mit Gewinn beschritten werden kann. Dabei muss es nicht bei der privaten Lektüre allein bleiben, die Texte laden auch ein zum Diskurs, und ein Ethikseminar an der Universität, an der Volkshochschule oder an der Seniorenakademie, das die Schatzinseln zur Grundlage nähme, könnte zu einem erfrischenden Erlebnis werden. Über allen situativen, punktuellen und vielleicht auch lebensgeschichtlichen Bezügen, die den Autor zu seinen Reflexionen bewogen haben mögen, steht eine Einsicht, der niemand entrinnen kann: Im Zeitalter der globalökologischen Krise ist eine lebenswerte Zukunft der Menschheit ohne Anstrengung des Begriffs nicht zu haben, und diese wiederum hat es um vieles leichter, in sinnvoll gestaltendes Tun zu münden, wenn sie die Dichtkunst an ihrer Seite weiß: Bedeutsam also für den Menschen, / weise und wissend zu verstehen, / mit all seinen Ressourcen / ausgewogen umzugehen [142].