Exler, Margarete (1920-2001)

 

Nachruf

Gerade sie, die mit Worten lebte – als Lehrende, Übersetzende, Forschende, selber Schreibende –, zitiert am Ende ihres Berichts zum 100jährigen Bestehen des Goethe-Gymnasiums in Bensheim, ‘ihrer’ Schule, den Rat Goethes: "Die Worte sind gut, sie sind aber nicht das Beste. Das Beste wird nicht deutlich durch Worte." (Wilhelm Meister VII, 9) Den letzten Satz wiederholte sie, als ihr persönliches Résumé, ohne Anführungszeichen, aber mit Ausrufezeichen – wie in unserer Überschrift.

Nicht die Worte also, sondern das Tun! Wie und woraufhin ein Mensch lebte, ist schwer zu fassen, und man muß es festzuhalten suchen, ehe die Spuren verwischen. Margarete Exler lebte, je länger desto intensiver, aus Buberschem Geiste. Deshalb dieser Bericht.

Da war kein Aufhebens um sie. Es war Lebensstil bei ihr; und nicht nur, weil sie – schubweise – immer stärker erblindete. Ein paar Orientierungsdaten vorweg: Geboren 13.6.1920 in Wiesbaden. Die Eltern waren ein Jahr zuvor aus Südwestafrika (damals englisches Mandat) ausgewiesen worden. 1927–37 wieder in Südwestafrika. (M. E. liebte dieses Land. 1983 reiste sie noch einmal dorthin. Vor mir liegt ein Bild, das sie mir damals sandte: man sieht nur Wüstensand; im Vordergrund drei Stufen, verwehte Mauerreste, worauf M. E. sitzt: "Auf den Trümmern des einen Kindheitshauses …" Mit Wehmut erzählte sie davon.) Von 1939 an wurde Heppenheim a. d. Bergstraße der Familienwohnsitz. Dort machte sie 1941 ihr Abitur. 1941–45 studierte sie (Deutsch, Englisch, Geschichte) in Heidelberg und in Berlin. Noch im selben Jahr 1945 begann sie an einer Schule in Waldmichelbach im Odenwald zu unterrichten. Was sie in dieser Zeit unmittelbar nach dem Kriege erlebte, hier und später, prägte sich M.E. so tief ein, daß sie noch im Alter davon sprach. 1957 – nach kurzem Zwischenspiel in Groß-Gerau – Versetzung an die "Goethe-Schule an der Bergstraße" in Bensheim. Dort unterrichtete sie als Oberstudienrätin, bis sie 1974 wegen ihres schwindenden Augenlichtes vorzeitig aufhören mußte. 21.1.2001 Tod, nach akut gewordener Erkrankung, in Heppenheim.

Das Studium in Heidelberg, mitten im Kriege, bestimmte die Wegrichtung. Der Lehrer für sie war Reinhard Buchwald (Prof. für deutsche Geistesgeschichte und Bildungslehre). Schon in unseren ersten Gesprächen (vor über 30 Jahren) beschwor sie mich, Kontakt aufzunehmen mit ihm (der, 98jährig, erst 1983 starb). 1944 erschien sein Buch Das Vermächtnis der deutschen Klassiker, das seine Vorlesungen jener Jahre sammelte und das die Atmosphäre, die M. E. prägte, spiegelt. Da begriff sie. Etwa: daß zum Menschen gehört zu achten, "was andere sind, die anders sind als wir"; daß man lernen muß, Dichtwerke "von unserem wirklich gelebten Leben her zu verstehen"; daß "Dichtung mehr als Dichtung" ist und immer aufs neue Impulse von ihr ausgehen. Es hat M. E. in Beruf und Leben begleitet. Bis zuletzt versuchte sie, Ernst zu machen damit; es war und blieb "Gewähr eines künftigen Lebens" (Buchwald), nicht nur für sie.

Lehrerin war M. E. mit großem Ernst (fast 30 Jahre lang). Jahresberichte zeigen, in welcher Breite sie – trotz zunehmender Sehbehinderung! – tätig war: in allen Altersstufen, von Sexta bis Oberprima; sie unterrichtete Deutsch (Schwerpunkt), Englisch, Geschichte, aber auch Kunst. Sie brachte es fertig, auch wo fast nichts war, Interesse an Literatur zu wecken (oft zum ersten Mal!), und sie verfiel, da sie aus einem breiten Fundus schöpfen konnte, nie ins Schwafeln. Die Spannweite reichte von Sophokles über die Merseburger Zaubersprüche bis hin zu den Nashörnern von Ionesco. Bei ihr gab es aber keine literarische ‘Schlagseite’. Ihre Aufsatzthemen griffen auch mitten ins Leben: "Welche Rolle spielen Selbstbewußtsein und Geltungsbedürfnis im Leben?" oder: "Was sollte bei einem Gerichtsurteil ausschlaggebend sein: die Tat oder die ihr zugrundliegenden Motive?" (Unterprima 1968/69).

Als Pädagogin hatte es die kleine, zarte, sehbehinderte Frau nicht leicht. Sie sprach zwar eloquent, aber leise, zögernd. Sie war so. Deshalb vermochte sie aufkeimende Unruhe nicht zu bremsen, ließ eher sie gewähren. Das ist ein kleines Fazit aus Schüler- und Kollegenerinnerungen. Übereinstimmend kam immer wieder, wie unerschöpflich geduldig und freundlich sie war. Das war sie bis zuletzt – nur wenige spürten, welche Zähigkeit und welche Herzenskraft darin lebten.

Nahezu unbekannt ist die Übersetzerin. Die erfüllteste Zeit kam für M. E. nach der Schule, daheim in Heppenheim. Früh, schon in den 50er Jahren, begann sie, englischsprachige Lyrik zu übersetzen, einzelne Gedichte, Gedichtfolgen: Shakespeare-Sonette, John Milton, Samuel Taylor Coleridge, Emily Dickinson, William Butler Yeats – nur wenige Namen, stellvertretend für über 20 Autoren. Sie arbeitete an den Texten, sie verbessernd, jeweils auch in den folgenden Jahren. In einem einführenden Essay zu Yeats schreibt M. E.: "Ich habe mich bemüht, einfach und treu zu sein in der Wiedergabe." Sie wollte nur das Verständnis der Dichtung anbahnen. Das genügte ihr. "Das fremde Lied in der eigenen Sprache wieder zum Klingen zu bringen, bedarf es der Meisterschaft und – der Gnade." Beides war ihr mehr beschieden, als sie ahnte. Experten, die Proben lasen, bekannten, daß ihre Übersetzungen weit poetischer sind als vergleichbare Texte professioneller Übersetzer.

Verständnis anbahnen: M. E. sprach und schrieb auch für einen deutsch schreibenden Lyriker wie Richard Exner: "Und dennoch dichten. Hinweis auf Richard Exners Lyrik". Unvergeßlich noch nach vielen Jahren: sie führt in eine Lesung Exners ein; steht vor den Hörern wie vor ihrer Schulklasse: still, verhalten, noch einmal tief atmend, und was dann kam, war – vehement, durchsichtig klar – selbst ein Kunstwerk! Das konnte sie.

Wie sie auch selber schreiben konnte, Lyrik, Prosa. Wer weiß etwas davon?! Auch hier: Verständnis anbahnen, für den gequälten einzelnen etwa, dem offiziellen Gerede entgegen – wie in ihrem knappen Prosatext "Der einzelne und die anderen", ein Stuttgarter Erlebnis 1969, nüchtern, lapidar, herausfordernd. "…eine sehr zarte Aufmerksamkeit für den Mitmenschen" und "ein überaus verletzliches Gewissen" walten in seinem Dichten, sagt sie über Richard Exner. Genau dies lebt auch in M. E.’s eigenen Texten.

Das Lebensthema aber war Martin Buber. Im Zeichen Bubers haben wir um 1970 zueinander gefunden und blieben all die Jahre in Austausch und Zusammenarbeit bis wenige Tage vor Margarete Exlers Tod. Sie war glücklich, daß ihre Familie von 1939 an in Heppenheim ansässig wurde, wo Buber von 1916 bis 1938 gelebt hatte. Frühzeitig schon – nicht umsonst war sie Historikerin – war sie den Spuren nachgegangen. Sie erwarb sich – schon in der Gymnasialzeit – intensive, sichere Kenntnis von Bubers Leben, Denken, Werk. Es ergaben sich auch Kontakte, Freundschaften zur Buber-Familie, besonders zu Rafael Buber, dem Sohn, später zur Enkelin Judith Buber Agassi.

Als beabsichtigt war, das frühere Wohnhaus Bubers in Heppenheim abzureißen, brachten M. E. und Werner Wirth einen Initiativkreis zusammen, in den sie auch mich als Verleger Bubers hineinholten. Daß der Kampf schließlich Erfolg hatte und das Haus erhalten werden konnte, ist zu einem gut Teil M. E.’s nicht nachlassender Courage zu danken. Ich habe es erlebt.

Nachdem das Buber-Haus Sitz des Internationalen Rates der Juden und Christen geworden war, hat M. E. als freiwillige Helferin über Jahre hin dort mitgewirkt: Gäste durchs Haus zu führen, ihnen Buber nahezubringen, Buber-Bücher zu verbreiten. Mit heller Freude berichten Menschen, die es erlebt haben, davon.

Die Vorbereitung der Martin Buber-Gesellschaft hat sie mit engagiertem Rat begleitet. Sie war glücklich, daß sie im Februar 2000 an der Gründungsversammlung in Heidelberg noch teilnehmen konnte, und arbeitete der Gesellschaft nach Kräften zu. M. E. war einer der Menschen, die zuinnerst begriffen hatten, worum es bei dieser Gründung ging: keine Vereinsmeierei, sondern Buberschen Geist lebendig zu halten, so zu leben: das war ihr eignes Lebensfazit.

Zunächst dachte M. E. daran, zu Buber selbst zu arbeiten und zu publizieren, etwa exemplarische kleinere Briefwechsel. Wir sprachen intensiv darüber, und daraus kristallisierte sich eine neue Aufgabe, deren Verwirklichung sie sich mit nicht endender Akribie und Liebe widmete: Leben und Schicksal anderer jüdischer Menschen ihrer Zeit nachzuspüren, den Vergessenen.

Zu erinnern ist an die kleine Arbeit "Professor Dr. rer. pol. Cora Berliner. Bestandsaufnahme eines beispielhaften Lebens", die weiter auszubauen nicht mehr gelang. Cora Berliner war zuletzt Mitarbeiterin der "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" und wurde im Juni 1942 deportiert. "Als eine Freundin kommt, um von Cora Berliner und Paula Fürst Abschied zu nehmen, findet sie beide im Hof in der Sonne sitzend und Goethe lesend. Am nächsten Tag holen die Landsleute Goethes die Frauen ab – ins Verderben."

Da ist ihr Aufsatz "Die Sundheimers. Schicksale einer jüdischen Familie aus einer deutschen Kleinstadt" zu nennen. Die Kleinstadt ist M. E.’s Wohnort Heppenheim, wo nun keine Juden mehr lebten.

Ihre größte Arbeit ist das kleine Buch über Ernst Joël: Von der Jugendbewegung zu ärztlicher Drogenhilfe. Das Leben Ernst Joëls (1893–1929) im Umkreis von Benjamin, Landauer und Buber. Joël ging als Arzt in die soziale Fürsorge, forderte eine "soziale Psychiatrie". Mit dem Nervenarzt Fritz Fränkel machte er Drogen-Selbstversuche – mögliche Ursache seines vorzeitigen Endes. In seinem Brief zu Bubers 50. Geburtstag schrieb er (damals in Proletariervierteln im Osten Berlins tätig): "Wenn ich durch Sie diese Arbeit besser mache, dann müssen Sie zu meinem Dank auch noch den unausgesprochenen Dank hinnehmen von 5000 Kindern."

Wer meint, damit wäre alles gesagt, irrt. M. E.’s Alltag war, Jahr um Jahr, angefüllt mit der Sorge für Kranke, psychisch Kranke vor allem, um Asylbewerber (Wohnungssuche, Aufenthaltsgenehmigung, Deutschunterricht), wobei sie, ohne Hemmschwelle, auch an ‘höher’stehende Persönlichkeiten heranging. Für Fragende, denen sie selbst nicht antworten konnte, suchte sie einen Freund, der weiterhelfen konnte. Sie pflegte Freundschaften (wie viele eigentlich?!) intensiv – wobei sie, lebensklug, die Sphären auseinanderzuhalten verstand.

Der immer wieder aufkommenden Resignation, in die die schleichende Erblindung sie zu bringen drohte, hat sie tapfer – und mit wieviel Humor! – widerstanden. Sie lernte Gedichte auswendig, um sie auch im Augendunkel zu besitzen. Auch Dutzende von Telefonnummern.

Sie gab allem einen inneren Zusammenhang. "Das Beste wird nicht deutlich durch Worte." Das Zitat aus Wilhelm Meisters Lehrjahren, das uns die Überschrift gab, geht im Original noch weiter: "Der Geist, aus dem wir handeln, ist das Höchste", steht da. Das war die Losung, der Margarete Exler folgte.

Unvergessen von vielen Menschen: wie sehr Margarete Exler Frau war: schwesterliche Frau, Freundin, liebende Frau, Mutter, emanzipierte Frau – alles in- und miteinander. Sie konnte das einzigartig –, nicht zuletzt, weil sie eine frappierend treffsichere Wesenserkenntnis des/der anderen hatte, eine Hellsicht, über die man auch als erfahrener Mensch nur staunen konnte.

Diese besonders in der Spätzeit so zerbrechlich wirkende Frau war ein starker, unbeirrbar seinem Weg folgender Mensch, frei, auch gegenüber denen, die alles besser zu wissen meinen. In allem zeigte sie, was es heißt, nach Buber zu leben. Wir haben sie am 25. Januar 2001 begraben – das, was irdisch war. Das, was Margarete Exler wirklich war, lebt weiter mit uns.

Lothar Stiehm

(Dieser Text erschien zuerst in der Zeitschrift Im Gespräch, Hefte der Martin Buber-Gesellschaft, Nr. 2, Frühjahr 2001, S. 69–72. Bis auf wenige Eingriffe blieb er unverändert.)

 

 

Veröffentlichungen von Margarete Exler