Vorwort
Die Kunst zu
überleben
Von Abenteuerlust, Streben nach Reichtum und vom Schicksal getrieben zog
einst mein Großvater Josef Berger mit seiner Frau Cywia und deren
Kinderschar aus dem heimatlichen Polen rastlos von Land zu Land: 1908 nach
Palästina und dann nach Belgien, Holland, England, Deutschland, Frankreich,
Israel. Was er in der Ferne suchte war Wohlstand und Glück für seine
Familie, doch es ereilte ihn eine Katastrophe nach der anderen. Nur kurze
Verschnaufpausen, wenige Jahre der Ruhe und des bescheidenen
wirtschaftlichen Erfolgs, blieben ihm jeweils zwischen mörderischen Kriegen
und Judenpogromen. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er schließlich in
Israel, doch auch dort ohne Glück, von Ungläubigen verlacht, einsam und
verarmt. Aber einen Erfolg konnte er an seinem Lebensabend verbuchen: Neben
ihm konnten sich alle seine elf in der Nazizeit noch lebenden Kinder der
tödlichen Bedrohung entziehen. Sie waren keine spektakulären Helden, aber
auch keine willenlosen Opfer.
Bis sie erwachsen wurden hatten Josefs Kinder in mehreren Ländern gelebt und
sich dabei die unterschiedlichen Sprachen und Lebensweisen perfekt
angeeignet. Sie hatten weder Gelegenheit noch Zeit, langwierige Studien zu
absolvieren oder Reichtümer anzuhäufen, die sie an einen Ort hätten binden
können. Sie wurden keine erfolgreichen Ärzte, Rechtsanwälte, Musiker,
Schriftsteller, Wissenschaftler, Rabbiner oder Geschäftsleute. Aber sie
erlernten etwas, was für die europäischen Juden jener Zeit viel wichtiger
war als die traditionellen jüdischen Fertigkeiten: die Kunst, sich wie ein
Chamäleon der Umgebung anzupassen und zu überleben.
Die Mosaiksteine dieser Geschichte sind persönliche Erlebnisse, erzählt von
den über die ganze Welt verstreuten Geschwistern meines Vaters. Sie bilden
ein Puzzle mit vielen Lücken. Ihre Erinnerungen sind durch den zeitlichen
Abstand verblasst. Denn das Gedächtnis der Menschen ist unvollkommen. Es ist
lückenhaft, überlagert Erinnerungen mit späteren Erlebnissen, Ideen und
Reflexionen, lässt Kränkungen der Kindheit oder der Trennung von nahe
stehenden Menschen zu schrecklichen Monstern wachsen, filtert aus der
Vergangenheit Erlebnisse heraus, die das gegenwärtige Ich ins Wanken bringen
könnten.
Mir war es nicht vergönnt, meine Großeltern kennen zu lernen, weder
mütterlicher- noch väterlicherseits, ich habe als Kind nicht die von
Alltagspflichten ungetrübte großelterliche Liebe genießen können. Und die
vielen Geschwister meines Vaters kannte ich größtenteils nur vom Hörensagen,
sowie von den unzähligen Fotos, die mein Vater akribisch gesammelt hatte.
Auf das Wesentliche, die darauf zu sehenden Personen, zurechtgeschnitten
füllten die Bilder mehrere dicke Familienalben und waren für mich ein
unwirklicher Beleg für die Existenz meiner ausgedehnten Verwandtschaft.
Unwirklich, denn die Geschwister meines Vaters und Großvater Josef lebten in
der für mich unerreichbaren westlichen Welt, während sich mein Vater östlich
des „eisernen Vorhangs“ dem großen Werk des Aufbaus einer neuen und, wie er
glaubte, gerechten Gesellschaftsordnung widmete. Ich fühlte mich damals, in
der DDR, wie unter einer undurchsichtigen Glocke, ähnlich der
mittelalterlichen Himmelskuppel, an der in der einstigen Vorstellung der
Menschen Planeten und Sterne angeheftet waren. Zuweilen fiel eine
Sternschnuppe auf die hermetisch abgeschottete östliche Hemisphäre herab,
jemand aus unserer weit verstreuten Verwandtschaft tauchte bei uns auf.
Ein wahrer Sternschnuppenregen ereignete sich im Dezember des Jahres 1965,
als zur Hochzeit meiner Schwester Rosette überraschend viele Verwandte nach
Leipzig kamen: Tante Nelly und Onkel Berthold aus Hamburg, Onkel Bobby aus
New York, Tante Frida aus Johannesburg, Tante Lydia aus Antwerpen, Tante Lya
und Onkel Sandor aus Wien. Die meisten sah ich damals zum ersten Mal und
ebenso zum ersten Mal hörte ich die Geschichten von Leben der großen Familie
in mehreren Ländern Europas und in Palästina, die mein Vater größtenteils
für sich behielt. Denn zwar pflegte er voller Stolz über seine Zeit als
kommunistischer Parteiagitator in Berlin der Vorhitlerzeit zu erzählen, nur
ungern erinnerte er sich aber an seine Flucht aus Deutschland nach Belgien
und Frankreich und an das harte Leben unter deutscher Besatzung, in
Internierungslagern und mit gefälschten französischen Papieren.
So hörte ich also 1965 von meinen Verwandten viele der Familiengeschichten
zum ersten Mal. Es waren Erinnerungen an die glückliche gemeinsame Kindheit
und Jugend in England und Deutschland, aber auch an die Flucht vor den Nazis
aus Deutschland und an den Widerstand gegen die Faschisten in Deutschland,
Spanien, Frankreich, Belgien. Damals war ich einundzwanzig, ein
Physikstudent, voller Wissensdurst und Tatendrang. Ich hatte allen Grund,
stolz auf meine Verwandten zu sein, die sich nicht tatenlos von den Nazis in
den Tod treiben ließen. Doch erst nachdem ich 1977, inzwischen Physiker in
der Kernforschung, als politischer Querulant ein Jahr Haft wegen
„Staatsverleumdung“ verbüßt hatte und danach von der DDR-Regierung an die
Bundesrepublik Deutschland verkauft wurde, konnte ich mich als Teil der
weltweiten Sippe fühlen, meine Verwandten besuchen und ihnen einen tieferen
Einblick in ihre Vergangenheit entlocken. Von der großen Familie mit
ursprünglich zwölf Kindern waren einige inzwischen verstorben: In einer
schrecklichen Inszenierung nahm sich Tante Ida schon 1930 in Berlin das
Leben, 1935 starb meine Großmutter Cywia. Beide wurden auf dem jüdischen
Friedhof Weißensee in Berlin beerdigt. 1965 starb in Israel mein Großvater
Josef, 1968 Onkel Elle in New York, 1972 Tante Becky in Johannesburg. 1983
folgte ihr, ebenfalls in Südafrika, Tante Frida, die schon während meiner
Kindheit in Belgien und Polen meine Lieblingstante gewesen ist. Trotz der
immensen Entfernung von Südafrika nach Europa besuchte sie uns hin und
wieder hinter dem „eisernen Vorhang“. So konnte ich es mir im Nachhinein
nicht verzeihen, sie vor ihrem Tod nicht besucht zu haben. Doch von den
zahlreichen Geschwistern meines Vaters waren einige noch am Leben, in der
Bundesrepublik Deutschland, in Österreich, Israel, den USA und in Mexiko.
Ich nutzte die gewonnene Bewegungsfreiheit und reiste Ende der siebziger und
in den achtziger Jahren, mit einem Kassettenrekorder und Mikrofon
ausgerüstet, um die Welt, um die Erinnerungen meiner Verwandten
festzuhalten, sie vor dem Vergessen zu bewahren. Von allen wurde ich mit
offenen Armen empfangen, alle beglückwünschten mich zu der frisch errungenen
Freiheit, alle bis auf Tante Nelly in Hamburg. Denn für sie als Kommunistin
hatte ich mit dem Verlassen der DDR einen schmählichen Verrat begangen, was
sie aber letztlich nicht daran hinderte, mich zu empfangen und aus ihrem
turbulenten Leben zu berichten.
So konnte ich bis auf Tante Frida in Südafrika und Tante Helen in Israel
alle nach meiner Ankunft im Westen noch lebenden Geschwister meines Vaters
interviewen, immerhin noch fünf, und wenigstens einen Teil der
abenteuerlichen Geschichte der einst vierzehnköpfigen Familie vor dem
Vergessen bewahren. Von meinem Großvater Josef, den ich nie kennen lernte,
wusste ich nur, dass ich alle seine negativen Eigenschaften geerbt hatte.
Das jedenfalls hörte ich als Jugendlicher von meinem Vater, nachdem unsere
politischen Anschauungen auseinander gedriftet waren, da ich an der
kommunistischen Lehre zu zweifeln begann. Erst durch die Erzählungen der
Geschwister meines Vaters wurde Großvater Josef in meiner Vorstellung zum
Leben erweckt. Von seiner Frau Cywia, meiner Großmutter, die stolzen zwölf
Kindern das Leben geschenkt hatte, blieb kaum mehr, als der Stein auf dem
Weißenseer Friedhof mit der schwer entzifferbaren Aufschrift und einige
verblichene Fotos. Seltsam blass fielen auch die Erinnerungen der
erwachsenen Kinder an ihre Mutter aus, die, wie damals die meisten Frauen,
ganz im Schatten ihres Mannes gelebt hatte.
Aus heutiger Sicht war es Josef Bergers größte Fehlentscheidung, 1923 mit
seiner Familie das sichere, stabile Land Großbritannien zu verlassen, um
sich in dem krisengeschüttelten Deutschland niederzulassen. Die Ermordung
des deutschen Außenministers Walter Rathenau im Jahre 1922, dessen Vergehen
für die Attentäter vor allem darin bestand, dass er ein Jude war, hätte, so
könnte man meinen, für meinen Großvater ein Alarmzeichen sein können. Er
hätte sich und seiner Familie die Verfolgung und Flucht ersparen können,
wäre er nicht damals seiner blinden Verehrung Deutschlands und dem Traum vom
großen Geld gefolgt. Doch ein solcher Vorwurf im Nachhinein ist heute nicht
angebracht, denn kaum jemand war 1923 so hellsichtig, die Machtergreifung
Hitlers und den daraus folgenden dramatischen politischen und kulturellen
Niedergang, den Absturz Deutschlands in die Barbarei, voraussehen zu können.
Einen vergleichbaren Vorwurf könnte ich auch meinem Vater machen. Er hätte
mir das Schicksal, aus politischen Gründen ein Jahr im DDR-Gefängnis zu
verbringen, ersparen können, hätte er nicht nach dem Zweiten Weltkrieg als
überzeugter Kommunist den Entschluss gefasst, sich in Polen und ab 1957 in
der DDR am Aufbau des Sozialismus zu beteiligen. Aber konnte er als
Kommunist ahnen, dass ausgerechnet sein Sohn den kommunistischen Ideen und
dem sozialistischen deutschen Staat nicht ebenso wie er bedingungslos
ergeben sein würde? Doch halt: Der Pogrom von Kielce im Jahre 1946, bei dem
41 Juden von katholischen Polen durch die Straßen gehetzt und ermordet
wurden, hatte damals in der ganzen westlichen Welt für Entsetzen gesorgt.
Das hätte für meinen Vater ein Alarmzeichen sein müssen, ganz abgesehen
davon, dass wir im Nachhinein alle klüger sind. Aber der Glaube an die
Harmonie der von ihm erstrebten sozialistischen Welt war bei meinem Vater
stärker als die erlebte Wirklichkeit. So ging er also nach Polen und später
in die DDR, getrieben vom unbeugsamen Willen, als Kommunist am Rad der
Geschichte mitzudrehen.
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