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Berger, Gabriel

“Josef und seine Kinder. Odyssee einer jüdischen Familie”

 

[= Autobiographie, Bd. 41], 2011, 204 S., ISBN 978-3-89626-978-2, 14,80 EUR

 

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Vorwort

Die Kunst zu überleben


Von Abenteuerlust, Streben nach Reichtum und vom Schicksal getrieben zog einst mein Großvater Josef Berger mit seiner Frau Cywia und deren Kinderschar aus dem heimatlichen Polen rastlos von Land zu Land: 1908 nach Palästina und dann nach Belgien, Holland, England, Deutschland, Frankreich, Israel. Was er in der Ferne suchte war Wohlstand und Glück für seine Familie, doch es ereilte ihn eine Katastrophe nach der anderen. Nur kurze Verschnaufpausen, wenige Jahre der Ruhe und des bescheidenen wirtschaftlichen Erfolgs, blieben ihm jeweils zwischen mörderischen Kriegen und Judenpogromen. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er schließlich in Israel, doch auch dort ohne Glück, von Ungläubigen verlacht, einsam und verarmt. Aber einen Erfolg konnte er an seinem Lebensabend verbuchen: Neben ihm konnten sich alle seine elf in der Nazizeit noch lebenden Kinder der tödlichen Bedrohung entziehen. Sie waren keine spektakulären Helden, aber auch keine willenlosen Opfer.
Bis sie erwachsen wurden hatten Josefs Kinder in mehreren Ländern gelebt und sich dabei die unterschiedlichen Sprachen und Lebensweisen perfekt angeeignet. Sie hatten weder Gelegenheit noch Zeit, langwierige Studien zu absolvieren oder Reichtümer anzuhäufen, die sie an einen Ort hätten binden können. Sie wurden keine erfolgreichen Ärzte, Rechtsanwälte, Musiker, Schriftsteller, Wissen­schaftler, Rabbiner oder Geschäftsleute. Aber sie erlernten etwas, was für die europäischen Juden jener Zeit viel wichtiger war als die traditionellen jüdischen Fertigkeiten: die Kunst, sich wie ein Chamäleon der Umgebung anzupassen und zu überleben.
Die Mosaiksteine dieser Geschichte sind persönliche Erlebnisse, erzählt von den über die ganze Welt verstreuten Geschwistern meines Vaters. Sie bilden ein Puzzle mit vielen Lücken. Ihre Erinnerungen sind durch den zeitlichen Abstand verblasst. Denn das Gedächtnis der Menschen ist unvollkommen. Es ist lückenhaft, überlagert Erinnerungen mit späteren Erlebnissen, Ideen und Reflexionen, lässt Kränkungen der Kindheit oder der Trennung von nahe stehenden Menschen zu schrecklichen Monstern wachsen, filtert aus der Vergangenheit Erlebnisse heraus, die das gegenwärtige Ich ins Wanken bringen könnten.
Mir war es nicht vergönnt, meine Großeltern kennen zu lernen, weder mütterlicher- noch väterlicherseits, ich habe als Kind nicht die von Alltagspflichten ungetrübte großelterliche Liebe genießen können. Und die vielen Geschwister meines Vaters kannte ich größtenteils nur vom Hörensagen, sowie von den unzähligen Fotos, die mein Vater akribisch gesammelt hatte. Auf das Wesentliche, die darauf zu sehenden Personen, zurechtgeschnitten füllten die Bilder mehrere dicke Familienalben und waren für mich ein unwirklicher Beleg für die Existenz meiner ausgedehnten Verwandtschaft. Unwirklich, denn die Geschwister meines Vaters und Großvater Josef lebten in der für mich unerreichbaren westlichen Welt, während sich mein Vater östlich des „eisernen Vorhangs“ dem großen Werk des Aufbaus einer neuen und, wie er glaubte, gerechten Gesellschaftsordnung widmete. Ich fühlte mich damals, in der DDR, wie unter einer undurchsichtigen Glocke, ähnlich der mittelalterlichen Himmelskuppel, an der in der einstigen Vorstellung der Menschen Planeten und Sterne angeheftet waren. Zuweilen fiel eine Sternschnuppe auf die hermetisch abgeschottete östliche Hemisphäre herab, jemand aus unserer weit verstreuten Verwandtschaft tauchte bei uns auf.
Ein wahrer Sternschnuppenregen ereignete sich im Dezember des Jahres 1965, als zur Hochzeit meiner Schwester Rosette überraschend viele Verwandte nach Leipzig kamen: Tante Nelly und Onkel Berthold aus Hamburg, Onkel Bobby aus New York, Tante Frida aus Johannesburg, Tante Lydia aus Antwerpen, Tante Lya und Onkel Sandor aus Wien. Die meisten sah ich damals zum ersten Mal und ebenso zum ersten Mal hörte ich die Geschichten von Leben der großen Familie in mehreren Ländern Europas und in Palästina, die mein Vater größtenteils für sich behielt. Denn zwar pflegte er voller Stolz über seine Zeit als kommunistischer Parteiagitator in Berlin der Vorhitlerzeit zu erzählen, nur ungern erinnerte er sich aber an seine Flucht aus Deutschland nach Belgien und Frankreich und an das harte Leben unter deutscher Besatzung, in Internierungslagern und mit gefälschten französischen Papieren.
So hörte ich also 1965 von meinen Verwandten viele der Familiengeschichten zum ersten Mal. Es waren Erinnerungen an die glückliche gemeinsame Kindheit und Jugend in England und Deutschland, aber auch an die Flucht vor den Nazis aus Deutschland und an den Widerstand gegen die Faschisten in Deutschland, Spanien, Frankreich, Belgien. Damals war ich einundzwanzig, ein Physikstudent, voller Wissensdurst und Tatendrang. Ich hatte allen Grund, stolz auf meine Verwandten zu sein, die sich nicht tatenlos von den Nazis in den Tod treiben ließen. Doch erst nachdem ich 1977, inzwischen Physiker in der Kernforschung, als politischer Querulant ein Jahr Haft wegen „Staatsverleumdung“ verbüßt hatte und danach von der DDR-Regierung an die Bundesrepublik Deutschland verkauft wurde, konnte ich mich als Teil der weltweiten Sippe fühlen, meine Verwandten besuchen und ihnen einen tieferen Einblick in ihre Vergangenheit entlocken. Von der großen Familie mit ursprünglich zwölf Kindern waren einige inzwischen verstorben: In einer schrecklichen Inszenierung nahm sich Tante Ida schon 1930 in Berlin das Leben, 1935 starb meine Großmutter Cywia. Beide wurden auf dem jüdischen Friedhof Weißensee in Berlin beerdigt. 1965 starb in Israel mein Großvater Josef, 1968 Onkel Elle in New York, 1972 Tante Becky in Johannesburg. 1983 folgte ihr, ebenfalls in Südafrika, Tante Frida, die schon während meiner Kindheit in Belgien und Polen meine Lieblingstante gewesen ist. Trotz der immensen Entfernung von Südafrika nach Europa besuchte sie uns hin und wieder hinter dem „eisernen Vorhang“. So konnte ich es mir im Nachhinein nicht verzeihen, sie vor ihrem Tod nicht besucht zu haben. Doch von den zahlreichen Geschwistern meines Vaters waren einige noch am Leben, in der Bundesrepublik Deutschland, in Österreich, Israel, den USA und in Mexiko. Ich nutzte die gewonnene Bewegungsfreiheit und reiste Ende der siebziger und in den achtziger Jahren, mit einem Kassettenrekorder und Mikrofon ausgerüstet, um die Welt, um die Erinnerungen meiner Verwandten festzuhalten, sie vor dem Vergessen zu bewahren. Von allen wurde ich mit offenen Armen empfangen, alle beglückwünschten mich zu der frisch errungenen Freiheit, alle bis auf Tante Nelly in Hamburg. Denn für sie als Kommunistin hatte ich mit dem Verlassen der DDR einen schmählichen Verrat begangen, was sie aber letztlich nicht daran hinderte, mich zu empfangen und aus ihrem turbulenten Leben zu berichten.
So konnte ich bis auf Tante Frida in Südafrika und Tante Helen in Israel alle nach meiner Ankunft im Westen noch lebenden Geschwister meines Vaters interviewen, immerhin noch fünf, und wenigstens einen Teil der abenteuerlichen Geschichte der einst vierzehnköpfigen Familie vor dem Vergessen bewahren. Von meinem Großvater Josef, den ich nie kennen lernte, wusste ich nur, dass ich alle seine negativen Eigenschaften geerbt hatte. Das jedenfalls hörte ich als Jugendlicher von meinem Vater, nachdem unsere politischen Anschauungen auseinander gedriftet waren, da ich an der kommunistischen Lehre zu zweifeln begann. Erst durch die Erzählungen der Geschwister meines Vaters wurde Großvater Josef in meiner Vorstellung zum Leben erweckt. Von seiner Frau Cywia, meiner Großmutter, die stolzen zwölf Kindern das Leben geschenkt hatte, blieb kaum mehr, als der Stein auf dem Weißenseer Friedhof mit der schwer entzifferbaren Aufschrift und einige verblichene Fotos. Seltsam blass fielen auch die Erinnerungen der erwachsenen Kinder an ihre Mutter aus, die, wie damals die meisten Frauen, ganz im Schatten ihres Mannes gelebt hatte.
Aus heutiger Sicht war es Josef Bergers größte Fehlentscheidung, 1923 mit seiner Familie das sichere, stabile Land Großbritannien zu verlassen, um sich in dem krisengeschüttelten Deutschland niederzulassen. Die Ermordung des deutschen Außenministers Walter Rathenau im Jahre 1922, dessen Vergehen für die Attentäter vor allem darin bestand, dass er ein Jude war, hätte, so könnte man meinen, für meinen Großvater ein Alarmzeichen sein können. Er hätte sich und seiner Familie die Verfolgung und Flucht ersparen können, wäre er nicht damals seiner blinden Verehrung Deutschlands und dem Traum vom großen Geld gefolgt. Doch ein solcher Vorwurf im Nachhinein ist heute nicht angebracht, denn kaum jemand war 1923 so hellsichtig, die Machtergreifung Hitlers und den daraus folgenden dramatischen politischen und kulturellen Niedergang, den Absturz Deutschlands in die Barbarei, voraussehen zu können.
Einen vergleichbaren Vorwurf könnte ich auch meinem Vater machen. Er hätte mir das Schicksal, aus politischen Gründen ein Jahr im DDR-Gefängnis zu verbringen, ersparen können, hätte er nicht nach dem Zweiten Weltkrieg als überzeugter Kommunist den Entschluss gefasst, sich in Polen und ab 1957 in der DDR am Aufbau des Sozialismus zu beteiligen. Aber konnte er als Kommunist ahnen, dass ausgerechnet sein Sohn den kommunistischen Ideen und dem sozialistischen deutschen Staat nicht ebenso wie er bedingungslos ergeben sein würde? Doch halt: Der Pogrom von Kielce im Jahre 1946, bei dem 41 Juden von katholischen Polen durch die Straßen gehetzt und ermordet wurden, hatte damals in der ganzen westlichen Welt für Entsetzen gesorgt. Das hätte für meinen Vater ein Alarmzeichen sein müssen, ganz abgesehen davon, dass wir im Nachhinein alle klüger sind. Aber der Glaube an die Harmonie der von ihm erstrebten sozialistischen Welt war bei meinem Vater stärker als die erlebte Wirklichkeit. So ging er also nach Polen und später in die DDR, getrieben vom unbeugsamen Willen, als Kommunist am Rad der Geschichte mitzudrehen.



 

 

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