Zum Inhalt
Die multiple Krise des globalen
Kapitalismus wirft für kritische Wissenschaft viele Fragen auf: Wie sind die
Krisen theoretisch auf den Begriff zu bringen? Welche dauerhaften Gefahren
gehen heute von ihnen aus für das Leben der Menschen, für Natur und Umwelt?
Wie ist mit diesen Krisen umzugehen? Mit welcher Art von Politik kann ihnen
begegnet werden? Welche Handlungsoptionen haben dabei emanzipatorische
Akteure? Stehen wir vielleicht am Beginn einer neuen „Großen Transformation“
des Kapitalismus?
In diesem Band versuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der
Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin sowie der Rosa Luxemburg
Stiftung aus der Optik verschiedener Disziplinen anhand spezifischer
Problemlagen und Fragestellungen erste verallgemeinernde Wertungen zu
Kapitalismus und Krise, zur Frage notwendiger Transformationen zu treffen
und mögliche Konsequenzen für eine emanzipatorische Kapitalismus- und
Krisentheorie aufzuzeigen.
Einleitung
Günter Krause
Ohne Frage zeigen einige wichtige ökonomische Indikatoren des globalen
Kapitalismus für 2010/2011 einen konjunkturellen Aufschwung an. So sagt etwa
der Internationale Währungsfonds für die Weltwirtschaft ein Wachstum von 4,4
Prozent im Jahr 2011 voraus. Der im Herbst 2008 dramatisch
zusammengebrochene Immobilien- und Hypothekenmarkt in den USA vermeldet Ende
2010 eine erste, wenn auch relativ bescheidene Erholung. Die
Automobilindustrie der USA wie der Bundesrepublik produziert zum gleichen
Zeitpunkt nach den teils spektakulären Einbrüchen der vorangegangenen zwei
Jahre wieder kräftig für den Export wie für die Nachfrage im Inland.
Kollabierte Großbanken geben auf Grund ihrer jüngsten Transaktionen die
ihnen gewährten bzw. in Anspruch genommenen Staatsgarantien zurück.
Ökonominnen und Ökonomen der renommierten Gesellschaft für Konsumforschung
(GfK) ermitteln für die ersten beiden Monate von 2011 den besten
Konsumklima-Index seit dem Oktober 2007. Der deutsche Aktienmarkt etwa
verzeichnete Ende Dezember 2010 für die vergangenen zwölf Monate einen
enormen Kursaufschwung. Zudem scheinen nationale, europäische sowie
weltweite Rettungsschirme für einzelne Länder, Banken und Währungen dem
internationalen Wirtschafts- und Finanzsystem –zumindest vorübergehend –
wieder Halt zu geben.
Doch dessen ungeachtet bleibt das harte Faktum: Die globale Finanz- und
Wirtschaftskrise von 2007/2009 als gewichtiger Bestandteil einer
„organischen Krise“ (Gramsci, Gef.5: 1070) des Kapitalismus, spezifisch
verflochten mit anderen gegenwärtigen Krisen wie etwa der Energie-, Wasser-
und Rohstoffkrise, der Klima- und Umweltkrise, offenbart sich als eine
„große Krise“ seiner bisherigen Geschichte. Sie zeigt gegenüber historischen
Vorläufern neue Wirkungen und Dimensionen, hinterläßt diverse Spuren in
Wirtschaft und Gesellschaft, führt zu bis dato unbekannten Aktivitäten und
Konsequenzen im nationalstaatlichen, internationalen und globalen
Krisenmanagement. Und vor allem: Sie wirft endlich viele theoretisch und
politisch spannende Fragen auf, die einer Klärung bedürfen. Wie sind diese
Krisen auf den Begriff zu bringen? Wie sind sie miteinander verbunden?
Welche dauerhaften Bedrohungen und Gefahren gehen heute von ihnen aus für
die Lebensverhältnisse von Menschen, für die Stabilität von Ökonomien und
Gesellschaften, für Natur und Umwelt? Schließlich: Wie ist mit diesen Krisen
umzugehen? Mit welcher Art von Politik kann ihnen möglicherweise begegnet
werden? Doch wenn es – wie durch die Geschichte hinreichend empirisch
verifiziert – keinen Kapitalismus ohne Krisen gibt, wie ist dann den
Verhältnissen zu begegnen, die sie stetig Krisen hervorbringen? Welche
politischen Optionen, welche realen Handlungsmöglichkeiten haben dabei
emanzipatorische Akteure zur Überwindung dieser Verhältnisse? Stehen wir
vielleicht am Beginn tiefer gesellschaftlicher Umbrüche, vor den
Herausforderungen einer neuen „Great Transformation“ des Kapitalismus (Karl
Polanyi)? Und wie stehen die Chancen für eine solidarische
Gesellschaftstransformation, welche Projekte bzw. Pfade zeichnen sich etwa
für „eine (noch) unmögliche Möglichkeit“ (Brie 2010: 12) ab?
Die wissenschaftliche Bearbeitung der Phänomene, Prozesse und
Herausforderungen dieser multiplen Krise ist nach anfänglicher Zurückhaltung
mittlerweile national wie international in Gang gekommen. Vertreterinnen und
Vertreter unterschiedlicher Denkschulen präsentieren ihre Analysen und
Deutungen. Treffend stellt Mario Candeias hierzu fest: „Systemkrise oder
business as usual, zwischen diesen beiden Positionen changiert die
Einschätzung der gegenwärtigen Krise. Doch weder ist der Kapitalismus als
solches in der Krise, noch kann die Form kapitalistischer Entwicklung der
letzten 30 Jahre einfach weiter verfolgt werden“ (2010: 3). Im
Theoriespektrum jenseits des neoliberalen Mainstream sind im
deutschsprachigen Raum zahlreiche Arbeiten erschienen, die Aufmerksamkeit
verdienen (vgl. u.a. Demirovic et al. 2011, Altvater 2010, Bischoff et al.
2010, Hein et al. 2010, Huffschmid 2010, Dellheim/Krause 2010, Vogl 2010,
Brand 2009, Candeias/Rilling 2009, Dullien et al. 2009, Horn et al. 2009,
Institut 2009, Otte 2009, Klein 2008). Und Periodika wie etwa
„Intervention“, „IMK-Report“, „Das Argument“, „Berliner Debatte Initial“,
Marxistische Blätter, „Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung“, „LUXEMBURG“
oder „Sozialismus“ haben sich – teils mehrfach – mit der Krise(n), ihren
verschiedenen Dimensionen und Aspekten, den Konsequenzen und Möglichkeiten
für alternative, emanzipatorische Politik, dem Agieren der verschiedenen
Akteure befaßt.
Ungeachtet der Unterschiedlichkeit der jeweiligen Standpunkte, gewählten
Perspektiven und vorhandenen Interessen lassen sich bei den Autorinnen und
Autoren eine Reihe von Gemeinsamkeiten in der Themenbearbeitung erkennen.
Worin bestehen diese vor allem?
Erstens in der Erkenntnis, daß die verschiedenen Krisenprozesse unstrittig
Resultat und Ausdruck der Irrationalität der Logik und Funktionsweise des
Kapitalismus im allgemeinen wie der Finanzmärkte und des
Finanzmarkt-Kapitalismus im besonderen sind;
Zweitens im Registrieren der Tatsache, daß Tiefe und Umfang, Ausdehnung und
Komplexität, Verflechtung und Spezifik der Krisen historisch erstmals in
dieser Dimension aufgetreten sind, die beobachteten Phänomene und Tendenzen
jenseits jeder „Normalität“ eines Konjunkturzyklus liegen, kurz: eine neue
geschichtliche Situation gegeben scheint;
Drittens im Thematisieren der evidenten Krise des Jahrzehnte dominierenden
Neoliberalismus, seiner spürbar gewordenen Defizite und Grenzen als
legitimierendes und organisierendes Denk- und Gestaltungsmuster des
herrschenden Blocks an der Macht sowie der damit verbundenen Notwendigkeit
des Umbaus von Strukturen, der Neuorganisierung und -orientierung im
Ressourcen- und Strategiebereich;
Viertens in der Aussage, daß diese Krise(n) unbedingt als Chance zu einem
generellen Umdenken in der Ausrichtung von Wirtschaft und Gesellschaft, in
Politik und ökonomischer Wissenschaft, in den Zielen und Motiven, der Art
und Weise menschlichen Lebens, Wirtschaftens und Verbrauchens sowie des
Umgangs mit der Natur und ihren Gütern zu nutzen ist;
Fünftens in der unübersehbaren Sensibilität für eine „Stunde der
Alternativen“, d.h. ein Plädoyer für Theorien und Praxen alternativen
Wirtschaftens, die „Fenster in eine andere Welt“ (Notz 2011) aufstoßen
können.
Der vorliegende Band versammelt Aufsätze von Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler der Rosa Luxemburg Stiftung sowie der Leibniz-Sozietät der
Wissenschaften zu Berlin zum facettenreichen Themenkomplex Kapitalismus –
Krise – Transformationen. Die Publikation versteht sich – das kann natürlich
gar nicht anders sein – als ein Beitrag zum aktuellen Krisendiskurs. Doch es
geht hierbei weniger um eine – durchaus wichtige und notwendige – Behandlung
von Ausmaß und Folgen der Krise(n). Vielmehr wird von den Autorinnen und
Autoren der Versuch unternommen, zum einen anhand der Entwicklungen jüngerer
Zeit erste verallgemeinernde Wertungen zu Kapitalismus und Krise, zur Frage
notwendiger gesellschaftlicher Umbauten/Transformationen zu treffen.
Zugleich wird nach möglichen wissenschaftlichen Konsequenzen für eine
alternativ-emanzipatorisch orientierte Kapitalismus- und Krisentheorie
gefragt, diese werden angedeutet bzw. eingefordert. Zum anderen werden – wie
die Titel der Beiträge belegen – spezifische Problemlagen und
Fragestellungen aus recht unterschiedlicher wissenschaftlicher Perspektive,
aus der Optik von verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen bearbeitet. Neben
Ökonominnen und Ökonomen sind in dem Band auch Philosophen, Historiker und
Wirtschaftshistoriker vertreten.
Zur Entstehungsgeschichte der Beiträge und des Bandes: Die Texte von Judith
Dellheim und Lutz Brangsch (Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa
Luxemburg Stiftung) sowie von Christa Luft, Gerhard Banse und Arne Heise (Leibniz-Sozietät)
entspringen der Bitte um Mitwirkung an diesem Band. Die Aufsätze von
Wolfgang Küttler, Wolfgang Eichhorn, Jörg Roesler, Ulrich Busch, Klaus
Steinitz und Günter Krause (Leibniz-Sozietät) basieren jeweils auf Vorträgen
vor dem Plenum bzw. der Klasse der Sozial- und Geisteswissenschaften der
Sozietät im Zeitraum von 2008 bis 2010. Diese Präsentationen wurden von den
Autoren für die nun vorliegende Publikation inhaltlich überarbeitet,
thematisch teils erweitert sowie natürlich auch aktualisiert.
Ursprünglich als jeweilige Einzelpublikation in Periodika der Sozietät
gedacht, wurde angesichts des Verlaufs der Krise(n) beschlossen – auch
nachdem in der Klasse ein zeitweiliger Arbeitsschwerpunkt zur Krise angeregt
wurde – die Vorträge als Grundstock für die Edition eines speziellen
Krisen-Bandes zu betrachten, weitere Kolleginnen und Kollegen der Sozietät
zur Mitarbeit einzuladen und die Rosa Luxemburg Stiftung zur Kooperation
anzufragen.
Stiftung und Sozietät sind schon seit längerer Zeit über gemeinsame
wissenschaftliche Vorhaben miteinander verbunden. Von beiden Institutionen
wird – das darf schon so festgestellt werden – diese fruchtbare
Zusammenarbeit geschätzt. Insofern ist es sehr erfreulich, daß diese
Zusammenarbeit mit dem vorliegenden Band eine weitere Bestätigung erfährt.
Für die freundliche finanzielle Förderung des Buchprojektes gebührt der Rosa
Luxemburg Stiftung besonderer Dank. Zugleich verdienen die
wissenschaftlichen Inspirationen, die gerade von verschiedenen Beiträgen und
Debatten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Instituts für
Gesellschaftsanalyse sowie speziell seines Direktors, Professor Dr. Michael
Brie, zur Bearbeitung der Thematik ausgingen, uneingeschränkte Anerkennung
und Würdigung.
Literatur
Altvater, E. (2010); Der große Krach: oder die Jahrhundertkrise von
Wirtschaft und Finanzen, von Politik und Natur, Münster.
Bischoff, J. et al. (2010); Die große Krise, Hamburg.
Brand, U. (2009); Die multiple Krise. Dynamik und Zusammenhang der
Krisendimensionen, Anforderungen an politische Institutionen und Chancen
progressiver Politik, Heinrich Böll Stiftung, Berlin.
Brie, M. (2010); Solidarische Gesellschaftstransformation – Skizze über eine
(noch) unmögliche Möglichkeit, in: Müller, H. (Hrsg.); Von der Systemkritik
zur gesellschaftlichen Transformation, Norderstedt, S. 12–56.
Candeias, M. (2010); Passive Revolutionen vs. sozialistische Transformation,
rls papers, Berlin.
Candeias, M./Rilling, R. (2009) (Hrsg.); Krise. Neues vom Finanzkapitalismus
und seinem Staat, Berlin.
Dellheim, J./Krause, G. (2010); Sichtbare Hände – Staatsinterventionismus im
Krisenkapitalismus, Berlin.
Demirovic, A. et al. (2010) (Hrsg.); ViefachKrise, Hamburg.
Dullien, S. et al. (2009); Der gute Kapitalismus ... und was sich dafür nach
der Krise ändern müsste, Bielefeld.
Gramsci, A.; Gefängnishefte, Berlin-Hamburg 1991ff.
Hein, E. et al. (2010); The World Economy in Crisis – The Return of
Keynesianism? Marburg.
Horn, G. et al. (2009); Von der Finanzkrise zur Weltwirtschaftskrise I-III,
IMK-Report Nr. 39–41.
Huffschmid, J. (2010); Kapitalismuskritik heute. Herausgegeben v. Hickel,
R./Troost, A., Hamburg.
Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa Luxemburg Stiftung (2009); Die
Krise des Finanzmarktkapitalismus – Herausforderung für die Linke,
kontrovers 01.
Notz, G. (2011); Theorien alternativen Wirtschaftens, Stuttgart.
Otte, M. (2009); Der Crash kommt. Die neue Weltwirtschaftskrise und was wir
jetzt tun können, Berlin.
Vogl, J. (2010); Das Gespenst des Kapitals, Zürich.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung 7
Günter Krause
Perspektiven und Grenzen des Kapitalismus als Gesellschaftsformation.
Historisch-kritische Bemerkungen zur Kapitalismuskritik von Marx 11
Wolfgang Küttler
Die jüngste Krise belebt die Systemdebatte 27
Christa Luft
Überlegungen zu Veränderungen des Staates in der Krise 41
Lutz Brangsch
Mehr Inflation durch Staatsverschuldung oder weniger Staatsschulden durch
Inflation? 63
Ulrich Busch
Krise und Produktivkraftentwicklung 87
Wolfgang Eichhorn
Historische Erkenntnisse zu progressiven Auswegen aus der aktuellen
Wirtschaftskrise 101
Jörg Roesler
When facts change, I change my mind ... – Neuere Entwicklungen in der
weltweiten Wissenschaftsgemeinschaft der Ökonomen und die heutige Situation
in Deutschland 123
Arne Heise
Thorstein Veblens Kritik am Kapitalismus – Denkanstöße vom „amerikanischen
Marx“ 143
Günter Krause
Zukunftsdenken zwischen Entwicklungs- und Risikoszenarien 149
Gerhard Banse
Aktuelle Fragen einer Dialektik des Antikapitalismus 169
Klaus Steinitz
Sozialökologischer Umbau – ein spezifischer Beitrag zur
Nachhaltigkeitsdebatte 185
Judith Dellheim
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 199
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