Der Autor Georg Ebert über das Buch
Ich wurde im Jahre 1931 in eine Familie hineingeboren, die in der
Geschichte bereits einen Namen hatte. Meinem Großvater Friedrich Ebert
waren in schwierigster Zeit die Geschicke Deutschlands in die Hand
gelegt worden. Auch für seinen ältesten Sohn – meinen Vater – galt die
politische Arbeit als Lebensinhalt. Und trotzdem haben beide so wie
andere gelebt, geliebt, gearbeitet und den Familienalltag mit allen
Höhen und Tiefen bewältigt.
Die Idee, dem Politiker Friedrich Ebert auch als
Privatmann ein weiteres Stück näher zu kommen, verdanke ich dem
Forschungsdrang meiner Frau Rosel, ohne deren intensive Recherchen das
vorliegende Ergebnis nicht zustande gekommen wäre. Mit fast 80 Jahren
verfolge ich die Spur zurück in die Anfänge der politischen Tätigkeit
meines Großvaters in Berlin und in die Kindheit meines Vaters. Von dort
aus spannt sich der Bogen bis zur Gründung der Weimarer Republik und der
Wahl des 1. Reichspräsidenten. Es ist unser Anliegen, den interessierten
Leser unter einem persönlichen Blickwinkel in
Lebensräume Friedrich Eberts und seiner Familie zu führen, die bisher
eher am Rande der Betrachtung lagen. Wenn es gleichzeitig gelungen ist,
mit dem vorliegenden Buch zu weiteren detaillierten Nachforschungen
anzuregen, hat sich die Arbeit
gelohnt. Denn letztendlich geht es auch um ein Stück BERLIN-GESCHICHTE.
Georg Ebert
November 2010
Inhaltsverzeichnis
Die Familie Ebert (Übersicht) 7
Vorbemerkungen 9
Neue Aufgaben 11
Boxhagen-Rummelsburg 1905–1911 15
Neue Bahnhofstraße Nummer 12 17
Knaben- und Mädchenschule 23
Umzugspläne 28
Treptow um 1910–1919 31
Defreggerstraße Nummer 20 33
In der Wohnung 42
Umkreis 46
Freizeit 61
Der Garten 64
Das Segelboot 77
In Müggelheim und anderenorts 93
Ärztliche Einflüsse 108
Dr. med. Franz Schönenberger 112
SR Dr. med. Arnold Freudenthal 122
Umbrüche
In den Zwängen der Macht 129
Berlin 1919 – Wilhelmstraße 144
Vorläufiger Wohnsitz 146
Präsidiale Familie 161
Beim Reichspräsidenten (Zeichnungen) 167
ANHANG 175
Kurzbiografien 177
Quellen- und Literaturverzeichnis 187
Bildnachweis 195
Über die Autoren 197
Leseprobe
Neue Aufgaben
Wer im Jahre 1905 aus dem Norden Deutschlands nach Boxhagen-Rummelsburg
zieht, hat einen guten Grund dafür. So auch der 34jährige Sattler,
Partei- und Gewerkschaftsfunktionär Friedrich Ebert, der auf dem
Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands im September 1905
zum Sekretär des Zentralvorstandes seiner Partei gewählt wurde. Das
machte einen Umzug in die Nähe Berlins notwendig. In diesem Vorort besaß
er einen Helfer, was die Sache wesentlich erleichterte.
Nach einem Polizeibericht vom 22. März 1910 ist Friedrich Ebert am
2.12.05 in Boxhagen-Rummelsburg zugezogen. Dieser Tag war ein Sonnabend.
Ganz sicher hatte die Familie an dem ersten Wochenende im Dezember mit
dem Umzug vollauf zu tun. Im Winter und drei Wochen vor Weihnachten
einen solchen Ortswechsel von Bremen ins Berliner Umland vorzunehmen,
dürfte nicht nur ein Vergnügen gewesen sein. Zumindest aus dem
Blickwinkel der Eltern. Ob die Kinder – wie Emil Felden schreibt – die
Trennung von Bremen und den Freunden tatsächlich als „Fest“ empfunden
haben, ist fraglich. Wie einiges andere auch, was dieser Autor in seinem
Fritz-Ebert-Roman schreibt. Ein Roman eben, in den eine Menge Erfundenes
eingeflossen ist, wie Friedrich jun. gegenüber seinem Sohn Georg
äußerte. Und der musste es schließlich wissen.
Emil Felden – Pastor in Bremen und zwischenzeitlich Chefredakteur einer
Zeitung in Kolmar – war von 1923 bis 1924 als SPD-Abgeordneter Mitglied
des Deutschen Reichstages. Für sein Buch führte er, wie man sagt,
persönliche Gespräche mit Louise Ebert und offensichtlich auch mit deren
Sohn Karl. Felden hat darauf verzichtet, deutlich zu machen, was
Dichtung und was Wahrheit ist. Deshalb gehen wir distanziert an seine
Aussagen heran.
So viel scheint allerdings festzustehen: Friedrich Ebert, der
frischgebackene Sekretär, wählte dieses Umzugswochenende, damit er sich
noch im Dezember mit seinen Arbeitsbedingungen in Berlin vertraut machen
konnte. Dadurch war es ihm möglich, zu Beginn des neuen Jahres richtig
loszulegen. Dass eine Menge auf ihn zukam, versteht sich von selbst.
Der Parteivorstand hatte sich – nachweislich seit dem Jahr 1905 – mit
dem Archiv der SPD in der Lindenstraße 69 im Südwesten Berlins
eingemietet. Seit 1902 befanden sich in dem großen Gebäude mit
Hinterhäusern neben anderen Mietern bereits die Expedition und Redaktion
der sozialdemokratischen Zeitung „Vorwärts“ sowie die dazugehörige
Buchdruckerei und Verlagsanstalt Paul Singer & Co mit Buchhandlung. Der
Eintrag im Einwohnerverzeichnis des Berliner Adressbuches für dieses
Jahr enthält auch den Vermerk zum „Vorwärts“: begr. 1902, Verlag des
„Vorwärts“ Berliner Volksblatt, SW 68, Lindenstr. 69 pt. u. H. (Hof),
Inh. August Bebel, Hermann Schubert und Paul Singer.
August Bebel und Paul Singer – nunmehr 65 und 62 Jahre alt – besaßen als
Vorsitzende der SPD eine unangefochtene Autorität. Sie zeichneten für
die politische Ausrichtung der Partei verantwortlich. Das schloss die
Pressearbeit ein.
Der Gewerkschaftssekretär Hermann Schubert übernahm 1904 die dritte
Firmenträgerschaft, die bisher Eugen Ernst innehatte. Eugen Ernst –
Buchdrucker von Beruf – war 1900/1901 Mitglied des Parteivorstandes und
die nächsten zwei Jahre sowohl Geschäftsführer, als auch Firmenträger
der Vorwärts-Verlagsanstalt. Später, bis 1918, fungierte er als
Hausverwalter der Druckerei „Vorwärts“.
Dass Zubeil im Erdgeschoss dieses Hauses eine Wirtschaft betrieb, wie
Felden schreibt, ist unrichtig. Fritz Zubeil besaß nur von 1890 bis 98
eine Gastwirtschaft – anfänglich in Berlin SO, Naunynstraße 86, ab 1894
in der Lindenstraße 106. Seit 1890 war er Stadtverordneter von Berlin.
Zu der Zeit, als Friedrich Eberts Tätigkeit in Berlin begann, arbeitete
der inzwischen 58jährige Karl Friedrich Zubeil als Expedient beim
„Vorwärts“ und wohnte in SO 36, Wienerstraße 14 b IV, in der Nähe des
Cottbusser Ufer. Außerdem war er inzwischen auch Mitglied des
Reichstages. In der Lindenstraße 69 gab es nur bis 1904 eine Wirtschaft,
die zuletzt dem Schankwirt Richard Augustin gehörte.
Friedrich Ebert nahm also seine neue Wirkungsstätte in Augenschein.
Mühlhausen schreibt unter Bezugnahme auf andere: „Das lange kolportierte
Bild von dem forschen neuen Sekretär, der die Parteizentrale erst einmal
organisatorisch umkrempelte und Technik mit Schreibmaschinen und Telefon
aufrüstete, stimmt so freilich nicht.“
Etwas genauer finden wir die Situationsschilderung bei dem im September
1906 auf dem Mannheimer Parteitag in den Parteivorstand gewählten
Hermann Müller-Franken. Das Buch „Friedrich Ebert und seine Zeit“ aus
dem Jahre 1926 enthält seine Erinnerungen. Hier nur ein kleiner Auszug:
„Vom Herbst 1905 ab arbeitete Friedrich Ebert im Büro des Vorstandes der
Sozialdemokratischen Partei, das sich damals noch im Hause Lindenstraße
69 im Südwesten Berlins in der vierten Etage befand. Ebert, obwohl von
Haus aus in keiner Weise bürokratisch veranlagt, hat die neuen
Errungenschaften der Büroarbeit dort eingeführt und so die technischen
Voraussetzungen für eine geregelte Statistik und bessere laufende
Beziehungen zwischen Zentrale, Bezirks- und Kreisorganisationen
geschaffen, die notwendig waren, wenn die Kadres der größten politischen
Parteiorganisation der Welt jederzeit manövrierfähig sein sollten.“
Die Arbeit in der Parteizentrale stellte Ebert vor besondere
Herausforderungen. Viel ist darüber geschrieben worden, dass er hier auf
die alten Genossen stieß, von denen er sich, was Tatkraft und
Arbeitsweise betraf, deutlich abhob. Trotzdem war Friedrich Ebert klug
genug, seinen Platz richtig zu erkennen. Die Alten im Vorstand
zeichneten sich immerhin als in der Parteiarbeit erfahrene Genossen aus,
die eine Menge auf dem Buckel hatten. Ihre Erfolge waren nicht zu
übersehen. Heute würden wir ihnen die Bezeichnung „Multifunktionäre“
geben. Zu Bebel und Singer kamen der 54jährige Hermann Molkenbuhr und
der schwer kranke fast 60jährige Ignaz Auer. Beide als Schriftsteller
und Redakteure ausgewiesen. Dazu der 64jährige Redakteur Wilhelm
Pfannkuch und der 48jährige Maschinenbauer Karl Alwin Gerisch, in dessen
Händen die Kassierung lag.
Alle hatten nicht nur Aufgaben im Parteivorstand wahrzunehmen. Sie
mussten auch ihrem jeweils konkreten Betätigungsfeld als Mitglieder des
Reichstages, als Stadtverordnete von Berlin und anderem gerecht werden.
Selbst Robert Wengels als Beisitzer stand einer Zeitungsspedition vor
und war gewählter Stadtverordneter. Müller-Franken erwähnt noch einen
zweiten Beisitzer Eberhard, über den aber nichts bekannt ist.
So wurde Friedrich Ebert nicht grundlos als neuer Sekretär vorgeschlagen
und vom Parteitag in Jena gewählt. Die SPD-Mitgliederzahl war gewaltig
angestiegen und Organisation und Aufgabenverteilung mussten der
veränderten politischen Lage Rechnung tragen. Da aber vorerst nur
Friedrich Ebert hinzustieß, sah er sich buchstäblich von einem Tag auf
den anderen in Fragen der praktischen Parteiarbeit als „Mädchen für
alles“. Solange, bis der fast 30jährige Hermann Müller-Franken auf der
Bildfläche erschien und die Verantwortung für das Pressewesen und die
internationale Arbeit übernahm.
In dem ersten Jahr seiner Berliner Tätigkeit wird Friedrich Ebert kaum
zum Luft holen gekommen sein. Ehrgeizig war er mit vollem Engagement bei
der Sache. Und trotzdem ist belegt, dass dieser Mann weder seinen
Familiensinn verlor, noch seine Freizeit dem Arbeitspensum gänzlich
opferte. Nicht zu vergessen, dass er sich – ebenso wie Frau und Kinder –
mit dem veränderten Wohnumfeld Stück für Stück vertraut machen musste.
Boxhagen-Rummelsburg 1905–1911
Die Gemeindeväter von Boxhagen-Rummelsburg unternahmen zu jener Zeit den
Versuch, Charakter und Anziehungskraft der typischen Arbeiterwohngegend
zu verändern. Zwischen 1889 und dem Anschluss an die zunächst
selbständige Stadtgemeinde Lichtenberg im Jahre 1912 bildete Boxhagen
mit dem jenseits der Ringbahn gelegenen Rummelsburg eine eigene
Landgemeinde. 1920 erfolgte die Eingliederung in die Berliner Großstadt.
Die Einwohnerzahl wuchs rasend schnell: Von knapp 17.000 im Jahre 1900
auf mehr als 40.000 im Jahre 1906. Die Gemeinde stand schon seit
längerem vor der Aufgabe, neue kommunale und soziale Einrichtungen zu
schaffen und die Infrastruktur auszubauen, wodurch sie zunehmend in
finanzielle Schwierigkeiten geriet. Wohnten hier in der Vergangenheit
überwiegend arme Arbeiterfamilien, suchten die Kommunalpolitiker nun
verstärkt, zahlungskräftigere Neubürger zu gewinnen, zu denen auf Grund
der jetzigen Tätigkeit auch Friedrich Ebert gehörte.
Friedrich Ebert fand eine Wohnung im Boxhagener Teil der Gemeinde in der
Neuen Bahnhofstraße 12. Diese Straße gehörte zu einem Baukomplex, der
zwischen 1901 und 1905 rund um den Stadtbahnhof Stralau-Rummelsburg
errichtet wurde.
In kürzester Zeit entstand hier ein Mietshaus neben dem anderen. Ein
Wohnhaus mit Seitenflügel wurde in der Regel in einem halben Jahr
fertiggestellt. Das allein am Profit orientierte Baugeschehen wirkte
sich nachteilig auf die Qualität der Häuser aus. Trotzdem waren die
Wohnungen begehrt. In seiner Stadtteilgeschichte „Boxhagen zwischen
Aufruhr und Langeweile“ schreibt Wanja Abramowski dazu:
„Schnell entwickelte dieses Neubaugebiet, nicht zuletzt wegen seiner
günstigen Lage zum Bahnhof der Stadtbahn und der guten Wohnausstattung
mit 1-3-Zimmer-Wohnungen, meist Innen-WC, Wasser-, Abwasser- und
Gasversorgung sowie mit zahlreichen Läden und Kneipen, einen guten Ruf,
der wiederum eine gutsituierte, selbstbewusste Arbeiter-, Handwerker-
und Händlerbevölkerung, also nicht unbedingt ärmere Schichten anzog.“
Die Grundstücke auf der östlich gelegenen Seite der Neuen Bahnhofstraße
zwischen Alt-Boxhagen und Weserstraße (Hausnummern 7b bis 17) gingen zu
einem großen Teil in den Jahren 1904 bis 1911 an den in Karlshorst
wohnenden Fabrikanten Georg Knorr über. Im Herbst 1904 hatte die
Herstellerfirma von Luftdruckbremsen Carpenter & Schulze, deren Inhaber
Knorr war, ein Grundstück in der Nummer 11 der Neuen Bahnhofstraße
bezogen und einen Teil des Betriebes von Britz bei Berlin dorthin
verlegt. Nach und nach sollte das ganze Unternehmen in dieser Gegend Fuß
fassen.
An Hand der Berliner Adressbücher – die jeweils die Angaben der Vorjahre
enthalten – ergibt sich Folgendes:
In den Jahren 1904/05 wurden die Mietshäuser Nummer 11 und 12 errichtet
und bezogen. Rückwirkend für das Jahr 1905 kann man aus dem Adressbuch
von 1906 schließen, dass die Nummer 11 – mit überwiegend drei Parteien
auf den Etagen – zu dieser Zeit bereits voll belegt war, während in der
Nummer 12 dagegen die Wohnungen erst nach und nach ihre Mieter fanden.
Wer nach Oktober des laufenden Jahres einzog, ist in der Regel in diesem
Adressbuch nicht vermerkt. Das trifft so auch auf Friedrich Ebert zu.
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