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Sommer, Heidrun

Die Nichte auf dem Weg in die Stadt und andere Erzählungen

2010, 226 S., mit 30 Grafiken von Heidrun Sommer, ISBN 978-3-89626-960-7, 16,80 EUR

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Inhalt



Die Nichte 7
Kiezgeschichte (1) 64
Kiezgeschichte (2) 72
Kiezgeschichte (3) 81
Kiezgeschichte (4) 86
Effi 89
Fräulein von Kricheldorf 92
Eine Reise nach Tallinn, St. Petersburg und Vilnius 100
Eine Reise in das Kaliningrader Gebiet und nach Litauen 106
Die Busreise nach Brüssel 117
Die Reise nach Rumänien. Aufzeichnungen von 1976 120
Die Reise nach Bulgarien über Siebenbürgen mit abschließendem Aufenthalt in Budapest. Aufzeichnungen von 1982 125
Die Reise nach Finnland 151
Stadtbummel durch Porvoo 163
Langer März 169
Gespräch am Pfuhl 171
In der S-Bahn 172
Kreisspiel der Wolken 174
Cornwall 175
Norwegen 177
Abriss 178
An der Haltestelle 180
„Cut and Go“ 182
Der Grosse, der Schwarze 184
Die Alten 186
Es regnet 189
Frühlingsanfang 190
Grün 192
Auf der Parkbank im Winter 193
Handy 195
Ein gutes Sylvester 196
Nichts ist schwerer 198
Warten 200
Warten an der Haltestelle 204
Wetterwechsel 206
Mitten in der Nacht 208
Buspause 209
Lilli und Dunni 210
Handgepäck 212
Grüße aus der Sonntagsruhe (aus den Briefen meiner Mutter) 214

 

 

Leseprobe

 

Die Nichte
Gedeckter Tisch.
Morgensonne auf blinkendem Goldrandporzellan. Das Damasttuch mit scharfen Bügelfalten.
Die große Platte mit Spiegeleiern; gold-gelb gebraten. Feste Kruste um das schwere Dotter..
Schnell noch einmal ohne Mantel über den Hof. Die Eier wurden stets zuerst alle.
Schnell zu den Hühnern.
Ja, es wollte ein neues Ei heraus.
Die Hinterteile der Hühner sahen aus wie gerupft. Bei einem Huhn sichtbar eine Beule. Das Ei drückte.

Der Spiegeleierfrühstückstisch war ein sonntäglicher. Der Besuch kam immer sonntags mit dem 9-Uhr-Zug.
Die Nichte mochte Verwandtenbesuch aus der Stadt. Er brachte die Aura der Städter mit sich.

Jedoch, stieg der Besuch abends wieder in den Zug, der ihn zurückbringen sollte in die Stadt, empfand die Nichte keine Traurigkeit, im Gegenteil, ihr Leben erschien ihr sicherer als das der Stadtmenschen.
Wohin die Züge fuhren, die aus der Stadt kamen, wusste sie nicht.
Woher die kamen, die in die Stadt fuhren, auch nicht.
Ahnungen, ja, die hatte sie.
Damals war sie zehn Jahre alt.
Die Nichte wohnte im Nachbardorf jenseits des Bahndamms.
Sie hatte das Schrankenproblem.
Die noch geöffneten Schranken im Auge, trat sie in die Pedalen ihres Fahrrads, als gelte es zu zeigen, wer schneller ist, der Zug oder sie?
Oft gingen ein paar Sekunden zu früh die Schranken herunter.
Die Nichte ließ ihr Rad ausrollen.
Kam ein Güterzug, so zählte sie die Waggons, hoffte ihren Zählrekord zu brechen.
Außerdem wettete sie mit sich, ob die Lokomotive pfeifen würde oder nicht. Meistens pfiff das Ungeheuer.
Dann meinte die Nichte gewonnen zu haben.
Übernachtete sie bei ihrer Tante, dann lauschte sie hellhörig in die Nacht hinein.
Die Schnellzüge nahten, um sich zu entfernen.
Der verschwindende Klang der Räder war der Nichte zugleich unheimlich und angenehm.

Manchmal half die Zehnjährige ihrer Tante Bohnen zu ernten. Durch den Verkauf der Bohnen verschaffte die allein stehende Tante sich eine finanzielle Nebeneinnahme.
In Gedanken fragte die Nichte, warum es ausgerechnet Bohnen sein mussten.
Bohnen waren in ihren Augen das langweiligste Geschäft der Welt. Sie sprach es nie aus.
Nicht nur das Pflücken in gebückter Haltung war beschwerlich. Auch hinterher, das Beschneiden der Enden einer jeden Bohne war das langweiligste Geschäft ihres Lebens.
Hatte es vor dem Pflücken geregnet, waren die Bohnen schwerer, brachten mehr Geld.
Oft sollte die Nichte nach dem Regen pflücken.

Im Haus am Bahnhof gab es eine geräumige Küche. Den Steinfußboden wischte die Tante regelmäßig mit heißer Seifenlauge
Das Wischen erfolgte in Richtung Hinterausgang.
Das Schmutzwasser wurde nach letztmaligem Auswringen des Scheuerlappens in Richtung Hühnermisthaufen geschüttet.
Mit genug Kraft und Schwung klappte dies, ohne dass die Küche verlassen werden musste.
Die Tante hatte einen großen alten Herd, der zum Heizen,
Kochen und Braten diente. Manchmal loderte das Feuer aus der Herdplatte heraus.
Die runde Öffnung in der Herdplatte konnte je nach Größe des Topfes vergrößert oder verkleinert werden.
Das emporlodernde Feuer jagte der Nichte regelmäßig einen Schreck ein. Am liebsten war ihr die geschlossene Herdplatte, zum Beispiel während der Marmeladenzeit.
Die Früchte aus dem Garten köchelten stundenlang vor sich hin, ohne dass etwas passierte.
Die Nichte, nun älter geworden, durfte die Marmeladengläser vom Dachboden herunterholen. Auch wenn der voller Staub und Spinnweben war, sie tat es gern.
Jeder Grund, auf den Dachboden zu steigen, war ihr recht.
Stand doch hier das alte Regal mit den Filmprogrammen.
Die Programme waren ausschließlich in schwarz-weiß
gedruckt.
Die Fotos der Schauspielerinnen zeigten der Nichte, wie sie später aussehen wollte.
Jedes ihrer Kleider sollte einen schneeweißen Kragen haben.
Einen Trenchcoat würde sie sich kaufen, den Gürtel fest um ihre Taille binden.
Einen schwarzen Lidstrich würde sie sich ziehen, damit ihre Augen so groß und staunend schauen konnten wie die der Schauspielerinnen.
Ein verschämter Blick auf einen Mann, dazu ein Schmollmund, die Programme faszinierten sie.
Immer sonnabends kam der Filmvorführer ins Dorf.
Noch durfte die Nichte nur in die Nachmittagsvorstellung.
In der Futterkammer stellte sie sich den Abendfilm vor.
Kam ein Lichtstrahl durch die Hühnerluke, so war dieser durch staubige Luft sichtbar.
Ähnlich wie der Strahl im Dorfgasthof, den der Filmvorführer auf die Leinwand warf.

Wenn die nunmehr Zwölfjährige im Hühnerstall Eier einsammelte, griff sie vorsichtig in die dunklen, oft noch warmen Nester. Lag ein Windei im Nest, entfuhr ihr ein Schrei, der dem einer Schauspielerin in nichts nachstand.
Die Windeier drohten leicht zu zerplatzen, wurden deshalb zum sofortigen Verbrauch an den Herdrand gelegt.

Die Tante ließ ihre Nichte neuerdings die Eier für die Ablieferung stempeln.
Manche Eier mussten vorsichtig mit dem feuchten Lappen
gesäubert werden. Die Stempelfarbe haftete erst, nachdem die Eierschale trocken war. Abgeliefert wurden jeweils 100 Stück.
Abliefern ging auch die Nichte, da der starke Redefluss der
Eierabnehmerin die Tante nervte.
Die Zwölfjährige hingegen saß ruhig in der Küche der Abnehmerin und lauschte den reichlichen Erklärungen.
Es gab drei Größenklassen für Eier, nach denen sich der
Ankaufpreis richtete.
Die Abnehmerin ordnete zu Groß, was sie konnte. Ihr Redefluss war feucht.
Die Worte flossen aus ihrem Mund, die verbliebene Feuchtigkeit wurde seitlich wieder eingesogen, um die nächsten Worte in Fluss zu bringen.
Die Nichte war daran gewöhnt, es machte ihr nichts aus. Sie wunderte sich nur, warum die Eierabnehmerin so oft erklärte, dass manche Eier der Klasse Groß nicht gerecht würden.
Was wussten schon die Hühner von groß, klein und mittel; sie legten kleine Eier nicht mit Absicht.
Es war meist Abend geworden wenn die Nichte mit dem Geld im leeren Eierkorb im Haus am Bahnhof eintraf.

Wenn die Tante den Verwandten aus der Stadt Eier mitgab, legte sie jeweils fünf in eine Reihe, wickelte sie in Zeitungspapier.
Zwei Fünferrollen ergaben eine Zehnerrolle, die nochmals so fest eingewickelt wurde, dass die Eier immer heil ihr Ziel
erreichten.
Musste die Tante zum Arzt in die Stadt, nahm sie ein Zehnerpaket mit. Mit leeren Händen wollte sie den Dienst des Arztes nicht in Anspruch nehmen.

Im Haus am Bahnhof kehrten täglich zwei Nachbarinnen ein. Sie kündigten sich bei Betreten des Hauses auf die ihnen eigene Weise an; die eine mit kurzen, starken Atemzügen, die andere mit an den Körper gepresstem Arm, gestützt von der linken Hand.
Die Kurzatmige nannte die Nichte heimlich Frau Hustensaft, die mit dem Arm Frau Analgin, da es Frau Analgin täglich nach dieser Schmerztablette verlangte.
Bei Frau Hustensaft gingen Sprechen und Atmen zugleich erst nach geraumer Zeit. Die Tante sprach kein Wort der Begrüßung, bevor die Nachbarin nicht zehn- bis zwanzigmal kräftig durchgeatmet hatte. Nach dem Platz nehmen auf dem Küchenstuhl kamen langsam die Worte, unterbrochen von abebbendem Hustenanfall. Der Husten, die Kurzatmigkeit, das Hervorwürgen des Schleims verließen Frau Hustensaft in ihrem Leben nicht mehr.

Im Winter saß sie in ihrer warmen Stube im Sessel am Fenster, schaute aus nach den Vorübergehenden. Wenn die Nichte von draußen kommend die Tür zu Frau Hustensafts Küche öffnete, wusste diese, wer gekommen war. Der Eintritt von der Küche aus in die geheizte Stube konnte nicht schnell genug gehen, denn die Küche, im Winter eisig kalt, war nicht heizbar. Immer, wenn die Nichte gekommen war, musste sie sofort in die Eiseskälte zurück, um den Tauchsieder anzustellen. Von der Stube aus mahnte Frau Hustensaft, nicht zu wenig Kaffeepulver in die Tassen zu füllen. Nach dem ersten Schluck Bohnenkaffee fragte die Nichte
gewöhnlich nach den Fotos der Enkelkinder, ob der Postbote neue gebracht hätte, bestand darauf, alle Fotos in Ruhe anzusehen, auch die, die sie kannte. Dann kamen die Briefe dran. Bestimmte Textstellen sollte die Zwölfjährige vorlesen. Immer wieder.

Mit Frau Analgin war das Einvernehmen nicht so groß. Frau Analgin jammerte aus Prinzip.
Weil ihre Stimmung sich besserte mit dem Jammern, meinte die Nichte, die Armschmerzen müssten abgejammert werden.
Der Arm wurde zusehends gelenkiger, wenn Frau Analgin mit ihm in der Luft herumfuchtelte, um diesem oder jenem aus der Nachbarschaft zu drohen.

Wenn die Nachbarinnen das Haus am Bahnhof verließen, sah die Nichte ihnen vom Fenster aus hinterher, sah, wie die eine wieder mit der linken Hand ihren rechten Arm stützte und die andere sich Zellstoff vor den Mund hielt, um der Gefahr des Würgens rechtzeitig ins Auge zu sehen.
Die Nichte wusste, wenn sie gegen Abend aus dem Fenster sah, würde sie Frau Analgin nochmals sehen. Sie hatte dann ihr Gras gemäht. Ihren alten Handwagen zog sie hinter sich her, sich ständig nach der wackeligen Ladung umsehend. Das Gras fraßen die Kaninchen, bis sie schwer und rund waren.
Kaninchen brachten mehr Geld als Bohnen.

Während des dunklen Novembers war die Nichte selten im Haus am Bahnhof. Sie half ihren Eltern bei der Ernte der Steckrüben. Das Steckrübenfeld sah aus wie bereits abgeerntet. Die Blätter der kleinen Futterrüben krümmten sich über dem Sand, als wollten sie ihre dicke Wurzel, die Rübe, schützen. Die nunmehr Vierzehnjährige riss oft den Blätterstrunk ab, ohne die Rübe in der Erde auch nur bewegt zu haben. Mit klammen Fingern, die Fingernägel vom nassen, körnigen Sand eingerissen und abgebrochen, war sie oft am Verzweifeln.
Gegen Abend hob sie endlich ihren mit Blättern gefüllten Sack auf ihr Fahrrad, um dieses nach Hause zu schieben. Die Rüben standen in großen Drahtkörben zur Abholung mit dem Pferdefuhrwerk bereit.
Zu Hause wartete lautstark das Vieh, wollte mit Futter versorgt werden.
Die Nichte drehte den Deckel des Kartoffeldämpfers lose, goss das Kochwasser ab, ließ danach die garen Kartoffeln in den Holzbottich kullern. Vom heißen Dampf wurde die Gesichtshaut feucht und geschmeidig.
Schnell rannte das Mädchen in die Küche, um sich ihr Gesicht im Spiegel zu betrachten.

Die abgekochten Kartoffeln hatte sie am Nachmittag mühselig in der dunklen Scheune entkeimt. Drei Kiepen abkeimen für einen Dämpfer voll dauerte eine Stunde. Einmal hatte sie in der Scheune ein Nest mit nackten rosa Mäusen entdeckt.
Sie war damals schreiend ins Freie gelaufen.
Am angenehmsten war das Abkeimen, wenn im Winter die Sonne schien, die Vorder- und die Hintertür zur Tenne weit offen standen.

Nach dem Füttern wurde es ruhig in der Schweinehütte. Auch die Nichte wurde ruhig.
Sie dachte über den bevorstehenden Wechsel in eine weiterführende Schule nach.
Die Woche über sollte sie im Internat der Kreisstadt wohnen.
Sie war unschlüssig. Die Tante hatte zugeraten.
Hatte nicht der Stall, in dem sie sinnend den schmatzenden
Geräuschen der Schweine zuhörte, etwas Tröstliches?
Sie sah zur Decke hinauf. Nur Stroh und Spinnweben. Polster über Polster, keine Verletzungsgefahr.
Doch irgend etwas warnte sie, sich einzukuscheln.
Am nächsten Tag schwang die Nichte sich auf ihr Fahrrad, um ihre Tante zu besuchen. Oft stieß sie mit den Pedalen an die Gras-soden des ausgefahrenen Weges, kippte mit dem Fahrrad um.

*

Oft rollte die Nichte sich abends in die Bettdecke, um etwas Abgeschiedenheit zu spüren. Ihr Doppelstockbett im Internat stand mit dem Kopfende hinter dem Kleiderschrank, in dem die Schülerinnen ihre Fächer für Wäsche und Kleidung hatten.
Nein, am Sonntagabend bei der Ankunft in der Kreisstadt, zählte sie nicht zu denen, die sich jubelnd um den Hals fielen.
Sie wartete ab Montag auf das Wochenende. Nach kurzer Einkehr bei der Tante fuhr sie stets gleich nach Hause. Hier standen Bratkartoffeln bereit. Die Angekommene schlug zwei Eier in die Kartoffeln, stieg die Kellertreppe hinab, um sich aus dem Gurkentopf eine Salzgurke heraufzuholen.

Im Keller roch es muffig. Der Steinfußboden wies die schleimigen Spuren der Schnecken auf. In den Ecken das Rattengift. Hinter der Stiege die Eisentonne mit Sand, in dem die Möhren überwinterten. Auf dem großen Holztisch, wie immer der dunkelbraune Tortenboden für das Wochenende.

Die Heimgekehrte wusste ihr eigenes Zimmer zu schätzen. Sie schob oft die Gardine zur Seite, um den Regentropfen zuzusehen, die im dunklen Geäst der Bäume schimmerten.
Die Sprache der Regentropfen verstand sie wie die Sprache der tosenden Räder der Schnellzüge.
Hatte nicht letzte Woche im Musikunterricht ihr Lehrer vom Krieg erzählt, davon, dass er darunter litt, monatelang keine klassische Musik gehört zu haben?
Er hatte sich aus dem Rhythmus der Räder des Güterzuges, in welchem er eine ganze Nacht lang durch ein fremdes Land fuhr, Ravels Bolero herausgefiltert.
Er schaffte es, sich einzubilden, klassische Musik gehört zu
haben.

An einem Wochenende im Herbst, die Nichte war jetzt 17, hatte sie auf dem Weg zu ihrer Tante Rückenwind.
Als sie sah, dass die Schranken heruntergehen wollten, meinte sie noch einmal das alte Spiel spielen zu müssen. Diesmal würde sie gewinnen.
Sie trat mit aller Kraft in die Pedalen ihres Fahrrads. Zum Glück waren die Schranken schneller, der Bahnwärter sah erleichtert aus.
Die Nichte resignierte.
Bald würde sie 18 werden.
Wie würde überhaupt alles werden?
Abschied nehmen. Es durchlief sie ein Zittern.
Sie konnte nicht erklären, warum sie sich am liebsten in der freien Natur aufhielt.
Die Natur war groß und weit.
Ihr Dorf wurde ihr eng, auch die Kleinstadt, in der sie nun das vierte Jahr im Internat wohnte.
Was würde werden nach dem bestandenen Abitur? Sie wusste es nicht.
Nur eines wusste sie, sie wollte weites Land, weiten Himmel, aber keine Schranken, die sie zwangen anzuhalten und zu warten.

*

Die kleine alte Truhe war kaum anzuheben, als die Nichte sie zusammen mit ihrem Vater in den Kofferraum des alten Skoda hob.
Die Bücher waren schwer.
Alles andere, Geschirr usw., würde sie sich in B. kaufen. Bettwäsche, Handtücher, sie nahm die Reisetasche hoch, hievte die kurzen Henkel über die Schulter.
Die andere Schulter war für die hellbeige Ledertasche aus dem Jagdladen; Geld, Ausweis, ein sauberes, gut gebügeltes Taschentuch, die Fahrkarte in die Hauptstadt, diesmal nicht hin-und zurück.
Sie ertappte sich dabei, sich jetzt schon auf das Zurück zu
freuen.
Wie wollte sie bei solchen Gedanken in der Großstadt heimisch werden?
Während der Bahnfahrt wurde ihr leichter.
Als sie den Schlüssel für die Einraumwohnung endlich in den Händen hielt, überkam sie ein noch besseres Gefühl.
Es war Hochsommer. In der Wohnung ihrer Schulfreundin, die sich bei ihrem Freund aufhielt, roch es muffig.
Das Fenster wackelte beim Öffnen.
Im Winter würde sie es abdichten müssen.
Der Weihnachtsstrauß war noch jetzt dekorativ.
Sie legte auf dem braun gestrichenen Holzfußboden alte Zeitungen aus, um die nadelnden Zweige vorsichtig einzuwickeln.
Die Mülltonnen unten im Hinterhof waren bis oben voll
gepresst mit Abfällen.
Sie stauchte den Strauß mit Müh und Not in eine der Tonnen.
Das kleine braune Glas mit löslichem Kaffee war noch heil.
Mit der Reisetasche war sie mehrere Male beim Aussteigen aus dem Zug an die Abteiltüren gedrückt worden.
Um den löslichen Kaffee hätte es ihr leid getan.
Der zwei flammige Gasherd würde ihr im Moment nichts nützen. Es waren keine Streichhölzer da.
Der Boiler. Sie musste nur den Stecker in die Steckdose
stecken. Es würde einen Moment dauern. Sie fand einige
Tassen vor, Bürgel. Sie wollte, immer wenn die Schulfreundin in ihrer alten Wohnung vorbeischaute, ihr etwas von dem fremden
Geschirr mitgeben.
Nach und nach wollte die Nichte von eigenem umgeben sein: altes Geschirr, schöne Möbel.
Der Boiler gab Blubberlaute von sich.
Ein knapp gehäufter Teelöffel auf eine Tasse.
Milch fehlte. Dennoch ein feierlicher erster Schluck Kaffee allein in der eigenen Wohnung.
Als sie hinter sich abschloss, war ihr inneres Gefühl ein weiteres mal leichter geworden.
Einen Laden fand sie schnell. Es war der Laden, in dem die Verkäuferin mit den geduldigen Armbewegungen zum Teil ihres zukünftigen Feierabends werden würde.
Wo den leeren Drahtkorb abstellen? Die Verkäuferin wies sie an; einmal für sieben Folgejahre.
Nur noch einmal fragte die Nichte nach Schnittkäse, dann kannte sie jede Ecke des Ladens.
Auch die anderen beiden Verkäuferinnen.
Eine musste die Leiterin gewesen sein, sicher war sie sich bis zum Schluss nicht.

*

Der Schluss war der Tag vor ihrem ersten Umzug innerhalb B.’s, als ihre dreijährige Tochter beim Anstehen an der Kasse ungeduldig wurde.

*

Als es das erste Mal an der Tür klingelte, lag fast schon eine Selbstverständlichkeit darin, wie die Nichte öffnete, ohne zu fragen, wer da sei.
Der erste Besuch war wie eine Bestätigung. Es stand derjenige vor der Tür, der ihr auf einer Karte geschrieben hatte: komm auch nach B. Diese Karte in der Hand war sie in der Bezirksstadt aufs Hauptpostamt gegangen, um sich das Telefonbuch von B. vorzunehmen, Adressen von kleinen Betrieben herauszusuchen, denen sie durchweg schrieb, dass eine Wohnung in B. vorhanden wäre.
Das gab den Ausschlag.
Sie bekam die Stelle, sollte von nächster Woche an dort zur
Arbeit gehen, wo sich heute die Touristen drängen. Die Hackeschen Höfe erkennt die Nichte heute nicht wieder.
Ihr Besuch war der sensible K. Zu ihm hatte sie schon in der
Bezirksstadt ein Verhältnis entwickelt, wie zu einem Eingeweihten. Eingeweihter? Wen meinte sie damit?
Wohl jemanden, dem es auch zu eng geworden war, der suchte nach denen, die einen eigenen Weg gehen wollten. Die einander erkannten nach den ersten Sätzen, die Gedankenaustausch suchten. Eigenen Maßstab wollten.
K. nahm den löslichen Kaffee.
Sie gingen danach etwas essen. In der Tasche den Wohnungsschlüssel, spürte die Nichte das erste Mal, dass sie nicht Rücksicht nehmen musste auf diejenige, bei der sie untergekommen war. Und wenn sie nachts um 2 Uhr nach Hause käme, niemanden würde es interessieren.
Ein gutes Gefühl überkam sie erneut.

Man habe gehört, dass sie aus der DDR komme. Das waren die Worte, mit denen die Nichte begrüßt wurde im Büro der Schneiderwerkstatt, die neuerdings vor ihrem Namen das VEB trug. Die Nichte war geradezu entsetzt. B., zumindest der Ostteil, sei doch auch die DDR. Sie wurde von der Berlinerin belehrt, B. sei etwas Eigenständiges.
Der Schreck ging schnell vorüber.
Bei der ersten Versammlung wurde ihr ein schwarzer Tee
angeboten. In dem großen, hallenartigen Büro standen mehrere Heizsonnen, obwohl es Sommer war. Doch sie brannten nicht.
Der Fahrstuhl, mit dem sie das Büro erreichte, war mit einem Eisengitter ummantelt, das vor grauer Staubflusen kaum zu sehen war. Zum ersten Mal fühlte die nunmehr Berlinerin sich gebraucht, schickte Herrenanzüge sonst wohin. Sie wartete nicht, wie im Internat oder in der Fachschule für Binnenhandel, auf die Wochenendfahrten in ihr Heimatdorf.
Einmal, in der Mittagspause, kam ihre junge Kollegin, die Sekretärin, mit zwei riesigen Beuteln Kleidung ins Büro. Unten hatte ein An- und Verkauf aufgemacht. Die Kollegin hatte sich neu eingekleidet. Das, was in ihrem Schrank hing, würde sie morgen verkaufen. Da überkam es die Nichte wieder, dieses Gefühl, einer Eingeweihten begegnet zu sein.
Einer, die von heute auf morgen neue Modegrundsätze hatte, diese umsetzte auf Biegen und Brechen, um danach schnell zu spüren, dass doch wieder alles beim Alten war.
Auch die Nichte war entschlussfreudig. Gestern hatte sie mit der Schere ihr Kleid halbiert, um daraus ein Sofakissen zu nähen. Die Reue am heutigen Tag verflog problemlos. Dafür lagen in ihrer Zeichenmappe 20 Radierungen.

Angefangen hatte es mit den Radierungen so:
Die Nichte war schon in der Bezirksstadt in einen Zeichen-
zirkel gegangen. In diesem bekam sie Minderwertigkeitsgefühle, da man ihr immer wieder eine Streichholzschachtel hinlegte, einmal schräg hochkantig, einmal gerade flach aufliegend, ihr erklärte, was sie falsch gemacht hatte, und wozu sie nicht in der Lage sei. Dabei hingen im Wohnzimmer der Eltern und der Tanten und Ihrer Schwester Landschaften von ihr, die unverwechselbar waren.
In B. wollte sie es noch einmal versuchen.
An der Staffelei nahm sie den Kopf des Modells in Augenschein. Der Zirkelleiter meinte, sie solle sich erstmal ganz lösen, innerlich zurücklehnen.
Das gefiel der Nichte. Sie versuchte die zweite Zeichnung. Das Lernen ginge aber schnell bei ihr, so der Kommentar. Auch
später, als der Zirkelleiter meinte, es gäbe etwas zu kritisieren, doch er wolle ihr wiederum ihre Art lassen, fühlte sie sich wohler als im Zirkel in der Bezirksstadt.
 

 

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