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Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät, Band 107 (2010)

 

trafo Wissenschaftsverlag 2010, 180 S., ISBN 978-3-89626-952-2, 19,80 EUR
 

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Inhalt

 
 

Karl Lanius: Tipping Points – Beispiele aus Natur und Gesellschaft

Christa Luft: Verselbständigung der Finanz- gegenüber der Realwirtschaft – Überakkumulation als Krisenquelle

Wolfgang Schmitz: Horst Kunze – Bibliothekar, Buchwissenschaftler und Bibliophiler

Detlef Nakath: Zur Entwicklung der deutsch-deutschen Beziehungen in der Ära Honecker

Hans-Otto Dill: Alexander von Humboldt – Reiseschriftsteller, Lateinamerikanist, Sozialwissenschaftler

Winfried Engler: Transitive oder intransitive Zeichen. Theorien postmoderner Tiefenlosigkeit

Armin Jahne: Mitläufer wider Willen oder Parteigänger Hitlers. Wilhelm Webers Berliner Jahre (1932–1945)

Nachrufe

Rezension: Hannelore Bernhardt: Leonhard Euler 1707–1783. Mathematiker – Mechaniker – Physiker.

 

 

 Leseprobe

 

Wir wollten den Ausdruck dieses Beitrags gerade zur Endkorrektur verschicken, als wir die Nachricht vom unerwarteten Tod des Autors erhielten. Nun wird dies der letzte Beitrag von Karl Lanius in den ,, Sitzungsberichten " bleiben. Noch einmal hat er seine Stimme zur Warnung vor einem nicht mehr beeinflussbaren Wandel, einem „Umkippen" in Natur und Gesellschaft erhoben. Nehmen wir seine Warnungen ernst, suchen wir nach Lösungen, solange es nicht zu spät ist. So wird Karl Lanius noch lange in unseren Gedanken weiter wirken. Die Redaktion
 

Karl Lanius
Tipping Points-Beispiele aus Natur und Gesellschaft


Vortrag im Plenum der Leibniz-Sozietät am 10. Dezember 2009
 

Eine der bedeutendsten Motivationen für das Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis ist, aus der Kenntnis der Naturgesetze Prognosen über den Ablauf von Prozessen geben zu können. Wenn ein Pilot zu einem Atlantikflug startet, will er wissen, welches Wetter ihn während des Fluges erwartet; wenn menschliche Aktivitäten einen weltweiten Anstieg klimarelevanter Spurengase, z.B. Kohlendioxid, in der Atmosphäre bewirken, wollen wir wissen, welche Auswirkungen dieses auf das Klimasystem der Erde haben wird.
In beiden Fällen haben wir es mit kausal determinierten Prozessen zu tun, für die wir im Wesentlichen sowohl die wirksamen Naturgesetze als auch die Anfangsbedingungen der Systeme kennen. Wie wir heute wissen, sind für solche komplexen Systeme über eine gewisse Zeit hinaus keine Vorhersagen möglich - auch keine Wahrscheinlichkeitsaussagen. Ursache dieses Verhaltens sind Eigenschaften, die bewirken, dass winzige Differenzen in den Anfangsbedingungen zu gewaltigen Differenzen in den Folgeprozessen führen können. Selbst bei voller kausaler Determiniertheit aller Einzelprozesse erweisen sich komplexe Systeme über eine charakteristische Zeit hinaus nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch als unvorhersehbar. Im Falle des Wetters liegt dieses Zeitintervall bei mehreren Tagen, im Falle des Klimas vermutlich bei einigen Jahrzehnten.
Ein tipping point - oder Kipppunkt - bezeichnet eine kritische Schwelle, an der eine winzige Veränderung zu einer qualitativen Änderung in der weiteren Entwicklung des Systems führen wird. Nicht nur komplexe natürliche Systeme können kippen. Auch das sozialökonomische System, das gegenwärtig unser Leben bestimmt, befindet sich in einer tiefen Krise. Wir können nicht vorhersagen, ob es sich einem tipping point soweit nähern wird, dass bei seinem Überschreiten eine Rückkehr zu den bisherigen gesellschaftlichen Verhältnissen unmöglich sein wird.
 

1. Wissenschaft und das komplexe System Erde


Als das erste Jahrtausend unserer Zeitrechnung zu Ende ging, erwarteten Millionen Menschen die in der Offenbarung des Johannes vorhergesagte Apokalypse. Sie hat nicht stattgefunden. Zum Ausgang des zweiten Jahrtausends beunruhigt viele Menschen erneut eine mögliche Katastrophe. Sie ist unserem Umgang mit den Grundlagen des Lebens zuzuschreiben. Die Wissenschaft kann einen Beitrag zum Erhellen der Probleme leisten. Vor der Gemeinschaft aller Menschen steht die Aufgabe, Entscheidungen zu treffen.
Mit der klassischen Mechanik verfügte die Wissenschaft erstmals über eine Theorie, die zu fundierten Voraussagen befähigte. Sie legte den Schluss nahe, dass die Zukunft eines Systems eindeutig durch die Ausgangssituation festgelegt ist. Von nun an wurde der Wert einer wissenschaftlichen Theorie daran gemessen, in welchem Umfang sie den Bewegungsablauf realer Systeme voraussagen kann. Erinnert sei an die Vorausberechnungen der Konstellation der Himmelskörper im Sonnensystem. Im gleichen Maße wie sich im 19. Jahrhundert dieses Wissenschaftsverständnis durchgesetzt hat, wurde das Paradigma „Wissen um Vorherzuwissen" zum Wertmaßstab der Wissenschaft.
Im Gegensatz zu einfachen physikalischen Systemen, die sich exakt oder in guter Näherung durch physikalische Gesetze beschreiben lassen und eine gute Vorhersage erlauben, gelten für komplexere Systeme, wie z.B. das Sonnensystem, deterministische physikalische Gesetze, die wir zwar kennen, aus denen wir jedoch nicht das zeitliche Verhalten des Systems vorhersagen können. Die näherungsweisen Lösungen der nichtlinearen Bewegungsgleichungen komplexer physikalischer Systeme erweisen sich längs der sie charakterisierenden Zeitskalen als nicht vorhersagbar.

Wir wissen heute, dass es eine unbegrenzte, gleichförmige periodische Bewegung aller Himmelkörper des Sonnensystems nicht gibt. Sie verläuft chaotisch. Es ist charakteristisch für diese Art des zeitlichen Verlaufs, dass winzige Änderungen der Anfangsbedingungen des Systems zu ganz unterschiedlichen Bewegungsabläufen führen. Das Studium solcher Systeme ist Gegenstand der Chaostheorie.
Die physikalischen Gesetze, die die Bewegung der Körper des Sonnensystems beschreiben, lassen sich angeben. Es ist ein vergleichsweise einfaches System, das aus einer bestimmten Menge von Himmelskörpern besteht, zwischen denen nur die Schwerkraft wirkt. Eine numerische Integration der Bewegungsgleichungen ermöglicht Aussagen über den Verlauf der Bahnen von Himmelskörpern - wenn ein ausreichend langer Zeitraum gewählt wird. So ändern sich die Bewegungen einiger Himmelskörper sprunghaft, in einem für sie charakteristischen Zeitmaßstab von Millionen Jahren.
Quantitative Untersuchungen des chaotischen Verhaltens eines komplexen Systems sind nur möglich, wenn wir die Dynamik des Systems kennen. Dieses Wissen beruht in der Regel auf der Kenntnis der Bewegungsgleichungen, die die zeitliche Entwicklung des Systems beschreiben. Wir kennen die Bewegungsgleichungen für einfache physikalische Systeme, wie das Sonnensystem, aber auch für weit komplexere Systeme wie Atmosphäre und Hydrosphäre. Für andere Systeme, z.B. für biologische Prozesse, sind uns die Bewegungsgleichungen unbekannt. Wie auch immer die Bewegungsgleichungen biologischer Systeme beschaffen sind, sie haben eine bemerkenswerte Besonderheit. Sie verändern sich im Laufe der Zeit, da die Systeme „lernfähig" sind. Für reale biologische Systeme, von denen wir vermuten, dass sie sich chaotisch verhalten, befindet sich unser gegenwärtiges Wissen mehr auf dem Niveau philosophischer Überlegungen als auf dem einer quantitativen Naturwissenschaft.
Unser Einwirken auf das Klimasystem der Erde hat ein Ausmaß angenommen, welches bereits eine Störung des Gleichgewichts im System bewirkt hat. Die Menschheit führt gegenwärtig ein Experiment großen Maßstabs durch, wie es nie zuvor möglich gewesen wäre. Es steht zu befürchten, dass die anthropogenen Einflüsse die Antriebsfaktoren des Klimasystems bereits so stark verändert haben, dass ein unumkehrbarer Prozess eingeleitet worden ist. Sein Ausgang ist nicht vorhersagbar.
Alle bisherigen Klimamodelle prognostizieren eine allmähliche, kontinuierlich fortschreitende Erwärmung der Atmosphäre. Diese Vorhersagen beruhen auf starken Vereinfachungen, die dem nichtlinearen Charakter der Bewegungsgleichungen des komplexen Klimasystems nur ungenügend Rechnung tragen. Der Klimaverlauf der zurückliegenden 150 000 Jahre ist durch das aperiodische Auftreten gewaltiger Klimasprünge charakterisiert, wie sie für komplexe chaotische Systeme die Regel und nicht die Ausnahme darstellen.
Die Frage, die viele Menschen zum Beginn des 21. Jahrhunderts bewegt, ist die nach ihrer Zukunft und nach der ihrer Kinder. Aus unterschiedlichen, teils objektiven, teils subjektiven Gründen hat das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Prognosen der Wissenschaftler abgenommen. Insbesondere in den letzten Jahren hat die zunehmende Erkenntnis der Komplexität des Klimasystems, in das unsere Existenz untrennbar eingebettet ist, unter den Wissenschaftlern die Einsicht wachsen lassen, dass auch das Klimasystem eine prinzipiell unvorhersagbare Entwicklung nimmt. Wir sind außerstande, das Eintreten des nächsten Klimasprungs zu prognostizieren. Wir wissen nicht, ob er in 10, 100 oder 1000 Jahren eintreten wird; aber dass er eintreten wird, erscheint sicher.
Die Wissenschaft komplexer Systeme vermag uns einige Antworten zu geben. Sie hängen vom Kenntnisstand der wirkenden Naturgesetze, von den geltenden Anfangsbedingungen und von der Komplexität des Systems ab. Die Antworten sind bisher zumeist unzureichend und vorläufig. Trotzdem oder gerade deswegen hat die Öffentlichkeit einen Anspruch auf Information. Das Risiko betrifft uns alle und nicht nur einen kleinen Kreis von Eingeweihten.
Wir sind eine Spezies unter vielen. Wir verfugen jedoch über eine Intelligenz, die uns die Auswirkungen unseres Handelns erkennen lässt. Das Ökosystem, zu dem wir gehören, ist ein komplexes Gebilde, widerstandsfähig und zerbrechlich zugleich. Unter Umständen reicht eine kaum wahrnehmbare Störung, um es zum Umschlagen zu bringen. Die katastrophalen Folgen betreffen auch unsere Art.
Wir tragen die Verantwortung, denn wir besitzen die Fähigkeit und das Wissen, durch einzuleitende Gegenmaßnahmen die drohende Katastrophe, wenn nicht aufzuhalten, so zumindest zu verzögern. Je schneller Rohstoffe zu Abfall werden, und je mehr Energie wir in Schadstoffe umsetzen, für umso erfolgreicher gilt das gesellschaftliche System. Solange jedoch Wachstum als Sinnbild des Fortschritts und Konsum als Inbegriff von Lebensqualität gilt, ist kein Wandel zu erwarten. Dabei ist jedem mit ein wenig mathematischem Verständnis begreiflich, dass in einem geschlossenen System, wie dem der Erde, ein unbegrenztes Wachstum mit einer annähernd konstanten Wachstumsrate unmöglich ist. Ein Fortschreiben dieser Entwicklung führt uns an eine Schwelle, an der auch das gegenwärtige sozialökonomische System kippen wird.

2. Das Klimasystem
 

Die Chaostheorie untersucht das Wesen des Zufalls, wie man ihn in bestimmten physikalischen, chemischen, biologischen, ökonomischen und sozialen Systemen findet. Sie betrachtet die Entwicklung komplexer Systeme, die mehr oder weniger gut durch Modelle beschreibbar sind. Charakteristisch für diese Systeme ist ihr einsinniger zeitlicher Verlauf. Am Beispiel eines vergleichsweise einfachen Systems, des Sonnensystems, zeigt sich das Auftreten sprunghafter Veränderungen, wenn man die Bahnberechnungen genügend lange auf einem Computer laufen lässt. Die Chaostheorie gestattet aber auch die Prüfung seit langem untersuchter Systeme in Natur und Gesellschaft, um zu ermitteln, ob in ihnen eine chaotische Komponente vorhanden ist.
Auch weit komplexere Systeme als das Sonnensystem, wie das Wetter und das Klima, zeigen in ihrem zeitlichen Verlauf ein chaotisches Verhalten. Das Studium dieser Systeme ergibt eine empfindliche Abhängigkeit von den Anfangsbedingungen. Um sie sichtbar werden zu lassen, muss man die ablaufenden Prozesse des beschreibenden Modells - bei variierenden Anfangsbedingungen -, genügend lange auf einem Computer laufen lassen.
Konvektion ist eine spezielle Art des Wärmetransports. Dabei wird Wärme durch die bewegten Flüssigkeits- oder Gasmassen selbst transportiert. Konvektionsströme sind auf der Erde allgegenwärtig. Im Erdmantel bewirken sie das Wandern der Kontinente. Die großen ozeanischen Strömungen erfolgen durch Konvektion, wie beispielsweise der Golfstrom und der Nordatlantikstrom. Die Bewegungen gewaltiger Luftmassen, die Winde, sind Konvektionsströme.
Eine systematische Untersuchung der Konvektion, die bereits im 18. Jahrhundert beschrieben wurde, begann 1900 mit den Experimenten des Naturforschers Henry Benard. Bei der Untersuchung des Wärmetransports durch eine dünne Flüssigkeitsschicht entdeckte er einen strukturierten Bewegungsablauf. In der gleichmäßig von unten erwärmten Schicht beobachtete er walzenförmige Konvektionszellen. In den folgenden Jahrzehnten wurde die Konvektion von Theoretikern und Experimentatoren studiert. Obwohl beachtliche Fortschritte im Verständnis des Phänomens erzielt wurden, erwies sich die Konvektion als mathematisch nicht exakt beschreibbar. Da der Wärmetransport durch Konvektion im System Erde eine essentielle Bedeutung hat, soll diese Art der Bewegung im folgendem etwas detaillierter betrachtet werden.
Zwischen zwei waagerechten ebenen Platten befinde sich eine dünne Flüssigkeitsschicht. Haben untere und obere Platte die gleiche Temperatur, ist

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