Schumacher, Gerhard

Borowski oder die Endlichkeit der Illusion

Novelle, 2010, 125 S., ISBN 978-3-89626-947-8, 9,80 EUR
 

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Klappentext

 

Was weiß ich, wo Sie sich aufhalten.
Sicher, Ihr Körper liegt irgendwo zerschnitten und, hoffentlich, wieder zusammengeflickt in der Gerichts-
medizin und wartet auf die Freigabe zur Beerdigung.
Aber was ist Ihr Körper? Das sind doch nicht Sie.
Die Dinge, die wichtig sind, spielen sich doch nicht im Körper ab, sondern im Geist.
Und wenn Sie einen hatten, Mahlow, einen Intellekt, seien Sie ehrlich zu sich selbst, dann schwirrt der jetzt
hier irgendwo herum.
Wer weiß schon wo? Ganz sicher aber nicht in Ihrem toten Körper. Was soll er da, dort hat er doch keine Zukunft. Eindeutig nicht.
 



 

 

Leseprobe

 

1
Sie saßen zusammen auf der Terrasse, aßen, tranken, ließen den vergehenden Tag vorüberziehen, als er mit einem Mal vor dem Tisch stand. Keiner hatte das Taxi kommen hören, das gerade auf dem Kiesweg wendete, um wieder ins Tal hinab zu fahren. Er grüßte etwas linkisch, in der einen Hand die Reisetasche, die andere umfaßte den Messingkopf eines Gehstocks. Dann stellte er sich vor. Sein Name sei Borowski, Gideon Borowski, wobei er kaum merkbar den Kopf neigte.
Der dicke Mahlow, der zumeist das Wort führte, forderte ihn auf, Platz zu nehmen, doch Borowski winkte ab. Später vielleicht, zuerst wolle er sich von der Zugfahrt erholen, eine halbe Stunde die Augen schließen vielleicht. Ein wenig frisch machen. Aber, wie gesagt, etwas später würde er sicher auf das Angebot zurückkommen.
Er ging in die Gaststube, wo man ihn kurz mit Leitner, dem Wirt, reden hörte, der ihm erklärte, sein Zimmer läge in der ersten Etage, das Frühstück gäbe es morgens zwischen sieben und neun Uhr, das Nachtmahl ebenfalls zwischen sieben und neun, nur halt abends, logisch. Dann war wieder Ruhe.
Das ist er also, sagte Erika, den habe ich mir irgendwie anders vorgestellt.
Wie anders, fragte Mahlow nach, wie kannst du eine Vorstellung von jemandem haben, von dem du bis eben nicht einmal den Namen kanntest?
Erika zuckte mit den Schultern. Nachdem, was der Leitner erzählt hat eben anders, entgegnete sie ihrem Mann. Was ist er, der Borowski, Lehrer oder so was?
Er ist Studienrat, präzisierte Hartmut Kern und lächelte Erika an.
Gregor sah über den Tisch. Er verdächtigte Kern schon seit Jahren nur allzu gerne ein Verhältnis mit Erika anfangen zu wollen, ja vielleicht sogar, bisher noch unentdeckt, ein solches zu pflegen. Obwohl der dicke Mahlow angeblich sein bester Freund war, wie sie bei jeder Gelegenheit betonten. Kerns Frau Sylvia und ihrer beider Sohn Valentin waren überdies immer in körperlicher Nähe. Gregor konnte sich kaum an eine Gelegenheit erinnern, an der die drei nicht zusammen aufgetreten wären. Aber vielleicht machte gerade das für Kern den Reiz aus, sich trotz seiner Familie ein Verhältnis mit Mahlows Frau vorzustellen oder (wer weiß) gar schon zu haben. In ihrem Beisein, coram publico, sozusagen. Irgendwann war jeder einmal alleine und dann galt es, die Gelegenheit beim Schopf zu packen, sonst war sie vorbei, die Gelegenheit.
Seit neun oder zehn Jahren trafen sie sich jeweils in der zweiten Septemberhälfte hier in Leitners Gasthof am Fuß der Berge. Der dicke Mahlow, seine Frau Erika, Sylvia und Hartmut Kern nebst siebzehnjährigem Sohn Valentin, sowie Gregor Redlich und seine Frau Kerstin. Seit neun oder zehn Jahren, es spielte keine Rolle, auf das eine Jahr kam es nicht an. Jetzt nicht mehr.
Eine lange Zeit. Jedes Jahr nahmen Kerstin und Gregor sich vor, auszusteigen, diesmal einfach nicht zu fahren. Aber wenn dann der Anruf vom Gastwirt Leitner kam, der die Zimmerreservierung bestätigte, fuhren sie doch wieder hin. Es fehlte ihnen ganz offensichtlich der Mut, nein zu sagen, dieses Jahr setzen wir mal aus, im nächsten sind wir wieder dabei, eventuell.
Schorsch Leitner, der Wirt, nahm während der Zeit, in der sie seinen Gasthof belegten, keine anderen Gäste auf, obwohl er praktisch noch ein Zimmer frei hatte. Aber er vermietete es nicht, so daß die drei Ehepaare (samt Valentin, dem Sohn der Kerns) den Gasthof eine Woche lang ganz für sich belegten, was natürlich den Vorteil hatte, auf niemanden Rücksicht nehmen zu müssen. Das Ganze beruht auf einer Abmachung, die der dicke Mahlow in den ersten Jahren angeblich mit dem Leitner Schorsch geschlossen hat. Worum es da im Einzelnen ging wußte Gregor nicht, noch interessierte es ihn sonderlich. Für den Luxus der Exklusivität wurde der Preis des freien Zimmers einfach auf alle umgelegt und fertig. Sie waren damals damit einverstanden und so ist es eben stillschweigend geblieben. Manchmal wurde das Zimmer sogar von ihnen genutzt, wenn Hartmut Kern zum Beispiel nach einem feuchten Abend zu schnarchen begann, daß man es ohne Anstrengung bis ins Tal hinab gut hören konnte, ist seine Frau für eine Nacht dort eingezogen, um wenigstens ein bißchen Abstand (und Schlaf) zu haben. Auch Gregor selbst hat nach einer Auseinandersetzung mit Kerstin vor drei, vier Jahren (er erinnerte sich nicht mehr, worum es bei dem Streit eigentlich gegangen war) einmal in dem freien Zimmer geschlafen.
Dennoch, heute war er der Meinung, ein wenig fremdes Blut am Tisch täte ihrer Runde gut und von ihm aus könnte die Abmachung zwischen ihnen und dem Wirt Leitner wieder rückgängig gemacht werden.
Aber Mahlow und Kern waren dagegen, also blieb alles wie bei eingeführten Traditionen üblich, es wurde darüber gesprochen, aber keiner rührte ernsthaft daran. Letztendlich war es Gregor auch egal, es lohnte nicht, darum zu streiten. Zumal dann nicht, wenn er im nächsten, spätestens im übernächsten September die Kraft aufbrachte, woanders hinzufahren. Spätestens dann.
Der Gastwirt Leitner hatte Gregor vorab angerufen und ihm mitgeteilt, daß er während ihres Aufenthalts in diesem Jahr entgegen der bisher verfolgten Regelung einen weiteren Gast für das ansonsten freie Zimmer gebucht hatte. Er verstieg sich in komplizierte Erklärungen über den Grund, entschuldigte sich in der unentschuldbaren Art des Nichtwissens und schob das Unentschuldbare, er nannte es Versehen, seiner Frau zu, die sich, zumindest im Augenblick, am Telefon nicht wehren konnte. Außerdem sagte er, selbstverständlich, eine entsprechende Mietminderung zu. Gregor interessierte weder das Warum noch das Weshalb, ihm war alles gleichgültig. Eher noch freute er sich auf ein neues Gesicht am roh gezimmerten Tisch der Gaststube.
So trat Gideon Borowski in sein Leben.

Studienrat? Erika blinzelte Hartmut an. Was für Studien rät er denn, der Borowski? Sylvia lachte auf, sie hatte schon einige Schoppen getrunken an diesem Nachmittag. Deutsch, Geschichte oder so, das Übliche eben. Hartmut Kern nahm seiner Frau das Glas aus der Hand.
Was das denn nun wieder für ein Unsinn sei, wollte der dicke Mahlow wissen, dieser Borowski, könne genauso gut Englisch oder Mathematik oder seinetwegen auch Chemie und Physik oder sonstwelche Dinge unterrichten, ob diese Fächer denn unüblicher seien als Deutsch und Geschichte? Überhaupt, herrschte er, ein wenig zu laut, Kern an, woher er denn seine Kenntnis habe, was die Profession dieses Borowskis betreffe, ob er es ihm an der Stirn oder an der Nase angesehen hätte. Von einem Akademiker zum anderen quasi.
Was schreist du hier herum, mischte sich Kerstin Redlich nun in das Gespräch ein, der Hartmut wird’s vom Leitner Schorsch haben, woher denn sonst?
Außerdem ist es völlig egal, was der Borowski ist oder was er nicht ist, ergänzte Erika, in einer knappen Woche ist alles vorbei und im nächsten Jahr sind wir wieder unter uns, alles klar Schätzchen?
Wen mag sie jetzt wohl mit Schätzchen gemeint haben, fragte sich Gregor? Hartmut oder ihren Mann? Er tippte auf Hartmut, weil das besser in seine Theorie von der Verhältnismäßigkeit zwischen ihnen paßte. Überhaupt empfand er das Wort Schätzchen an dieser Stelle überflüssig, geradezu sinnlos.
Und, fragte der dicke Mahlow nach, hast du’s vom Leitner oder kennst du den Borowski von früher?
Woher soll ich den denn kennen, antwortete Kern. Ich habe ihn heute zum ersten Mal gesehen, genau wie ihr.
Was weiß ich woher, vielleicht von der Uni, von einem dieser linksradikalen Zirkel, in denen du immer rumgehockt hast, Kommune, oder vom Steine werfen auf irgendeiner Demonstration. Da gibt’s ja nun viele Möglichkeiten. Und du warst ja immer mittendrin, alter Revoluzzer. Der dicke Mahlow trank sein Glas leer und goß sich sogleich aus dem Krug nach.
Du trinkst zuviel, Martin, sagte seine Frau. Wer? Ich? Sagte der dicke Mahlow und lachte auffällig laut. Man gönnt sich ja sonst nichts.
Habt ihr ein Problem, fragte Kerstin, können wir helfen, ich meine, wir sind doch eure Freunde, oder?
Ein Problem, lachte der dicke Mahlow, Gregor kam sein Lachen gequält vor, ein Problem wäre ja langweilig, mindestens ein Problem hat jeder. Wir aber, was mein Schatz, wir haben gleich einen veritablen Sack voll von Problemen. Hab ich recht oder hab ich übertrieben, Erika? Sag doch auch mal was.
Du bist betrunken, Martin, sagte Gregor und Hartmut nickte.
Was hat das nun mit dem Borowski zu tun, wollte Sylvia wissen, wir waren bei Borowski und nicht bei den Problemen von Martin und Erika, die werden wir hier und jetzt sowieso nicht lösen.
Hic et nunc ergänzte Kern und fing sich einen giftigen Blick vom dicken Mahlow ein. Klugscheißer, sagte der. Wenn deine Bücher nur halb so gut wären, wie deine blöden Bemerkungen, ich wäre glatt ein Fan von dir.
Versteh ich eh nicht, sagte Kerstin wieder, weswegen wir uns hier streiten, was der Borowski von Beruf ist. Ist doch völlig egal, also mich interessiert es nicht die Bohne. Aber wenn es hilft, von anderen Dingen abzulenken, meinetwegen.
Darum geht es doch gar nicht, sagte der dicke Mahlow.
Worum geht es dann, fragte Hartmut Kern.
Ums Prinzip geht’s ihm, warf Erika ein. So ist es immer, ob es sinnvoll ist oder nicht interessiert ihn nicht, was Martin, nur das Prinzip ist wichtig, nichts anderes.
Es reicht Erika, der dicke Mahlow hatte plötzlich ein krebsrotes Gesicht, hör auf jetzt, das bringt nichts. Nicht hier.
Gregor war die ganze Situation unangenehm, ja peinlich. Er schaute zu Kerstin, die seinen Blick nicht erwiderte. Er haßte es, wenn Paare ihre Schwierigkeiten im Freundeskreis öffentlich machten. Es brachte ihn in Verlegenheit, er fühlte sich dabei körperlich unwohl. Man verlangte von ihm, Stellung zu beziehen, für den einen und gegen den anderen oder umgekehrt, Neutralität konnte es nicht geben. Gregor haßte es, Stellung zu beziehen. Die ganze Diskussion hier am Tisch lief genau darauf hinaus. Es würde noch ein Wortgeplänkel geben, hin und her, bis der dicke Mahlow. Wie in jedem Jahr, zu schreien begann: seht ihr, so ist es immer, nun sagt doch mal ehrlich, hab ich nun recht oder nicht, ich meine, das ist doch logisch, oder? So war es immer bevor es mit Tränen und zerbrochenem Glas im Chaos endete. Stellung beziehen hieß, sich für eine Seite gegen die andere zu entscheiden. Als Außenstehender konnte man dabei nur verlieren. Als angeblicher Freund erst recht. Es war zum Kotzen.
In diesem Moment erschien Borowski auf der Bildfläche. Genau wie am Nachmittag stand er plötzlich da. Keiner hatte ihn kommen sehen, niemand von ihnen hatte darauf geachtet. Gregor fand, es hatte etwas Unheimliches wie Borowski mitten unter ihnen auftauchte, nun schon zum zweiten Mal an diesem Tag.
Der dicke Mahlow, froh darüber, einer weiteren Diskussion mit Erika ohne Gesichtsverlust entgehen zu können, machte eine großzügig viertelkreismäßige Gebärde mit dem Arm und lud Borowski ein, an ihrem Tisch Platz zu nehmen. Was insofern unsinnig war, da es nur einen einzigen Tisch auf der Terrasse gab, an den man sich setzen konnte, eine Alternative für den Eingeladenen somit nicht gegeben war.
Borowski nickte, zog einen Stuhl heran und setzte sich zwischen Hartmut und Sylvia Kern. (Valentin war noch auf seinem Zimmer und starrte wahrscheinlich, sagte sein Vater, den Fernseher an.) Es entstand eine Pause, die etwas mit Verlegenheit auf beiden Seiten zu tun haben mochte.
Lucy Leitner brachte einen neuen Krug Wein und ein frisches Glas für Borowski, goß ein und fragte, wann sie das Essen auf den Tisch bringen sollte, es wäre soweit alles bereitet, könne aber auch noch ein oder zwei Viertelstunden im Rohr auf seinen Auftritt warten.
Was denn die begnadete Köchin heute für sie alle bereitet habe, wollte Hartmut Kern wissen und schob, zu Borowski gewendet, nach, bei der Frau Leitner handele es sich nämlich um eine Künstlerin, was Herd, Topf und Pfanne beträfe.
Borowski nickte erneut, sagte nichts weiter dazu, lächelte aber freundlich die Wirtsfrau an. Gregor kam es so vor, als sei sie bei den Worten Kerns errötet, genau aber konnte er es nicht erkennen, da die sonnige Helligkeit des Nachmittags zwischenzeitlich einer zwielichtigen Dunstigkeit gewichen war.
Sie hätte einen formidablen Schweinsbraten mit Kümmel zubereitet, dazu würde sie Blaukraut und Speckknödel servieren, wenn’s recht ist. (Im Gegensatz zu ihrem Mann bediente sie sich stellenweise einer gestelzten deutschen Sprache, mied den Dialekt, was sich künstlich anhörte und oft ins Lächerliche abglitt. Wohl wollte sie den Gästen aus den bergfernen Gebieten Weltläufigkeit demonstrieren.)
Gregor lief das Wasser im Munde zusammen, er kannte Frau Leitners Schweinsbraten von den Jahren zuvor und wollte gerade den Startschuß für das Essen geben, da nahm ihm der dicke Mahlow erwartungsgemäß das Wort von den Lippen.
Ein halbes Stündchen können wir ruhig noch warten, oder hat einer von euch dermaßen Hunger, daß er gleich vom Fleische fällt, was? Er lachte laut. Laßt uns lieber vorher noch einen Schoppen trinken. Zur Begrüßung unseres neuen Freundes hier, dann ißt es sich später auch besser.
Wie Sie wünschten, sagte die Wirtsfrau, zog aus ihrer Kittelschürze eine Schachtel lange Streichhölzer und zündete die Kerzen in den verschiedenen Haltern und Ständern an, die an der Wand hingen und auf dem Tisch standen. Dann ging sie, Wein zu holen. Kaum, daß die ersten Dochte brannten, surrte Geziefer durch die Lichtkreise und hinterließ fremde Töne. Sylvia zog sich die Strickjacke über ihre Schultern.
Hartmut Kern hob sein Glas und prostete Borowski zu, herzlich willkommen in unserer Runde, sagte er, erschrecken Sie nicht, wir sind nicht ganz so schlimm, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag.
Erika lachte auf und wedelte mit dem Zeigefinger der rechten Hand, glauben Sie ihm nicht, sagte sie, in Wirklichkeit sind wir noch schlimmer als es zunächst aussieht.
Ja, sagte Sylvia, so wird’s sein, wir sind, wenn man es genau betrachtet, die schlimmsten Finger, die man sich denken kann, hab ich nicht recht, Hartmut?
Sie hatte zuviel getrunken und man merkte es ihr auch an. Kern grinste gequält, Kerstin und Gregor taten es ihm, vielleicht bedauernd, gleich.
Borowski sagte immer noch nichts, lächelte nur höflich und trank mit den anderen.
Erika meinte, wir sollten uns vielleicht erst einmal vorstellen, nannte die Namen aller am Tisch Sitzenden und wer mit wem in Ehe verkettet war, bis daß der Tod sie scheide, fügte sie an.
Sie heißen Gideon mit Vornamen, richtig? Ein seltener Name hierzulande. Hebräischen Ursprungs, wenn ich nicht irre, wandte sich der dicke Mahlow wieder an Borowski.
Ja, ja, erwiderte der, Sie irren nicht, er ist hebräischer Herkunft. Übersetzt heißt Gideon soviel wie Zerstörer, es handelte sich ursprünglich um einen alttestamentarischen Richter, der von einem Engel aufgefordert wurde, die Israeliten vom Joch der Midianiter zu befreien, was er dann auch tat, der alte Gideon.
Hartmut Kern sah ihn an und fragte dann unvermittelt, sind Sie jüdisch, Borowski?
Dann ist er beschnitten, platzte Sylvia dazwischen, die immer trunkener wurde.
Nun lachte Borowski und sagte, ich verstehe die Frage nicht ganz, ist es für Sie wichtig, ob ich Jude bin oder nicht? Was würde sich in unserem kurzzeitigen Verhältnis untereinander ändern, wenn ich es wäre, was, wenn ich es nicht wäre? An einen anderen Tisch kann ich mich nicht setzen, es ist ja kein anderer Tisch da, einen gelben Stern zu tragen ist heute auch keine Pflicht mehr. Gibt es einen Moslem unter Ihnen oder einen militanten Christen, der sich rächen will, weil die Juden angeblich seinen Herrn ans Kreuz geschlagen haben? Sagen Sie mir bitte, wie ich die Frage zu verstehen habe. Bis dahin müssen Sie im Ungewissen leben, ist er’s oder ist er’s nicht? Ja oder nein? Der Vorname spricht dafür, der Nachname eher nicht. Oder doch, riecht der nicht nach Warschauer Getto? Das wäre dann ja noch schlimmer.
Er trank Wein und kippte sich aus dem Krug nach.
Aber ich kann Sie beruhigen, es gibt noch eine andere Namensvariante statt der hebräischen. Gideon war vor langer Zeit eine dänische Automarke. Sie existierte allerdings nur sieben Jahre von 1913 bis 1920 und hat dann ihre Produktion eingestellt. Lediglich 129 Exemplare eines PKW wurden hergestellt. Dann war Schluß. Wenn es Sie also beruhigt, gehen Sie einfach davon aus, mein Vater war ein Autonarr und hat mich nach der dänischen Marke benannt. Statt der hebräischen also die dänische Variante, falls Ihnen das lieber ist. Und ob ich beschnitten bin, gnädige Frau, er wandte sich nun direkt an Sylvia, die neben ihm saß und ihn mit glasigen Augen anschaute, das herauszufinden obliegt völlig ihrer eigenen Intention. Sylvia Kern lachte schrill auf. Gute Idee, das, sagte sie dann zu ihrem Mann. Hartmut Kern sah mit säuerlicher Miene zu Erika hinüber.
Gregor versuchte zu beschwichtigen, beruhigen solle sich Borowski, es interessiere hier keinen, ob er Jude oder sonstwas sei, die Frage wäre rein rhetorisch zu verstehen gewesen, wegen des Vornamens und dessen hebräischen Ursprungs. Bitte, wir sind hier keine Antisemiten. Sie, Borowski, sind uns herzlich willkommen, wes Glaubens oder Herkunft auch immer Sie sein mögen.
Auch der dicke Mahlow tat sein Mögliches, die Schärfe aus dem Gespräch zu nehmen, erklärte die Frage Kerns mit dem Alkohol, alle hätten schon den ganzen Nachmittag Wein getrunken und bezeichnete die Formulierung als idiotisch. Ich hoffe, sagte er, die Sache ist damit ausgestanden. Jetzt sollten wir alle zusammen essen, hinterher trinken wir einen Schnaps und dann ist Schluß mit der Giftigkeit. Er rief durch die offene Terrassentür ins Innere des Gasthofs, die Frau Leitner könne dann jetzt ihren Schweinsbraten auf den Tisch bringen, man wolle nicht länger auf den Genuß verzichten. Und bringen Sie ein Stamperl Salz mit, Frau Lucy, ich bitte Sie, schrie er hinterher, Sie wissen ja, ich mag’s gerne scharf. Aus der Gaststube kam irgendein Gebrumme, das Verstehen signalisierte. Hartmut Kern reagierte nicht auf die Zurechtweisung durch den dicken Mahlow, sondern nahm seiner Frau zum x-ten Mal das Weinglas aus der Hand. Aber Sylvia griff sofort wieder danach und trank es zur Neige. Gregor kam es wie ein trotziges ‚Jetzt erst recht’ vor, er blinzelte Kerstin zu, suchte Einverständnis.
Borowski sagte weder zu den beschwichtigen Worten Gregors noch zu denen Martin Mahlows etwas, sein Gesichtsausdruck spiegelte indes auch keine Unversöhnlichkeit wider. Es war eine merkwürdige Situation, die etwas von einem Status Quo an sich hatte. Kern verschwand aufs Zimmer, seinen Sohn Valentin zum Essen zu holen.
Lucy Leitner brachte Teller, Bestecke und Stoffservietten, stellte die vom dicken Mahlow gesondert angeforderte Menage auf den Tisch, neben dem reklamierten Salz auch Pfeffer und Senf, und kurz darauf zwei Platten mit Schweinsbraten, in dicke Scheiben zerteilt, mit Kümmelsaat überstreut in hellbrauner Soße, auf der vereinzelt kleine Fettaugen schwammen. Es folgten eine Schüssel mit Blaukraut und eine weitere mit dampfenden Speckknödeln. Als Hartmut und Valentin Kern Platz nahmen, wünschte sie einen gesegneten Appetit und verschwand wieder in der Gaststube.

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