Klappentext
“Wenn wir [Deutschen] doch erst so weit
[wie die Engländer] wären!” notiert die Kolonialschriftstellerin Frieda von
Bülow (1857–1909) sehnsuchtsvoll in ihren Reisescizzen und Tagebuchblättern
aus Deutsch-Ostafrika (19. Juni 1887), die 1887 und 1888 während ihres
ersten Aufenthalts in Ostafrika entstehen.
Bülows ambitionierter Ausruf steht repräsentativ für den ehrgeizigen Wunsch
der jungen deutschen Nation – und insbesondere der kolonialbegeisterten
Nationalliberalen –, weltweit und gerade in Ostafrika eine ebenso
erfolgreiche Kolonialpolitik wie die zu dieser Zeit stärkste Kolonialmacht
England zu etablieren und dabei die eigene Kultur ebenso effizient nach
Übersee zu exportieren, wie Bülow es exemplarisch in der britischen Mission
Mkunazini auf der ostafrikanischen Insel Sansibar, dem Regierungssitz des
gleichnamigen Sultanats, beobachtet.
Die vorliegende, sich streng an das Original haltende Edition der
Bülow’schen Reisescizzen und Tagebuchblätter aus Deutsch-Ostafrika bietet
nicht nur eine einmalige Dokumentation, auf deren Grundlage weitergehende
Forschungen erfolgen können. Ebenso sind die sachkundigen Einführungen der
Herausgeberin in Leben und Werk von Frieda von Bülow sowie die Anmerkungen
zum Text wichtige, den neuesten Forschungsstand repräsentierende
Ausführungen, die Basis und Inspiration für zukünftige Publikationen bieten
werden.
Auszug aus der Einleitung
“ ... ein segenspendendes Werk zur Ehre
der deutschen Nation.”
Vorschlag einer Lesart von Frieda von Bülows national-kolonialistischen
Aufzeichnungen aus Deutsch-Ostafrika.
Katharina von Hammerstein
“Wenn wir [Deutschen] doch erst so weit
[wie die Engländer] wären!” notiert die Kolonialschriftstellerin Frieda von
Bülow (1857–1909) sehnsuchtsvoll in ihren Reisescizzen und Tagebuchblättern
aus Deutsch-Ostafrika (19. Juni 1887), die 1887 und 1888 während ihres
ersten Aufenthalts in Ostafrika entstehen, 1889 als Buch in Berlin
veröffentlicht werden und laut Bülows Biographin Monika Czernin beim
Publikum ein “wahres Afrika-Fieber” auslösen (Czernin S. 145). Bülows
ambitionierter Ausruf steht repräsentativ für den ehrgeizigen Wunsch der
jungen deutschen Nation – und insbesondere der kolonialbegeisterten
Nationalliberalen –, weltweit und gerade in Ostafrika eine ebenso
erfolgreiche Kolonialpolitik wie die zu dieser Zeit stärkste Kolonialmacht
England zu etablieren und dabei die eigene Kultur ebenso effizient nach
Übersee zu exportieren, wie Bülow es exemplarisch in der britischen Mission
Mkunazini auf der ostafrikanischen Insel Sansibar, dem Regierungssitz des
gleichnamigen Sultanats, beobachtet:
“Mitten in Neger-Armseligkeit, indischen von Unsauberkeit strotzenden
Kramläden und arabischen Schutthaufen sieht man auf einmal ein Stück
Englands vor sich mit seiner blanken in voll entfalteter Blüte stehenden
Kultur. [...] Hier hatte das britische Vermögen, das Gepräge der eigenen Art
dem vorgefundenen Fremden aufzuzwingen, es fertig gebracht, arabische Bauten
in heitere englische ‘cottages’ mit Loggien, blumenerfüllten Erkern etc.
umzuwandeln” (19. Juni 1887; Hervorhebungen, KvH).
Der Blick auf die wie selbstverständliche Anglifizierung des afrikanischen
Umfelds, die Bülow als sichtbares Zeichen des kulturexpansionistischen
Erfolgs gilt, veranlasst die Autorin zum bereitwilligen, wenn auch leicht
ironisierten Zugeständnis von “Erstaunen, Bewunderung und nationaler
Eifersucht” (ibid). Doch tritt das Unterlegenheitsgefühl gegenüber den
britischen Konkurrenten um die Vorherrschaft in Ostafrika zurück hinter dem
sicheren Bewusstsein der gemeinsamen Überlegenheit der europäischen Kulturen
gegenüber den lokalen Ethnien. Wie in der kurzen, hier zitierten Passage
anklingt, wird ostafrikanischen Schwarzen, Inder(inne)n und Araber(inne)n
eine höhere Kultur schlichtweg abgesprochen, indem ihre Lebensart in
stereotypisierender Weise mit Armut, Schmutz und Verfall assoziiert und
gegenüber den für Europa in Anspruch genommenen Werten der kultivierten
Fülle, blitzblanken Sauberkeit und aufbaufreudigen Durchsetzungskraft
herabgesetzt werden. Das “vorgefundene Fremde” erfährt eine Degradierung zur
unzivilisierten tabula rasa. Die angebliche Rückständigkeit Ostafrikas, die
nach der sich in Europa seit der Aufklärung durchsetzenden Kategorie des
Fortschritts bemessen und für minderwertig befunden wird, dient Bülow – wie
den Kolonialmächten überhaupt – als Kontrastfolie für ihre Demonstration der
überragenden Leistungsfähigkeit der eigenen Nation(en) und damit als Beleg
für eben jene grundsätzliche Überlegenheit der europäischen Kulturen. Diese
Konstruktion eines Kulturgefälles zwischen “the West and the rest” (Stuart
Hall) bietet zugleich die Rechtfertigung dafür, fremde Kulturen – seien sie
nun in Afrika, Asien oder dem Süd-Pazifik – im Namen einer zivilisierenden
Mission mit Hilfe von christlichen Missionen, Handel und Militär kurzerhand
“umzuwandeln,” wie wir es in Bülows bewundernden Zeilen lesen. Die
selbsternannte und die eigenen Maßstäbe universalisierende europäische
Metropole nimmt für sich in Anspruch, der zur primitiven Peripherie
deklarierten Welt außerhalb Europas das “Gepräge der eigenen Art,” d.h. die
eigenen Sicht- und Lebensweisen, Normen und Strukturen “aufzwingen” zu
dürfen, ja zu sollen. Denn, so folgt aus der kolonialistischen Logik, erst
die zivilisatorischen Eingriffe der KolonialistInnen machen es möglich,
“Blüten” aus den vorgefundenen, rohen Zuständen hervorzuzaubern.
Entsprechend heißt es in Bülows Reisescizzen und Tagebuchblättern aus
Deutsch-Ostafrika:
“Dem Menschen hat es Gott verliehen, der schönen Natur den Stempel seines
bewußt strebenden Geistes aufzudrücken; das drängt sich dem Beschauer dieser
ostafrikanischen Landschaften immer wieder auf. Sie tragen Reichtum und
blühendes Leben in sich verschlossen und scheinen erwartungsvoll dem Herrn
der Erde entgegenzusehen, daß er die edlen Keime aus dem langen Schlaf
erwecke und an’s Licht ziehe” (19. August 1887; Hervorhebungen, KvH).
Jenen “Menschen,” “Betrachter” und “Herrn der Erde,” der vom christlichen
Gott mit “strebendem Geist” und einer Keime treibenden Tatkraft ausgestattet
sei, erblickt Bülow offenbar nicht in den einheimischen arabischen,
indischen oder afrikanischen Bewohnern und Besitzern des ostafrikanischen
Bodens, sondern in den europäischen, insbesondere deutschen Kolonialherren
und -damen, welche das willig-“erwartungsvolle” Land aus einem
vermeintlichen Dornröschenschlaf “erwecken” und sich – im Bewusstsein ihrer
Legitimation durch Geist, Strebsamkeit und ihre vorgeblich höhere
Zivilisationsstufe – seinen “Reichtum und [sein] blühendes Leben” aneignen
wollen und sollen.
Eurozentrische Einstellungen und Handlungsweisen, kolonialistische
Hoffnungen, das nationalistische Selbstverständnis und die offen zugegebene
Rivalität gegenüber den historischen Kontrahenten im Wettstreit um die
Eroberung Afrikas, wie sie uns in Frieda von Bülows Band immer wieder
begegnen, sind keineswegs überzogene Ausnahmen, sondern durchaus
repräsentativ für die im Europa und Deutschland des ausgehenden 19.
Jahrhunderts verbreiteten kolonialistischen und rassistischen Sichtweisen.
Insofern stellen Bülows Reisescizzen und Tagebuchblätter, die ein Bild des
kolonialen Alltags sowie der Landschaften, Menschen und Machtverhältnisse in
Ostafrika aus der Perspektive einer weißen, deutschen Betrachterin
wiedergeben, ein Zeitdokument des deutschen kolonialistischen Diskurses um
1890 dar.
Bülows Beobachtungen, die sie für ihr zeitgenössisches deutsches Publikum in
anschaulichen “Scizzen” schriftlich aufbereitet, werden von mir im Folgenden
jedoch weniger als Abbildungen historischer Realität und Zeugen dafür, “wie
es eigentlich gewesen ist” (Leopold von Ranke), verstanden, sondern vielmehr
als Bildkonstruktionen, die zu dieser spezifischen Zeit aus einer
spezifischen Weltanschauung heraus entstanden sind und einen spezifischen
Zweck verfolgten. Diese Konstruktionen gilt es nun, zum einen aus dem
historischen Zusammenhang heraus und zum andern auf der Grundlage
postkolonialer Kenntnisse und Perspektiven von heute zu deuten. Die
Auswertung der Art und Weise ihrer Darstellung, ihrer Kolorierung und
Perspektivierung und ihrer Auslassungen ist dabei ebenso wichtig wie der
mögliche Informationswert des Dargestellten selbst. Für Leser(inn)en von
heute eröffnen Bülows Aufzeichnungen ferner wertvolle Hinweise auf Brüche in
dem hierarchisch angelegten kolonial(istisch)en Diskurs sowie auf
interkulturelle Begegnungen und deutsch-ostafrikanischen bzw.
ostafrikanisch-deutschen Austausch, welche die scheinbare Einseitigkeit von
Bülows Blickwinkel – möglicherweise unbeabsichtigt – unterminieren und kaum
merkliche Spuren von Multiperspektivität durchscheinen lassen.
Bei Frieda von Bülows Reisescizzen und Tagebuchblättern sowie ihren übrigen
Schriften aus Deutsch-Ostafrika, das um 1890 die Gebiete der heutigen
Staaten Tansania, Ruanda und Burundi umfasst, handelt es sich um die ersten
Wortmeldungen einer Frau aus den deutsch-afrikanischen Kolonien, denen erst
nach der Jahrhundertwende weitere weibliche Stimmen – vornehmlich aus der
Siedlerkolonie Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, – nachfolgen.
Bülow ergänzt die deutsch-afrikanische Kolonialliteratur erstmals um die
Sichtweise einer (weißen) Frau, die sich damit zugleich einschreibt in drei
am Ende des 19. Jahrhunderts höchst aktuelle und miteinander verflochtene
nationale, soziale, politische und historisch weitreichende Großprojekte:
Nationalismus, Kolonialismus und Feminismus.
Schenkt man Bülows Freundin und erster Biographin Sophie Hoechstetter
Glauben, so ist es Bülow gerade in den Jahren zwischen ihrem ersten
(1887–1888) und zweiten Ostafrika-Aufenthalt (1893–1894)
“ein stärkstes Bedürfnis gewesen, von ihren Erlebnissen in Afrika zu
sprechen, die neuen Verhältnisse von dort zu schildern. Sie wirkte auf diese
Weise für die Verbreitung der kolonialen Ideen – sie vermittelte
Anschaulichkeit, sie wußte durch die in Erzählungsform gebrachten Dinge aus
den neuen Kolonien das Interesse und die Teilnahme weitester Kreise für die
Sache, an der ihr Herz hing, zu erwecken” (Hoechstetter 1910, S. 176–77;
Hervorhebungen, KvH).
Entsprechend gilt Frieda von Bülow in der deutschen Literaturgeschichte als
“Schöpferin des deutschen Kolonialromans” (Warmbold 1986). Den Anfang ihres
durchaus politisch motivierten schriftstellerischen Einsatzes für die
koloniale Sache – mit dem ausdrücklichen Ziel, durch literarisch vermittelte
Anteilnahme am Leben und Denken in den Kolonien “weiteste Kreise” dafür zu
gewinnen, – machten jedoch nicht ihre fiktionalen Werke, sondern ihre
autobiographischen Reisebeschreibungen und Tagebucheintragungen. So wie der
vorliegende Band 1889 als Zusammenfassung ihrer ostafrikanischen
Aufzeichnungen aus den Jahren 1887 und 1888 erschien, so veröffentlichte
Bülow schon zuvor und auch danach einzelne Briefe und Aufsätze über ihre
dortigen Erlebnisse und Betrachtungen in Zeitschriften wie Daheim,
Kolonialpolitische Korrespondenz, Die Zukunft und Die Frau – Monatsschrift
für das gesamte Frauenleben unserer Zeit sowie in Zeitungen wie der
Illustrirten Zeitung und der Unterhaltungsbeilage der Täglichen Rundschau
(s. Literaturhinweise im Anhang).
Aufgewachsen ist Frieda von Bülow in einer angesehenen altadligen,
preußischen Familie als älteste Tochter Hugo von Bülows und seiner Frau
Clotilde, geb. von Münchhausen. Ihr belesener und seinerseits
schriftstellerisch tätiger Vater war einige Jahre Legationsrat und Leiter
der preußischen Botschaft in Smyrna, dem heutigen Izmir in der Türkei. Dort
verbringt Frieda zwischen 1863 und 1865 glückliche Kinderjahre in der als
exotisch empfundenen Fremde, von der sie und ihre Lieblingsschwester
Margarete sich ausgesprochen angezogen fühlen. Ab 1865 übersiedelt die
Mutter Clotilde mit vieren ihrer fünf Kinder nach Thüringen in die
pietistische Herrnhuter Brüdergemeine von Neudietendorf, wohin nach dem
vorzeitigen Tod des Vaters 1869 auch die zunächst bei ihm verbliebene
Margarete nachkommt. Gemeinsam vergnügen sich Frieda und Margarete auf dem
nahe gelegenen Gut Ingersleben ihrer Großmutter Henriette von Münchhausen,
deren Park und wohl sortierte Bibliothek ihnen vielseitige Anregung und
uneingeschränkten Spielraum für literarische Schreibübungen und
phantasievolle Aufführungen bieten. Anfang der 1880er Jahre ziehen sie
gemeinsam mit der Großmutter nach Berlin, wo Margarete sich zur
Schriftstellerin entwickelt und Frieda im Lucie Crain Institut unter der
Leitung Helene Langes, der späteren Führerin der bürgerlichen deutschen
Frauenbewegung und lebenslangen mütterlichen Freundin, eine Ausbildung zur
Lehrerin erhält und an einer höheren Mädchenschule unterrichtet. Als Töchter
aus einer vergleichsweise armen Adelsfamilie müssen die Schwestern damit
rechnen, unverheiratet zu bleiben und für ihren Lebensunterhalt selbst
aufkommen zu müssen. Eine unerwartete Wendung nimmt Frieda von Bülows Leben,
als Margarete im Januar 1884 im Rummelsburger See bei Berlin ertrinkt,
nachdem sie ein ins Eis eingebrochenes Kind gerettet hat. Mit ihr verliert
Frieda ihre Seelenverwandte.
Ein neues Lebensziel bietet sich Bülow im Engagement für die koloniale
Entwicklung Ostafrikas. Als sie 1885 bei dem kurz zuvor zu Berühmtheit
gelangten deutschen Kolonialverfechter Carl Peters vorspricht, um sich für
ihren ebenfalls von der Kolonialfrage inspirierten Bruder Albrecht zu
verwenden, verliebt sie sich in Peters. Es folgen knapp drei Jahre einer
intensiven Liebesbeziehung und praktischen Zusammenarbeit und für Bülow eine
lebenslange emotionale Gebundenheit an Peters (vgl. Czernin). Trotz der
Auflösung der Verbindung 1887/1888 und trotz des öffentlichen Skandals, der
sich in den 1890er Jahren aufgrund der Anklage des Amtsmissbrauchs und der
Grausamkeit gegenüber ostafrikanischen Einheimischen um Peters rankt,
verteidigt Bülow ihn wiederholt in privaten Briefen und öffentlichen
Schriften. In den Reisescizzen und Tagebuchblättern bezeichnet sie ihn als
rastlos vorwärts eilenden, “genialen Mann” (19. August 1887), in ihrem
Aufsatz “Ein Mann über Bord” von 1897 verwahrt sie sich dagegen, dass mit
ihm einer von “unseren entschlossensten und begabtesten Kolonialpolitikern”
“in öffentlicher Reichstagssitzung als ein gemeingefährlicher Verbrecher”
hingestellt werde (Bülow, “Mann über Bord”, S. 552f.), und mit der Figur des
Ralf Krome in ihrem Roman Im Lande der Verheißung setzt sie ihm 1899 ein
literarisches Denkmal. Dieses Werk erlebt unter dem erweiterten Titel Im
Lande der Verheißung: Ein deutscher Kolonialroman um Carl Peters eine
mehrfache Neuauflage in der kolonialpolitisch ambitionierten Nazizeit, in
der Peters ferner in dem Film “Carl Peters” (1941) mit Hans Albers in der
Hauptrolle zum Helden im furchtlosen Einsatz für die rühmliche Erweiterung
des Deutschen Reiches nach Afrika stilisiert wird.
Frieda von Bülows eigener aktiver Einsatz für den deutschen Kolonialismus
beginnt damit, dass sie im Jahr 1886 die Evangelische Missionsgesellschaft
für Deutsch-Ostafrika mitbegründet. Als einzige Frauen sitzen sie und Martha
Gräfin Pfeil unter 18 Männern im Vorstand (vgl. Bückendorf S. 320ff.,
Wildenthal 2001, S. 21ff., Czernin S. 98ff.) und argumentieren erfolgreich
dafür, die Bemühungen der Missionsgesellschaft vorerst auf Krankenpflege
statt auf Missionsarbeit zu konzentrieren und Frieda von Bülow nach
Ostafrika zu entsenden, um an der dortigen Küste Krankenstationen
einzurichten. Doch kommt es bereits vor der Abreise zu
Meinungsverschiedenheiten über konfessionelle, weltanschauliche und
finanzielle Fragen (vgl. Wildenthal 2001, S. 24ff.). Eva und Martha von
Pfeil, Frieda von Bülow und weitere Damen der gehobenen Gesellschaft gründen
im gleichen Jahr mit der Unterstützung von Carl Peters den nicht
konfessionell gebundenen Deutschnationalen Frauenbund, der sich
ausschließlich der Krankenpflege in den Kolonien widmet. Im Unterschied zu
den Schwestern Pfeil verfolgt Bülow, die die starke Religiösität ihrer
pietistischen Mutter nicht teilt, mit dem Frauenbund eine sekularisierte und
national ausgerichtete Konzeption, die obendrein feministische Züge trägt:
“Bülow was interested in female nursing as a form of patriotic expression
for women and as a potential solution to the problem of suitable paid
employment for unmarried middle-class women. She abhorred the notion that
nurses ought to work out of pious self-denial and in utter subordination to
authority” (Wildenthal 2001, S. 25, vgl. Dietrich S. 256). Nachdem die
Evangelische Missionsgesellschaft nun vorzieht, mit der Krankenschwester
Marie Rentsch eine konformere und weniger eigenständige Repräsentantin nach
Ostafrika zu entsenden, tritt Frieda von Bülow ihre Reise jetzt
ausschließlich im Auftrag des Deutschnationalen Frauenbunds an. In
verantwortlicher Rolle soll sie mit Unterstützung der ihr unterstellten
Krankenschwester Bertha Wilke an einigen Küstenorten wie z.B. Dar-es-Salaam
und Pangani, die sich bereits in deutscher Hand befinden, den Aufbau von
Krankenstationen leiten. Die Reise der beiden Pionierinnen beginnt im Mai
1887 in Berlin und führt zunächst per Zug nach Venedig; von dort überqueren
sie mit dem Schiff das Mittelmeer mit Ziel Alexandria und reisen mit dem Zug
nach Suez, von wo sie abermals mit dem Dampfer erst durch das Rote Meer nach
Aden und anschließend auf dem Indischen Ozean über Lamu und Mombasa auf die
Ostafrika vorgelagerte Insel Sansibar gelangen.
Da Frieda von Bülows erster Aufenthalt in Ostafrika vom Juni 1887 bis Anfang
1888 in die frühe Phase der deutschen Kolonialisierung Ostafrikas fällt,
soll diese als historischer Kontext des vorliegenden Bandes hier skizziert
werden. Im Unterschied zu den jahrhundertealten Kolonialmächten England,
Frankreich und Portugal nimmt Deutschland am kolonialen Wettlauf um die
Eroberung Afrikas erst seit der sogenannten Kongo-Konferenz teil, die
Reichskanzler Otto von Bismarck 1884–1885 in Berlin ausrichtet und auf der
die europäischen Großmächte Afrika unter sich aufteilen. Bereits 1884 hatte
Carl Peters zusammen mit Felix Wilhelm Leonhard Graf Behr-Bandelin die
Gesellschaft für deutsche Colonisation gegründet, die sich die Errichtung
deutscher Ackerbau- und Handelskolonien zum Ziel setzte, und aus der 1885
die Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft (DOAG) hervorgeht. Schon im
November und Dezember 1884, d.h. noch während die Kongo-Konferenz in Berlin
tagt, unternimmt Peters im Auftrag der Gesellschaft für deutsche
Colonisation von Sansibar aus mit wenigen Bundesgenossen und vielen
afrikanischen Führern und Trägern einen als Usagara-Expedition bekannt
gewordenen Gewaltmarsch von ca. sechs Wochen, der der Gesellschaft
weiträumige Landnahme im ostafrikanischen Inland sichert. Mit lokalen
Potentaten schließt er unter Zelebrierung symbolischer Akte wie dem
Schließen von Blutsbruderschaft und Hissen der deutschen Fahne sowie der
Vergabe von Alkohol und Gastgeschenken Schutzverträge ab. Darin erklären
sich die – der deutschen Sprache zweifellos unkundigen – Häuptlinge als
alleinige, d.h. vom Sultan von Sansibar unabhängige Herrscher und sagen der
Gesellschaft für deutsche Colonisation die unumschränkte Nutzung ganzer
Landstriche zu; im Tausch dafür erhalten sie die Zusage deutschen Schutzes
gegen Sklavenraub von ihrem Gebiet und gegen Überfälle seitens feindlicher
Nachbarn. Obwohl diese Verträge sogar in den Augen einiger deutscher
Zeitgenossen “reine
Komödienstücke in der Geschichte der Kolonisation” darstellen (Falkenhorst
S. 34), wird durch sie doch die Oberhoheit des Sultans von Sansibar im
Inland von Ostafrika unterminiert und werden auf diese Weise von deutscher
Seite her die Ansprüche anderer Kolonialmächte auf diese Gebiete
ausgeschlossen (vgl. Förster S. 7–13, Falkenhorst S. 15–36, Pesek S.
168–179).
Reichskanzler Otto von Bismarck steht Peters Unternehmungen ablehnend
gegenüber. Er ist Verfechter einer Politik des europäischen Gleichgewichts
und prinzipieller Gegner teurer wirtschaftlicher und militärischer
Investitionen in die Kolonien. Doch kann er sich den Großmachtwünschen, die
nach der Reichsgründung von 1871 in Deutschland verstärkt erwachen, und dem
damit verbundenen Ruf nach Kolonien nicht verschließen, zumal der
Kolonialismus obendrein eine willkommene Ablenkung von innenpolitischen
Spannungen und den wachsenden Sympathien für die trotz Verbot aktiven
Sozialdemokraten darstellt. Als Peters droht, die 1884 vertraglich
erbeuteten ostafrikanischen Gebiete an Belgien zu verkaufen, willigt
Bismarck ein, für sie den kaiserlichen Schutzbrief ausstellen zu lassen,
verfolgt jedoch zugleich das auf Konfliktvermeidung hin ausgerichtete und
1886 zustandekommende deutsch-englische Ostafrika-Abkommen, das die Grenze
zwischen der deutschen und der englischen Interessensphäre klar festlegt und
dem Sultan von Sansibar zunächst die Souveränität der Insel Sansibar
garantiert.
Auch die ostafrikanische Küste untersteht zum Zeitpunkt von Bülows dortigem
Aufenthalt noch dem Sultanat Sansibar unter dem Sultan Said Bargasch
(1837–1888, reg. 1870–1888). Dessen Vater Sayyid Said (1791–1856) hatte als
Sultan von Oman den Regierungssitz von Maskat nach Sansibar-Stadt verlegt,
wo sich Bargaschs älterer Bruder Madjid (1834–1870; reg. 1856–1870) als
Sultan von Sansibar etabliert und Bargasch ihm auf den Thron folgt. Die
Wirtschaft des Sultanats lebt stark vom Sklavenhandel entlang der
ostafrikanischen Küste. Sultan Bargasch führt westliche technische
Errungenschaften wie z.B. elektrisches Licht ein, entwickelt eine moderne
Infrastruktur, unterhält Handelsabkommen mit einigen der wichtigsten
Handelsmächte der damaligen Welt, darunter mit Deutschland – insbesondere
mit mehreren Hamburger Handelshäusern –, und schafft 1873 unter dem Einfluss
des britischen Konsuls Sir John Kirk offiziell den Sklavenhandel ab, selbst
wenn dieser inoffiziell weitergeführt wird. Seine Regierungszeit sieht
zunächst eine wirtschaftliche Blüte und dann den Beginn des Niedergangs des
Sultanats. Nachdem Peters 1884 die besagten Schutz- bzw.
Landabtretungsverträge mit lokalen Herrschern des ostafrikanischen
Hinterlands abgeschlossen hat, wird Bargasch 1885 unter dem Druck deutscher
Kanonenboote gezwungen, jene Inlandsgebiete als deutsches Protektorat
anzuerkennen.
Im Sommer 1887, d.h. während der im vorliegenden Band beschriebenen
Begebenheiten, in denen Carl Peters eine nicht unwesentliche Rolle spielt,
handelt Peters entgegen den Wünschen des deutschen Auswärtigen Amtes einen
Präliminarvertrag mit Sultan Bargasch aus, nach welchem dieser der DOAG –
über die Abtretung des ostafrikanischen Hinterlands hinaus – die Verwaltung
einschließlich des Rechts, Zölle und Steuern zu erheben, am ostafrikanischen
Küstenstreifen zwischen den Flüssen Umba im Norden und Rovuma im Süden, d.h.
zwischen der britischen Interessensphäre im Norden (heute Kenia) und der
portugiesischen im Süden (heute Mosambik) verpachten würde. Dafür soll das
Sultanat eine vereinbarte Pachtsumme sowie die Hälfte des Zollgewinns
erhalten.
Die Küstenorte Dar-es-Salaam und Pangani stehen zur Zeit von Bülows
Aufzeichnungen bereits unter deutscher Verwaltung. Weitere Häfen sollen
hinzukommen. Carl Peters schreibt in seinem Band Die Gründung von
Deutsch-Ostafrika: “Durch den neuen Vertrag fallen uns etwa 12
entwicklungsfähige Küstenplätze zu, wo wir Zoll-und Steuerrecht besitzen”
(Peters 1906, S. 223). Er plant die auch bei Bülow erwähnten Küstenorte
Pangani, Bagamoyo, Dar-es-Salaam, Kilwa-Kissiwani und Lindi als deutsche
Stationen und Küstenzentren und will bei deren Einrichtung “mit Nachtdruck
und Energie vorgehen, wofür ich ja die volle Handhabe besitze in den
Küstengarnisonen, welche in Zukunft uns zu gehorchen haben werden”; weiter
bemerkt er: “Der Zoll, der früher auf Zanzibar kam, wird in Zukunft auf die
betreffenden Küstenplätze fallen” (ibid S. 221). Es ist Peters’
Langzeitplanung,
“den Sultan von Zanzibar zu zwingen, uns später auch den Zoll von Zanzibar
unter ähnlichen Bedingungen wie die Zölle auf dem Festlande abzutreten, das
heißt in Wahrheit die deutsche Oberherrschaft anzunehmen. [...] in der
Anwartschaft auf Zanzibar kann uns nach diesem Vertrage auch England in
Zukunft keine Konkurrenz machen, da wir das natürliche Hinterland mit dem
Zollrecht jetzt besitzen” (ibid; Hervorhebungen, KvH).
Sultan Bargasch widersetzt sich weitmöglichst der deutschen Machtübernahme
am Küstenstreifen, stirbt aber 1888. Sein Nachfolger Sultan Khalifa
überträgt der DOAG im April 1888 die Verwaltungsmacht über die Küste von
nördlich von Tanga bis südlich von Kap Delgado gegen eine festgelegte
Pachtsumme und einen prozentualen Anteil an den dortigen Zoll- und
Steuereinnahmen.
Als die DOAG im Sommer 1888, d.h. kurz nach der in Bülows Aufzeichnungen
reflektierten Zeitspanne, diese Verwaltungshoheit an der Küste durchsetzen
will, kommt es in den Hafenorten zum Aufstand vornehmlich der arabischen
Händlerschicht unter der Leitung von Abushiri bin Salim al-Harthi. Dieser
sogenannte Araber-Aufstand wird durch den Einsatz deutscher Kriegsschiffe,
Marinesoldaten und einer unter Hermann von Wissmann zusammengestellten
Truppe mit Hilfe von afrikanischen Askaris (schwarzen Söldnern) brutal
niedergeschlagen. Ende 1890 stellt das Deutsche Reich das gesamte vormalige
Schutzgebiet der DOAG unter staatliche Verwaltung, wodurch Deutsch-Ostafrika
vom bloßen Schutzgebiet zu einer deutschen Kolonie avanciert. Carl Peters’
Plan, auch Sansibar dem deutschen Kolonialreich einzuverleiben, zerbricht
mit dem Sansibar-Helgoland-Abkommen zwischen Deutschland und Großbritannien
im Jahr 1890. Darin verzichtet Deutschland auf Ansprüche in Uganda und
Somaliland und bestätigt den britischen Einfluss auf Sansibar; dafür
überlassen die Briten den Deutschen die Insel Helgoland in der Nordsee und
den Caprivi-Zipfel in Südwestafrika, und die Deutschen erhalten für vier
Millionen Mark die Landrechte an dem umstrittenen ostafrikanischen
Küstenstreifen.
Als Carl Peters’ Gefährtin in dieser frühen Phase der
deutsch-ostafrikanischen Kolonialisierung mag Frieda von Bülow von seinen
kolonialpolitischen Manövern gewusst und seine hochfliegenden,
expansionistischen Pläne gekannt und geteilt haben.
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