Vorwort
Willi Bolle, Marcel Vejmelka, Edna Castro
Der vorliegende Band versammelt Aufsätze aus den Bereichen Geographie,
Geschichte, Anthropologie, Ethnologie, Soziologie sowie den Literatur-,
Kommunikations- und Kulturwissenschaften. Er versteht sich als
multidisziplinäre Einführung in die zentralen Themen und Fragestellungen,
die aus geisteswissenschaftlicher Perspektive mit Amazonien verbunden sind.
Entstanden ist er aus einer von Willi Bolle, Professor für
Literaturwissenschaft an der Universität São Paulo (USP), geleiteten Sektion
gleichen Titels auf dem internationalen Kongress Knowledge, Creativity and
Transformations of Societies (KCTOS), der im Dezember 2007 vom Institut zur
Erforschung und Förderung regionaler und transnationaler Kulturprozesse (INST)
in Wien veranstaltet wurde. Der Kongress im Allgemeinen und die
Sektionsarbeit im Besonderen regten Willi Bolle dazu an, in Zusammenarbeit
mit der Soziologin Edna Castro, Professorin der Bundesuniversität von Pará (UFPA)
in Belém und langjährige Koordinatorin des Núcleo de Altos Estudos
Amazônicos (NAEA), und dem Romanisten Marcel Vejmelka, damals Postdoktorand
des International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) der
Justus-Liebig-Universität Gießen, die gehaltenen Vorträge als Sammelband
herauszugeben. Dieser erscheint in zwei Fassungen, einer
portugiesischsprachigen und in der vorliegenden deutschen Ausgabe.
Die hier auf Amazonien angewandten Begriffe „Weltregion“ und „Welttheater“
sind inspiriert von Johann Wolfgang von Goethe (seiner Konzeption von
„Weltliteratur“) und Pedro Calderón de la Barca (seiner Metapher des „großen
Welttheaters“). Mit ihrer Hilfe soll der Versuch unternommen werden, diese
Region und ihre Bedeutung im globalen Maßstab – auf geopolitischer Ebene wie
hinsichtlich internationaler Vorstellungswelten – besser zu verstehen.
Seinen herausragenden Wert für den Weltmarkt verdankte Amazonien jeweils dem
Mythos von Eldorado und dem „Zimtland“, seinen Nutz- und Heilpflanzen („drogas
do sertão“), dem Kautschuk, seinen Bodenschätzen, seinen riesigen Flächen
für Viehzucht und Agro-Business, seiner Biodiversität und dem Tropenholz.
Aufgrund ihrer fortschreitenden Abholzung taucht die Region in allen
Diskussionen um den Klimawandel auf. Die Zerstörung des amazonischen
Regenwalds in den vergangenen vierzig Jahren entspricht in etwa zweimal der
Fläche der Bundesrepublik Deutschland, und manche Prognosen gehen davon aus,
dass er in sechzig bis siebzig Jahren vollkommen verschwunden sein wird.
Auch zu erwähnen sind die aktuellen Bewegungen traditioneller Völker
Amazoniens, die sich um die Bewahrung dieses weltweit einzigartigen Bioms
und seiner kulturellen Ausdrucksformen, insbesondere der indigenen Mythen
und Legenden, bemühen. All dies und nicht zuletzt auch das emblematische
Opernhaus Teatro Amazonas in Manaus hat die Region zu einem festen
Bestandteil universaler Vorstellungswelten gemacht, wobei von Beginn an der
mythische Name wirksam war, der sich bereits seit ihrer ersten
dokumentierten Durchquerung durch Francisco de Orellana in den Jahren
1541/42 durchsetzte: der Fluss und das Land „der Amazonen“, und somit:
Amazonien.
Der vorliegende Band versammelt insgesamt zwölf Aufsätze, die in drei Teilen
angeordnet wurden. Der erste Teil mit dem Titel „Expeditionen, Reisen,
Ethnographien“ besteht aus drei Aufsätzen, die sich mit den Begegnungen
zwischen den Fremden und den autochtonen Einwohnern Amazoniens vom 16. bis
zum 19. Jahrhundert sowie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
beschäftigen.
Willi Bolle untersucht die erste Durchquerung Amazoniens durch europäische
Entdecker, die 1541/42 von Francisco de Orellana angeführte und von Gaspar
de Carvajal schriftlich überlieferte Expedition, im Hinblick auf das
Zusammenprallen der Kulturen von Entdeckern und Bewohnern des Regenwalds.
Die Expedition verfolgte das Ziel der „Entdeckung“ unbekannten Landes, um es
zu „erobern“ und zu „kolonisieren“, und diente somit einem Staat, der das
erste globale Imperium aufbaute. Die Europäer stützten sich dabei nicht nur
auf ihre technologische und militärische Überlegenheit, sondern auch auf die
„christliche“ Religion, mit der sie den Massenmord an den als „Barbaren“ und
„Wilde“ bezeichneten Indigenen rechtfertigten. Das von Orellana und Carvajal
formulierte Projekt einer Kolonisierung gewann an Wirkmacht durch den
Rückgriff auf seine eigene Mythisierung, genauer durch seine Verknüpfung mit
den Gestalten der „Amazonen“. Diese wurden als Herrscherinnen über
fruchtbares Land und lokale Arbeitskraft, als Erbauerinnen von Städten und
Besitzerinnen von Reichtümern an Gold und Silber dargestellt, um zu
suggerieren, dass die Grundlagen für eine systematische Kolonisierung
bereits existierten; man müsste nur noch den Amazonen die Herrschaft und
Kontrolle entreißen. In der Vorstellung der Europäer entstand so der Topos
des Kampfes gegen ein Volk mythischer Kriegerinnen mit der
Erwartungshaltung, dass nach dem Gesetz des Stärkeren, welches die Spanier
bereits bei der Unterwerfung der Azteken und Inkas als ihnen zugeneigt
erfahren hatten, auch diese Frauen zu besiegen wären.
Die Überzeugung einer vermeintlichen Überlegenheit der Europäer gegenüber
den Ureinwohnern hatte über drei Jahrhunderte lang Bestand und erschien dann
erneut im Gewand der „eurozentrischen Arroganz“ und des „imperialen Blicks“
gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Eine Haltung, die man noch bei dem
deutschen Ethnologen Paul Ehrenreich (1855–1914) erkennt, der 1889 –
sechzehn Jahre vor der berühmten brasilianisch-peruanischen Expedition, an
der Euclides da Cunha teilnahm – eine Reise zum Purús unternahm. Joachim
Tiemann hat das bisher unveröffentlichte Tagebuch Ehrenreichs transkribiert
und analysiert es hier in vergleichender Perspektive. Einerseits findet sich
der Bezug auf Vorläufer wie Alexander von Humboldt, Martius und Bates im
Sinne einer „negativen Grundeinstellung zu den brasilianischen Indigenen,
die von ‚primitiv’ bis zu ‚verkommen’ reichte“. Andererseits deutet sich mit
dem Ethnologen Karl von den Steinen ein Wandel in der Wahrnehmung und im
Verhalten der Reisenden und Wissenschaftler an. Ehrenreich befindet sich
genau auf dieser Grenze. Er musste sich „von zahlreichen Vorurteilen älterer
ethnologischer Betrachtungsweise erst schrittweise befreien“, um zu
erkennen, „dass auch die Ureinwohner Brasiliens eine eigene Kultur
entwickelt haben, die ihnen ein geordnetes Leben ermöglichte, die aber eben
durch den Einfluss der westlichen Zivilisation gestört und letztlich
zerstört wurde“. Im Kontakt mit dem Ureinwohnern begann der Europäer so
einen Lernprozess, in dessen Verlauf er allmählich auch sein Selbstbild zu
erkennen vermochte.
Mit der nächsten Generation von Ethnographen, namentlich mit Constant
Tastevin (1880–1962) und Curt Nimuendaju (1882–1945), setzt ein radikal
neues Paradigma für das Verhältnis zwischen den fremden Wissenschaftlern und
den Ureinwohnern ein. Beide lebten lange Jahre mit den Indios, erforschten
ihre Sprachen und Kulturen, engagierten sich im Kampf für ihre Anliegen. Ein
besonderes Erkenntnisinteresse gewinnt die Analyse ihrer Werke durch den
Umstand, dass Priscila Faulhaber, die selbst Ethnographin ist, sie im
Kontext der Geschichte der Anthropologie, der mit ihr verbundenen
Institutionen und sozialen Bewegungen situiert. Tastevin und Nimuendaju
wirkten im Zeichen einer „ethnographischen Alarmsituation“: die Sorge, dass
die indigenen Völker zum Untergang verdammt seien, veranlasste sie zur
Praxis einer „Ethnographie der Rettung“. Beide arbeiteten bis zu einem
bestimmten Maß mit der 1910 eingerichteten Behörde zum Schutz der Indios (Serviço
de Proteção aos Índios / SPI) zusammen – einer Institution, die mit der
Demarkation indigener Gebiete begann, dabei aber auch eine paternalistische
und beschützende Position einnahm. Aufgrund ihrer partizipativen Ausrichtung
bilden die Werke und Persönlichkeiten von Tastevin und Nimuendaju bis heute
fundamentale Referenzen für indigene Forderungen nach der Anerkennung ihrer
Rechte.
Der Mittelteil des Bandes enthält fünf Aufsätze, die sich den sozialen,
ökonomischen und politischen Dynamiken im heutigen Amazonien widmen und in
ihrer Gesamtheit die zentralen Probleme ansprechen, die seit den Projekten
zur Besiedlung der „demographischen Leere“ in den 1960er Jahren im Zeichen
der Transamazônica, der neuen Kolonisierung, der Großprojekte, der
Urbanisierung und der Technologie sowie der Integration Amazoniens in den
globalen Wirtschaftszusammenhang entstanden sind.
In ihrer Untersuchung der staatlichen Politik und sozialen Akteure zeigt
Edna Castro, wie die Mythen und ideologischen Muster des alten Kolonialismus
sich fortsetzen und aktualisiert werden, um die Eroberung weitläufiger
Gebiete durch hegemoniale Gruppen zu legitimieren. Konkreter Ausdruck dieses
Vorantreibens der frontier sind die großen Straßenverkehrsachsen: von der
Nationalstraße Belém-Brasília in den 1960er und der Transamazônicas, der
Verbindung zwischen Cuiabá und Santarém (BR-163), in den 1970er Jahren bis
zu jüngeren Projekten wie Manaus und Porto Velho (BR-396) sowie dem Bau
eines Exportkorridors zum Pazifik. Einer der entscheidenden Widersprüche der
staatlichen Politik besteht in der Gleichzeitigkeit der Umsiedlung von
landlosen Familien nach Amazonien und der massiven finanziellen
Unterstützung für große Unternehmen in Landwirtschaft und Viehzucht: so hat
sich Amazonien in eine von tief greifenden sozialen Konflikten geprägte
Region verwandelt. Jüngste wirtschaftliche Strategien für eine
südamerikanische Integration, die am Rande der politischen Diskussion
verlaufen, haben Widerstandsbewegungen und Alternativvorschläge zur
Verteidigung der Interessen und Bedürfnisse der überwältigenden Mehrheit der
amazonischen Bevölkerung hervorgerufen.
Ein konkretes Zeugnis davon, wie Amazonien heute das Interesse von jungen
Menschen aus der ganzen Welt auf sich zieht, ist der Bericht von Ulrike
Tiemann-Arsenic über eine im Jahre 2006 von Geographie-StudentInnen in zwei
Siedlungen von Flussanrainern und angesiedelten Landbewohnern in der Nähe
von Manaus durchgeführte Feldforschung. Bei dieser Untersuchung wurden mit
etwa 50 Familien Interviews über ihre Lebensbedingungen geführt. Die
angesprochenen Themen umfassten Schulausbildung, Infrastruktur (Strom-,
Trinkwasser- und Abwasserversorgung, Kommunikationsmittel), Landbesitz und
wirtschaftliche Aktivität (Fischfang, Wald- und Landwirtschaft, Viehzucht),
Einkommensstruktur, Grundversorgung und medizinische Versorgung, sowie
schließlich die Wahrnehmung ihres Lebensraums und ihrer
Zukunftsperspektiven durch die Bewohner. Land, Wald und Wasser verstehen
sie als wesentlich für ihr Leben: Etwa die Hälfte von ihnen beobachtet eine
Zunahme der Abholzung, und ein großer Teil glaubt, dass ihre Kinder weggehen
werden, da dort praktisch keine Möglichkeiten für eine Berufsausbildung
bestehen und es nur geringe Aussichten auf ein regelmäßiges Einkommen gibt.
Alfredo Wagner und Rosa Acevedo berichten über eines der problematischsten
Themen der aktuellen politischen Szene: über die Kampagnen für die
Deterritorialisierung Amazoniens, also für eine Umstrukturierung des
Grundbesitzes zugunsten der Interessen des Agrobusiness und der daraus
resultierenden Infragestellung der Landrechte traditioneller Bewohner. Sie
beschreiben die wichtigsten „Agrostrategien“, d. h. die Maßnahmen der
Repräsentanten des Agrobusiness zum Erwerb neuen Landbesitzes, insbesondere
durch die Änderung bestehender Gesetze und laufender Gesetzentwürfe, z. B.
im Bezug auf die Bewilligung von Krediten für Verursacher von
Umweltverstößen oder die Privatisierung besetzten staatlichen Landes.
Dargestellt werden auch die Schwierigkeiten, die Quilombola-Gemeinschaften
bei der Legalisierung ihres Landbesitzes durch Regierungsstellen erleben.
Gruppen von Lobbyisten versuchen, gegen die vom brasilianischen Staat
zwischen 1910 und 1940 zugunsten der traditionellen Waldbewohner
eingerichtete Schutzpolitik einzuwirken. Amazonien ist noch immer, wie zu
Beginn der Kolonisierung, ein Kriegsschauplatz, nur mit neuen Akteuren.
Die Untersuchung von Neusa Pressler beleuchtet den Einsatz der Symbolik des
Regenwalds in den Diskursen von Institutionen der internationalen
Zusammenarbeit im Bereich des Öko-Business. Für ein besseres Verständnis der
Umweltschutzbewegung werden die Mentalität und Praktiken der vorangegangenen
historischen Epoche aufgerufen. Im Kontext der Modernisierung in den 1960er
Jahren entstand unter dem Militärregime die Transamazônica, den Bau
begleiteten Slogans wie „Land ohne Menschen für Menschen ohne Land“ oder
„Integrieren, um nicht zu verlieren“. Im Laufe der Zeit wich der
Modernisierungsimpuls dem Bewusstsein, dass dieser Kolonisierungskorridor in
Wahrheit „den Weg zur Vernichtung des Regenwalds“ bildete. Mit dem Erdgipfel
Rio 1992, der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung
in Rio de Janeiro, erfolgte ein Mentalitätswandel. Der Gedanke des
Umweltschutzes mit den Schlüsselbegriffen „nachhaltige Entwicklung“,
„Biodiversität“ und „Öko-Business“ rückte in den Vordergrund. Eine Folge des
Kontakts der kleinen Produzenten mit dem nationalen und dem Weltmarkt war
ihre Mobilisierung.
Der Mittelteil schließt mit einem Überblick zur Wirtschaftsgeschichte
Amazoniens von Eckhard E. Kupfer, der selbst in den 1970er bis 1990er Jahren
erfolgreich als Geschäftsmann in der Freihandelszone und im Industriebezirk
von Manaus tätig war. Sein Panorama beginnt im 18. Jahrhundert mit dem Anbau
von Kakao, Baumwolle und Reis. Darauf folgt die Zeit des Kautschuk, in der
Amazonien als Hauptlieferant auf dem Weltmarkt auftrat. Diese Zeit war
geprägt von spektakulären Ereignissen, wie dem Bau des monumentalen
Opernhauses Teatro Amazonas mitten im Regenwald und Extravaganzen der
Kautschukbarone, durch welche das tagtägliche Leiden der Tausende von
Arbeitern überblendet werden sollte, die unter sklavereiähnlichen
Bedingungen im Dickicht des Urwalds den Latex herstellten. Danach folgten
der traumatische Absturz und Niedergang. Wurden aus dieser Krise Lehren
gezogen? Ja, in dem Sinne, dass man in Manaus in den 1960er Jahren eine
alternative ökonomische Formel entwickelte: man brachte high tech ins Herz
Amazoniens, siedelte einen Industriebezirk und wettbewerbsfähigen Handel an.
So wurden der materielle Wohlstand und die Qualität der Schul- und
Berufsausbildung für Tausende von Bewohnern verbessert.
Die vier Aufsätze im dritten und letzten Teil dieses Bandes wollen den
Bewohnern Amazoniens durch das Medium der Literatur und der Oper Stimmen und
Gesichter verleihen.
Der Roman Through the Arc of the Rain Forest (1990) der US-amerikanischen
Schriftstellerin japanischer Abstammung Karen Tei Yamashita wird von Marcel
Vejmelka als ein Instrument für das Verständnis Amazoniens als „diskursive
Konstruktion“ nach Ana Pizarro analysiert. In dieser Form von science
fiction wird gezeigt, welche Elemente der globalen Vorstellungswelt eine
wesentliche Rolle in der Wirtschaftsgeschichte der Region spielen. Die
Entdeckung eines unbekannten Materials mit magischen Eigenschaften mitten im
Regenwald weckt die Begehrlichkeiten universeller Anwendungen, die Erwartung
grenzenloser Gewinne, Dynamiken des Umweltschutzes, des Ökö-Tourismus und
des Wunderglaubens. Darauf entwickelt sich ein komplexes Netz
unternehmerischer Aktivitäten, das die lokalen Strukturen Amazoniens mit der
Logik des Weltmarktes verschränkt und die unterschiedlichsten Träume
erfüllt. Die im Urwaldboden gefundene Schicht dieses Materials bildet eine
Art globaler Bühne, auf der die Mythen von Eldorado und des Kautschuk-Booms
als postmoderne Ironie und Satire neu inszeniert werden. So ermöglicht der
Roman eine kritische Lektüre der Strukturen, von denen die Geschichte
Amazoniens vom Höhepunkt des Größenwahns bis zum traumatischen Absturz
geprägt ist.
Dann wendet sich der Blick dem Werk von Dalcídio Jurandir (1909–1979) zu,
das vor dem Hintergrund des neorealistischen Gesellschaftsromans der 1930er
und 1940er Jahre entstand und den lang anhaltenden Niedergang nach dem
Kautschuk-Boom erkundet. Im Grunde, so erklärt Günter Pressler in seiner
Studie, schrieb Jurandir damit gegen die Dekadenz an. Obwohl er eine
traumatische Zeit ohne Aussichten auf eine bessere Zukunft erlebte,
entschied er sich für einen „Pessimusmus der Hoffnung“. Sein Werk erstellt
ein Portrait der Stadt Belém und der sie umgebenden Flusswelt, insbesondere
der Insel Marajó, und bringt vor allem die Lebensbedingungen der armen
Bevölkerung zur Darstellung. Eine besondere ästhetische Herausforderung für
die Autoren im Kontext des Regionalismus besteht darin, „das Regionale in
einer universalen Form“ zum Ausdruck zu bringen, wie es der
Literaturtheoretiker Antonio Candido formulierte. Die Zukunft wird zeigen,
ob die gegenwärtigen Bemühungen von Wissenschaftlern wie Günter Pressler,
der das Werk von Dalcídio Jurandir im Lichte weltliterarischer Kategorien
analysiert, dazu beitragen können, es nicht nur einem breiteren Publikum in
Brasilien, sondern auch im internationalen Rahmen nahe zu bringen.
Amazonien mag kein Werk der Weltliteratur hervorgebracht haben, doch die
Region hat ihre Spuren in einem der größten Romane des 20. Jahrhunderts
hinterlassen: in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930 begonnen).
Dort, so bemerkt Stefan Kutzenberger, erstellt der Autor anhand eines
Portraits von Österreich-Ungarn am Vorabend des Ersten Weltkriegs eine
Diagnose seiner Zeit. Musil enthüllt die verborgenen Bereiche im Innern des
Menschen. Im Versuch, das „wilde“ Denken eines Frauenmörders zu verstehen,
lässt der Romancier die Mentalität „primitiver“ oder „niedriger“
Gesellschaften Revue passieren, wie sie von Lucien Lévy-Bruhl untersucht
wurden. „Ein Menschenfresser, als Säugling in europäische Umgebung
eingepflanzt,“ spekuliert Musil, „würde wahrscheinlich ein guter Europäer“;
andererseits wäre „der zarte Rainer Maria Rilke ein guter Menschenfresser
geworden, wenn ihn ein uns ungünstiges Geschick als kleines Kind unter
Südseeleute geworfen hätte.“ Der Zweite Weltkrieg und die Erfahrung von
Auschwitz bestätigten, was bereits im Ersten Weltkrieg deutlich geworden
war: den vollständigen Wegfall moralischer Grenzen und den Ausbruch von
Wildheit und Barbarei im zivilisierten Europäer.
Unser Band schließt mit dem Bericht von einem multikulturellen
Multimediaprojekt, das 2006 begonnen wurde und 2010 seine Premiere haben
soll: „Der Amazonas als Oper“. Hauptanliegen dieses Projekt ist laut dem
Koordinator Joachim Bernauer vom Goethe-Institut, die Weltöffentlichkeit für
die voranschreitende Zerstörung des amazonischen Regenwalds durch die
technologisch-kapitalistische Zivilisation zu sensibilisieren. In der Oper
wird die Stimme des Waldes von einem amazonischen Stamm übernommen: den
Yanomami. Ihre Beteiligung ist eine der Besonderheiten dieser
internationalen Kooperation zwischen Brasilien, Deutschland und der
Europäischen Union. Es handelt sich nicht um noch einen Diskurs über den
Regenwald, sondern um einen wirklichen Dialog und eine gemeinsame Reflexion
von Vertretern der westlichen Zivilisation (Künstlern, Wissenschaftlern,
Medienschaffenden, Kulturvermittlern) und Ureinwohnern des Regenwalds. Ihr
Anliegen ist von gemeinsamem Interesse: den noch bestehenden Regenwald
schützen, um die Überlebensgrundlage der lokalen Bevölkerung zu sichern und
damit auch zur Erhaltung des Weltklimas beizutragen, für das Amazonien eine
entscheidende Rolle spielt.
Amazonien – Weltregion und Welttheater. Tatsächlich ist Amazonien, wie der
Geograph Eidorfe Moreira bemerkte, im geomorphologischen Sinne ein
„Amphitheater“. Anhand der zwölf in diesem Band versammelten Aufsätze lässt
sich beobachten, wie dieses natürliche Szenarium gleich bei seiner ersten
Durchquerung zu einem Kriegsschauplatz wurde, auf dem sich spanische
Soldaten und Ureinwohner bekämpften. Seitdem hat es nicht aufgehört,
Kampfplatz zu sein: von der Versklavung und dem Völkermord der frühen
Kolonisierung bis zu den bewaffneten Konflikten um den Landbesitz, den
juristischen Schlachten und den sozialen Bewegungen der Gegenwart. Das
theatralische Element prägt die Region auch im kulturellen und
architektonischen Sinne. Es findet seinen emblematischen Ausdruck im
majestätischen Teatro Amazonas in Manaus, durch welches das Bild von
Amazonien in die gesamte Welt projiziert wurde. Neben dem Zusammenprall der
Kulturen wird in den verschiedenen Beiträgen ebenfalls deutlich, dass in
diesem theatrum mundi Amazoniens einige bedeutsame Dialoge zwischen Fremden
und traditionellen Bewohnern geführt wurden und neue soziale Akteure die
Bühne betraten. Nicht umsonst haben sich die Initiatoren des Projekts „Der
Amazonas als Oper“ ausgerechnet für die Gattung des Musiktheaters
entschieden, um sich an die Weltöffentlichkeit zu wenden. Dass die Probleme
Amazoniens von universaler Bedeutung sind, konnten die Autoren dieses Bandes
im Januar 2009 in Belém selbst erfahren, als die Stadt zur Bühne des
Weltsozialforums wurde. Etwa 100.000 Menschen aus allen Weltteilen und über
150 Ländern nahmen an dieser Veranstaltung teil. Am Eröffnungstag spürte
Willi Bolle um sich herum den Wunsch so vieler Menschen nach einer besseren
Welt und saß plötzlich in einem Kreis von Ureinwohnern. So fühlte er sich
mitten auf der Bühne eines Amazoniens, das sich erneut in eine Weltregion
und ein Welttheater verwandelt hatte. Es war nicht mehr der erste Akt, wie
noch zu Zeiten der Entdeckungen, der Kolonisierung und der Versklavung. Zu
diesem Zeitpunkt im Stück befanden sich die Schauspieler auf der Bühne, um
die Requisiten der Kolonisierung zu entfernen; mit soviel positiver Energie
scheint der Wandel tatsächlich möglich. Am letzten Tag des Weltsozialforums
kam es zu einem weniger spektakulären, doch nicht weniger bedeutsamen
Ereignis. Eine Gruppe Teilnehmer überquerte die große Straße, die den
Universitätscampus von Terra Firme trennt, dem größten sozialen Brennpunkt
Beléms, in dem die Lebensbedingungen der Peripherie Brasiliens und der Welt
sich synthetisiert finden. Die Teilnehmer nahmen den Dialog mit den
Bewohnern auf. Der vorliegende Band versteht sich als ein Beitrag zu diesem
Dialog.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 7
Willi Bolle, Marcel Vejmelka, Edna Castro
I. Teil: Expeditionen, Reisen, Ethnographien 17
Die erste Durchquerung Amazoniens (Francisco de Orellana, 1541–42) 21
Willi Bolle (São Paulo)
Paul Ehrenreichs Tagebuch Reise auf dem Rio Purús (1889) 63
Joachim Tiemann (Hildesheim)
Die teilnehmende Ethnographie von Constant Tastevin und Curt Nimuendaju 83
Priscila Faulhaber (Rio de Janeiro)
II. Teil: Die wirtschaftliche, politische und soziale
Dynamik im heutigen Amazonien 111
Staatliche Politik und soziale Akteure im heutigen Amazonien 115
Edna Castro (Belém)
Ressourcennutzung und Zukunftsperspektiven im Amazonastiefland. Ergebnisse
einer Feldforschung 133
Ulrike Tiemann-Arsenic (Tübingen)
Strategien der Landenteignung in Amazonien. Agrobusiness und Bodenkonflikte
151
Alfredo Wagner, Rosa Acevedo (Manaus/Belém)
Öko-Business und internationale Kooperation: Neue Diskurse über Amazonien
171
Neusa Pressler (Belém)
Amazonien – vom Kakao über den Kautschuk zum high tech 195
Eckhard E. Kupfer (São Paulo)
III. Teil: Literatur und Oper 215
Amazonien als globale Bühne in Karen Tei Yamashitas Through the Arc of the
Rain Forest 219
Marcel Vejmelka (Germersheim)
Amazoniens größter Romanautor Dalcídio Jurandir und die Welt des
Marajó-Archipels 247
Günter Karl Pressler (Belém)
Amazonien im Werk von Robert Musil, oder: Der Wilde im zivilisierten
Europäer 275
Stefan Kutzenberger (Wien)
Das Projekt einer Amazonas-Oper. Wo Medienkunst und zeitgenössisches
Musiktheater zusammenfließen wie Rio Negro und Rio Solimões 289
Joachim Bernauer (Lissabon)
Über die Autorinnen und Autoren 311
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