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Bolle, Willi / Vejmelka, Marcel / Castro, Edna (Hrsg.):

AMAZONIEN. Weltregion und Welttheater

 

2009 [= Lateinamerika Studien, Bd. 1], 315 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-89626-940-9, 39,80 EUR

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Vorwort

 

Willi Bolle, Marcel Vejmelka, Edna Castro

Der vorliegende Band versammelt Aufsätze aus den Bereichen Geo­graphie, Geschichte, Anthropologie, Ethnologie, Soziologie sowie den Literatur-, Kommunikations- und Kulturwissenschaften. Er versteht sich als multi­disziplinäre Einführung in die zentralen Themen und Fragestellungen, die aus geisteswissenschaftlicher Perspektive mit Amazonien verbunden sind. Entstanden ist er aus einer von Willi Bolle, Professor für Literaturwissenschaft an der Universität São Paulo (USP), geleiteten Sektion gleichen Titels auf dem internationalen Kongress Knowledge, Creativity and Transformations of Societies (KCTOS), der im Dezember 2007 vom Institut zur Erforschung und Förderung regionaler und transnationaler Kulturprozesse (INST) in Wien veranstaltet wurde. Der Kongress im Allgemeinen und die Sektionsarbeit im Besonderen regten Willi Bolle dazu an, in Zusammenarbeit mit der Soziologin Edna Castro, Professorin der Bundesuniversität von Pará (UFPA) in Belém und langjährige Koordinatorin des Núcleo de Altos Estudos Amazônicos (NAEA), und dem Romanisten Marcel Vejmelka, damals Postdoktorand des International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) der Justus-Liebig-Universität Gießen, die gehaltenen Vorträge als Sammelband herauszugeben. Dieser erscheint in zwei Fassungen, einer portugiesischsprachigen und in der vorliegenden deutschen Ausgabe.
Die hier auf Amazonien angewandten Begriffe „Weltregion“ und „Welttheater“ sind inspiriert von Johann Wolfgang von Goethe (seiner Konzeption von „Weltliteratur“) und Pedro Calderón de la Barca (seiner Metapher des „großen Welttheaters“). Mit ihrer Hilfe soll der Versuch unternommen werden, diese Region und ihre Bedeutung im globalen Maßstab – auf geopolitischer Ebene wie hinsichtlich internationaler Vorstellungswelten – besser zu verstehen. Seinen herausragenden Wert für den Weltmarkt verdankte Amazonien jeweils dem Mythos von Eldorado und dem „Zimtland“, seinen Nutz- und Heilpflanzen („drogas do sertão“), dem Kautschuk, seinen Bodenschätzen, seinen riesigen Flächen für Viehzucht und Agro-Business, seiner Biodiversität und dem Tropenholz. Aufgrund ihrer fortschreitenden Abholzung taucht die Region in allen Diskussionen um den Klimawandel auf. Die Zerstörung des amazonischen Regenwalds in den vergangenen vierzig Jahren entspricht in etwa zweimal der Fläche der Bundesrepublik Deutschland, und manche Prognosen gehen davon aus, dass er in sechzig bis siebzig Jahren vollkommen verschwunden sein wird. Auch zu erwähnen sind die aktuellen Bewegungen traditioneller Völker Amazoniens, die sich um die Bewahrung dieses weltweit einzigartigen Bioms und seiner kulturellen Ausdrucksformen, insbesondere der indigenen Mythen und Legenden, bemühen. All dies und nicht zuletzt auch das emblematische Opernhaus Teatro Amazonas in Manaus hat die Region zu einem festen Bestandteil universaler Vorstellungswelten gemacht, wobei von Beginn an der mythische Name wirksam war, der sich bereits seit ihrer ersten dokumentierten Durchquerung durch Francisco de Orellana in den Jahren 1541/42 durchsetzte: der Fluss und das Land „der Amazonen“, und somit: Amazonien.

Der vorliegende Band versammelt insgesamt zwölf Aufsätze, die in drei Teilen angeordnet wurden. Der erste Teil mit dem Titel „Expeditionen, Reisen, Ethnographien“ besteht aus drei Aufsätzen, die sich mit den Begegnungen zwischen den Fremden und den autochtonen Einwohnern Amazoniens vom 16. bis zum 19. Jahrhundert sowie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigen.
Willi Bolle untersucht die erste Durchquerung Amazoniens durch europäische Entdecker, die 1541/42 von Francisco de Orellana angeführte und von Gaspar de Carvajal schriftlich überlieferte Expedition, im Hinblick auf das Zusammenprallen der Kulturen von Entdeckern und Bewohnern des Regenwalds. Die Expedition verfolgte das Ziel der „Entdeckung“ unbekannten Landes, um es zu „erobern“ und zu „kolonisieren“, und diente somit einem Staat, der das erste globale Imperium aufbaute. Die Europäer stützten sich dabei nicht nur auf ihre technologische und militärische Überlegenheit, sondern auch auf die „christliche“ Religion, mit der sie den Massenmord an den als „Barbaren“ und „Wilde“ bezeichneten Indigenen rechtfertigten. Das von Orellana und Carvajal formulierte Projekt einer Kolonisierung gewann an Wirkmacht durch den Rückgriff auf seine eigene Mythisierung, genauer durch seine Verknüpfung mit den Gestalten der „Amazonen“. Diese wurden als Herrscherinnen über fruchtbares Land und lokale Arbeitskraft, als Erbauerinnen von Städten und Besitzerinnen von Reichtümern an Gold und Silber dargestellt, um zu suggerieren, dass die Grundlagen für eine systematische Kolonisierung bereits existierten; man müsste nur noch den Amazonen die Herrschaft und Kontrolle entreißen. In der Vorstellung der Europäer entstand so der Topos des Kampfes gegen ein Volk mythischer Kriegerinnen mit der Erwartungshaltung, dass nach dem Gesetz des Stärkeren, welches die Spanier bereits bei der Unterwerfung der Azteken und Inkas als ihnen zugeneigt erfahren hatten, auch diese Frauen zu besiegen wären.
Die Überzeugung einer vermeintlichen Überlegenheit der Europäer gegenüber den Ureinwohnern hatte über drei Jahrhunderte lang Bestand und erschien dann erneut im Gewand der „eurozentrischen Arroganz“ und des „imperialen Blicks“ gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Eine Haltung, die man noch bei dem deutschen Ethnologen Paul Ehrenreich (1855–1914) erkennt, der 1889 – sechzehn Jahre vor der berühmten brasilianisch-peruanischen Expedition, an der Euclides da Cunha teilnahm – eine Reise zum Purús unternahm. Joachim Tiemann hat das bisher unveröffentlichte Tagebuch Ehrenreichs transkribiert und analysiert es hier in vergleichender Perspektive. Einerseits findet sich der Bezug auf Vorläufer wie Alexander von Humboldt, Martius und Bates im Sinne einer „negativen Grundeinstellung zu den brasilianischen Indigenen, die von ‚primitiv’ bis zu ‚verkommen’ reichte“. Andererseits deutet sich mit dem Ethnologen Karl von den Steinen ein Wandel in der Wahrnehmung und im Verhalten der Reisenden und Wissenschaftler an. Ehrenreich befindet sich genau auf dieser Grenze. Er musste sich „von zahlreichen Vorurteilen älterer ethnologischer Betrachtungsweise erst schrittweise befreien“, um zu erkennen, „dass auch die Ureinwohner Brasiliens eine eigene Kultur entwickelt haben, die ihnen ein geordnetes Leben ermöglichte, die aber eben durch den Einfluss der westlichen Zivilisation gestört und letztlich zerstört wurde“. Im Kontakt mit dem Ureinwohnern begann der Europäer so einen Lernprozess, in dessen Verlauf er allmählich auch sein Selbstbild zu erkennen vermochte.
Mit der nächsten Generation von Ethnographen, namentlich mit Constant Tastevin (1880–1962) und Curt Nimuendaju (1882–1945), setzt ein radikal neues Paradigma für das Verhältnis zwischen den fremden Wissenschaftlern und den Ureinwohnern ein. Beide lebten lange Jahre mit den Indios, erforschten ihre Sprachen und Kulturen, engagierten sich im Kampf für ihre Anliegen. Ein besonderes Erkenntnisinteresse gewinnt die Analyse ihrer Werke durch den Umstand, dass Priscila Faulhaber, die selbst Ethnographin ist, sie im Kontext der Geschichte der Anthropologie, der mit ihr verbundenen Institutionen und sozialen Bewegungen situiert. Tastevin und Nimuendaju wirkten im Zeichen einer „ethnographischen Alarmsituation“: die Sorge, dass die indigenen Völker zum Untergang verdammt seien, veranlasste sie zur Praxis einer „Ethnographie der Rettung“. Beide arbeiteten bis zu einem bestimmten Maß mit der 1910 eingerichteten Behörde zum Schutz der Indios (Serviço de Proteção aos Índios / SPI) zusammen – einer Institution, die mit der Demarkation indigener Gebiete begann, dabei aber auch eine paternalistische und beschützende Position einnahm. Aufgrund ihrer partizipativen Ausrichtung bilden die Werke und Persönlichkeiten von Tastevin und Nimuendaju bis heute fundamentale Referenzen für indigene Forderungen nach der Anerkennung ihrer Rechte.

Der Mittelteil des Bandes enthält fünf Aufsätze, die sich den sozialen, ökonomischen und politischen Dynamiken im heutigen Amazonien widmen und in ihrer Gesamtheit die zentralen Probleme ansprechen, die seit den Projekten zur Besiedlung der „demographischen Leere“ in den 1960er Jahren im Zeichen der Transamazônica, der neuen Kolonisierung, der Großprojekte, der Urbanisierung und der Technologie sowie der Integration Amazoniens in den globalen Wirtschaftszusammenhang entstanden sind.
In ihrer Untersuchung der staatlichen Politik und sozialen Akteure zeigt Edna Castro, wie die Mythen und ideologischen Muster des alten Kolonialismus sich fortsetzen und aktualisiert werden, um die Eroberung weitläufiger Gebiete durch hegemoniale Gruppen zu legitimieren. Konkreter Ausdruck dieses Vorantreibens der frontier sind die großen Straßenverkehrsachsen: von der Nationalstraße Belém-Brasília in den 1960er und der Transamazônicas, der Verbindung zwischen Cuiabá und Santarém (BR-163), in den 1970er Jahren bis zu jüngeren Projekten wie Manaus und Porto Velho (BR-396) sowie dem Bau eines Exportkorridors zum Pazifik. Einer der entscheidenden Widersprüche der staatlichen Politik besteht in der Gleichzeitigkeit der Umsiedlung von landlosen Familien nach Amazonien und der massiven finanziellen Unterstützung für große Unternehmen in Landwirtschaft und Viehzucht: so hat sich Amazonien in eine von tief greifenden sozialen Konflikten geprägte Region verwandelt. Jüngste wirtschaftliche Strategien für eine südamerikanische Integration, die am Rande der politischen Diskussion verlaufen, haben Widerstandsbewegungen und Alternativvorschläge zur Verteidigung der Interessen und Bedürfnisse der überwältigenden Mehrheit der amazonischen Bevölkerung hervorgerufen.
Ein konkretes Zeugnis davon, wie Amazonien heute das Interesse von jungen Menschen aus der ganzen Welt auf sich zieht, ist der Bericht von Ulrike Tiemann-Arsenic über eine im Jahre 2006 von Geographie-StudentInnen in zwei Siedlungen von Flussanrainern und angesiedelten Landbewohnern in der Nähe von Manaus durchgeführte Feldforschung. Bei dieser Untersuchung wurden mit etwa 50 Familien Interviews über ihre Lebensbedingungen geführt. Die angesprochenen Themen umfassten Schulausbildung, Infrastruktur (Strom-, Trinkwasser- und Abwasserversorgung, Kommunikationsmittel), Landbesitz und wirt­schaftliche Aktivität (Fischfang, Wald- und Landwirtschaft, Viehzucht), Einkommensstruktur, Grundversorgung und medizinische Versorgung, sowie schließlich die Wahrnehmung ihres Lebensraums und ihrer Zukunfts­perspektiven durch die Bewohner. Land, Wald und Wasser verstehen sie als wesentlich für ihr Leben: Etwa die Hälfte von ihnen beobachtet eine Zunahme der Abholzung, und ein großer Teil glaubt, dass ihre Kinder weggehen werden, da dort praktisch keine Möglichkeiten für eine Berufsausbildung bestehen und es nur geringe Aussichten auf ein regelmäßiges Einkommen gibt.
Alfredo Wagner und Rosa Acevedo berichten über eines der pro­blematischsten Themen der aktuellen politischen Szene: über die Kampagnen für die Deterritorialisierung Amazoniens, also für eine Umstrukturierung des Grundbesitzes zugunsten der Interessen des Agrobusiness und der daraus resultierenden Infragestellung der Landrechte traditioneller Bewohner. Sie beschreiben die wichtigsten „Agrostrategien“, d. h. die Maßnahmen der Repräsentanten des Agrobusiness zum Erwerb neuen Landbesitzes, insbesondere durch die Änderung bestehender Gesetze und laufender Gesetzentwürfe, z. B. im Bezug auf die Bewilligung von Krediten für Verursacher von Umweltverstößen oder die Privatisierung besetzten staatlichen Landes. Dargestellt werden auch die Schwierigkeiten, die Quilombola-Gemeinschaften bei der Legalisierung ihres Landbesitzes durch Regierungsstellen erleben. Gruppen von Lobbyisten versuchen, gegen die vom brasilianischen Staat zwischen 1910 und 1940 zugunsten der traditionellen Waldbewohner eingerichtete Schutzpolitik einzuwirken. Amazonien ist noch immer, wie zu Beginn der Kolonisierung, ein Kriegsschauplatz, nur mit neuen Akteuren.
Die Untersuchung von Neusa Pressler beleuchtet den Einsatz der Symbolik des Regenwalds in den Diskursen von Institutionen der inter­nationalen Zusammenarbeit im Bereich des Öko-Business. Für ein besseres Verständnis der Umweltschutzbewegung werden die Mentalität und Praktiken der vorangegangenen historischen Epoche aufgerufen. Im Kontext der Modernisierung in den 1960er Jahren entstand unter dem Militärregime die Transamazônica, den Bau begleiteten Slogans wie „Land ohne Menschen für Menschen ohne Land“ oder „Integrieren, um nicht zu verlieren“. Im Laufe der Zeit wich der Modernisierungsimpuls dem Bewusstsein, dass dieser Kolonisierungskorridor in Wahrheit „den Weg zur Vernichtung des Regenwalds“ bildete. Mit dem Erdgipfel Rio 1992, der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro, erfolgte ein Mentalitätswandel. Der Gedanke des Umweltschutzes mit den Schlüsselbegriffen „nachhaltige Entwicklung“, „Biodiversität“ und „Öko-Business“ rückte in den Vordergrund. Eine Folge des Kontakts der kleinen Produzenten mit dem nationalen und dem Weltmarkt war ihre Mobilisierung.
Der Mittelteil schließt mit einem Überblick zur Wirtschaftsgeschichte Amazoniens von Eckhard E. Kupfer, der selbst in den 1970er bis 1990er Jahren erfolgreich als Geschäftsmann in der Freihandelszone und im Industriebezirk von Manaus tätig war. Sein Panorama beginnt im 18. Jahrhundert mit dem Anbau von Kakao, Baumwolle und Reis. Darauf folgt die Zeit des Kautschuk, in der Amazonien als Hauptlieferant auf dem Weltmarkt auftrat. Diese Zeit war geprägt von spektakulären Ereignissen, wie dem Bau des monumentalen Opernhauses Teatro Amazonas mitten im Regenwald und Extravaganzen der Kautschukbarone, durch welche das tagtägliche Leiden der Tausende von Arbeitern überblendet werden sollte, die unter sklavereiähnlichen Bedingungen im Dickicht des Urwalds den Latex herstellten. Danach folgten der traumatische Absturz und Niedergang. Wurden aus dieser Krise Lehren gezogen? Ja, in dem Sinne, dass man in Manaus in den 1960er Jahren eine alternative ökonomische Formel entwickelte: man brachte high tech ins Herz Amazoniens, siedelte einen Industriebezirk und wettbewerbsfähigen Handel an. So wurden der materielle Wohlstand und die Qualität der Schul- und Berufsausbildung für Tausende von Bewohnern verbessert.

Die vier Aufsätze im dritten und letzten Teil dieses Bandes wollen den Bewohnern Amazoniens durch das Medium der Literatur und der Oper Stimmen und Gesichter verleihen.
Der Roman Through the Arc of the Rain Forest (1990) der US-ame­rikanischen Schriftstellerin japanischer Abstammung Karen Tei Yamashita wird von Marcel Vejmelka als ein Instrument für das Verständnis Amazoniens als „diskursive Konstruktion“ nach Ana Pizarro analysiert. In dieser Form von science fiction wird gezeigt, welche Elemente der globalen Vorstellungswelt eine wesentliche Rolle in der Wirtschaftsgeschichte der Region spielen. Die Entdeckung eines unbekannten Materials mit magischen Eigenschaften mitten im Regenwald weckt die Begehrlichkeiten universeller Anwendungen, die Erwartung grenzenloser Gewinne, Dynamiken des Umweltschutzes, des Ökö-Tourismus und des Wunderglaubens. Darauf entwickelt sich ein komplexes Netz unternehmerischer Aktivitäten, das die lokalen Strukturen Amazoniens mit der Logik des Weltmarktes verschränkt und die unterschiedlichsten Träume erfüllt. Die im Urwaldboden gefundene Schicht dieses Materials bildet eine Art globaler Bühne, auf der die Mythen von Eldorado und des Kautschuk-Booms als postmoderne Ironie und Satire neu inszeniert werden. So ermöglicht der Roman eine kritische Lektüre der Strukturen, von denen die Geschichte Amazoniens vom Höhepunkt des Größenwahns bis zum traumatischen Absturz geprägt ist.
Dann wendet sich der Blick dem Werk von Dalcídio Jurandir (1909–1979) zu, das vor dem Hintergrund des neorealistischen Gesellschaftsromans der 1930er und 1940er Jahre entstand und den lang anhaltenden Niedergang nach dem Kautschuk-Boom erkundet. Im Grunde, so erklärt Günter Pressler in seiner Studie, schrieb Jurandir damit gegen die Dekadenz an. Obwohl er eine traumatische Zeit ohne Aussichten auf eine bessere Zukunft erlebte, entschied er sich für einen „Pessimusmus der Hoffnung“. Sein Werk erstellt ein Portrait der Stadt Belém und der sie umgebenden Flusswelt, insbesondere der Insel Marajó, und bringt vor allem die Lebensbedingungen der armen Bevölkerung zur Darstellung. Eine besondere ästhetische Herausforderung für die Autoren im Kontext des Regionalismus besteht darin, „das Regionale in einer universalen Form“ zum Ausdruck zu bringen, wie es der Literaturtheoretiker Antonio Candido formulierte. Die Zukunft wird zeigen, ob die gegenwärtigen Bemühungen von Wissenschaftlern wie Günter Pressler, der das Werk von Dalcídio Jurandir im Lichte weltliterarischer Kategorien analysiert, dazu beitragen können, es nicht nur einem breiteren Publikum in Brasilien, sondern auch im internationalen Rahmen nahe zu bringen.
Amazonien mag kein Werk der Weltliteratur hervorgebracht haben, doch die Region hat ihre Spuren in einem der größten Romane des 20. Jahrhunderts hinterlassen: in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930 begonnen). Dort, so bemerkt Stefan Kutzenberger, erstellt der Autor anhand eines Portraits von Österreich-Ungarn am Vorabend des Ersten Weltkriegs eine Diagnose seiner Zeit. Musil enthüllt die verborgenen Bereiche im Innern des Menschen. Im Versuch, das „wilde“ Denken eines Frauenmörders zu verstehen, lässt der Romancier die Mentalität „primitiver“ oder „niedriger“ Gesellschaften Revue passieren, wie sie von Lucien Lévy-Bruhl untersucht wurden. „Ein Menschenfresser, als Säugling in europäische Umgebung eingepflanzt,“ spekuliert Musil, „würde wahrscheinlich ein guter Europäer“; andererseits wäre „der zarte Rainer Maria Rilke ein guter Menschenfresser geworden, wenn ihn ein uns ungünstiges Geschick als kleines Kind unter Südseeleute geworfen hätte.“ Der Zweite Weltkrieg und die Erfahrung von Auschwitz bestätigten, was bereits im Ersten Weltkrieg deutlich geworden war: den vollständigen Wegfall moralischer Grenzen und den Ausbruch von Wildheit und Barbarei im zivilisierten Europäer.
Unser Band schließt mit dem Bericht von einem multikulturellen Multimediaprojekt, das 2006 begonnen wurde und 2010 seine Premiere haben soll: „Der Amazonas als Oper“. Hauptanliegen dieses Projekt ist laut dem Koordinator Joachim Bernauer vom Goethe-Institut, die Weltöffentlichkeit für die voranschreitende Zerstörung des amazonischen Regenwalds durch die technologisch-kapitalistische Zivilisation zu sensibilisieren. In der Oper wird die Stimme des Waldes von einem amazonischen Stamm übernommen: den Yanomami. Ihre Beteiligung ist eine der Besonderheiten dieser internationalen Kooperation zwischen Brasilien, Deutschland und der Europäischen Union. Es handelt sich nicht um noch einen Diskurs über den Regenwald, sondern um einen wirklichen Dialog und eine gemeinsame Reflexion von Vertretern der westlichen Zivilisation (Künstlern, Wissenschaftlern, Medienschaffenden, Kulturvermittlern) und Ureinwohnern des Regenwalds. Ihr Anliegen ist von gemeinsamem Interesse: den noch bestehenden Regenwald schützen, um die Überlebensgrundlage der lokalen Bevölkerung zu sichern und damit auch zur Erhaltung des Weltklimas beizutragen, für das Amazonien eine entscheidende Rolle spielt.

Amazonien – Weltregion und Welttheater. Tatsächlich ist Amazonien, wie der Geograph Eidorfe Moreira bemerkte, im geomorphologischen Sinne ein „Amphitheater“. Anhand der zwölf in diesem Band versammelten Aufsätze lässt sich beobachten, wie dieses natürliche Szenarium gleich bei seiner ersten Durchquerung zu einem Kriegsschauplatz wurde, auf dem sich spanische Soldaten und Ureinwohner bekämpften. Seitdem hat es nicht aufgehört, Kampfplatz zu sein: von der Versklavung und dem Völkermord der frühen Kolonisierung bis zu den bewaffneten Konflikten um den Landbesitz, den juristischen Schlachten und den sozialen Bewegungen der Gegenwart. Das theatralische Element prägt die Region auch im kulturellen und architektonischen Sinne. Es findet seinen emblematischen Ausdruck im majestätischen Teatro Amazonas in Manaus, durch welches das Bild von Amazonien in die gesamte Welt projiziert wurde. Neben dem Zusammenprall der Kulturen wird in den verschiedenen Beiträgen ebenfalls deutlich, dass in diesem theatrum mundi Amazoniens einige bedeutsame Dialoge zwischen Fremden und traditionellen Bewohnern geführt wurden und neue soziale Akteure die Bühne betraten. Nicht umsonst haben sich die Initiatoren des Projekts „Der Amazonas als Oper“ ausgerechnet für die Gattung des Musiktheaters entschieden, um sich an die Weltöffentlichkeit zu wenden. Dass die Probleme Amazoniens von universaler Bedeutung sind, konnten die Autoren dieses Bandes im Januar 2009 in Belém selbst erfahren, als die Stadt zur Bühne des Weltsozialforums wurde. Etwa 100.000 Menschen aus allen Weltteilen und über 150 Ländern nahmen an dieser Veranstaltung teil. Am Eröffnungstag spürte Willi Bolle um sich herum den Wunsch so vieler Menschen nach einer besseren Welt und saß plötzlich in einem Kreis von Ureinwohnern. So fühlte er sich mitten auf der Bühne eines Amazoniens, das sich erneut in eine Weltregion und ein Welttheater verwandelt hatte. Es war nicht mehr der erste Akt, wie noch zu Zeiten der Entdeckungen, der Kolonisierung und der Versklavung. Zu diesem Zeitpunkt im Stück befanden sich die Schauspieler auf der Bühne, um die Requisiten der Kolonisierung zu entfernen; mit soviel positiver Energie scheint der Wandel tatsächlich möglich. Am letzten Tag des Weltsozialforums kam es zu einem weniger spektakulären, doch nicht weniger bedeutsamen Ereignis. Eine Gruppe Teilnehmer überquerte die große Straße, die den Universitätscampus von Terra Firme trennt, dem größten sozialen Brennpunkt Beléms, in dem die Lebensbedingungen der Peripherie Brasiliens und der Welt sich synthetisiert finden. Die Teilnehmer nahmen den Dialog mit den Bewohnern auf. Der vorliegende Band versteht sich als ein Beitrag zu diesem Dialog.

 

 

 

Inhaltsverzeichnis



Vorwort 7
Willi Bolle, Marcel Vejmelka, Edna Castro


I. Teil: Expeditionen, Reisen, Ethnographien 17

Die erste Durchquerung Amazoniens (Francisco de Orellana, 1541–42) 21
Willi Bolle (São Paulo)

Paul Ehrenreichs Tagebuch Reise auf dem Rio Purús (1889) 63
Joachim Tiemann (Hildesheim)

Die teilnehmende Ethnographie von Constant Tastevin und Curt Nimuendaju 83
Priscila Faulhaber (Rio de Janeiro)


II. Teil: Die wirtschaftliche, politische und soziale Dynamik im heutigen Amazonien 111

Staatliche Politik und soziale Akteure im heutigen Amazonien 115
Edna Castro (Belém)

Ressourcennutzung und Zukunftsperspektiven im Amazonastiefland. Ergebnisse einer Feldforschung 133
Ulrike Tiemann-Arsenic (Tübingen)

Strategien der Landenteignung in Amazonien. Agrobusiness und Bodenkonflikte 151
Alfredo Wagner, Rosa Acevedo (Manaus/Belém)


Öko-Business und internationale Kooperation: Neue Diskurse über Amazonien 171
Neusa Pressler (Belém)

Amazonien – vom Kakao über den Kautschuk zum high tech 195
Eckhard E. Kupfer (São Paulo)


III. Teil: Literatur und Oper 215

Amazonien als globale Bühne in Karen Tei Yamashitas Through the Arc of the Rain Forest 219
Marcel Vejmelka (Germersheim)

Amazoniens größter Romanautor Dalcídio Jurandir und die Welt des Marajó-Archipels 247
Günter Karl Pressler (Belém)

Amazonien im Werk von Robert Musil, oder: Der Wilde im zivilisierten Europäer 275
Stefan Kutzenberger (Wien)

Das Projekt einer Amazonas-Oper. Wo Medienkunst und zeitgenössisches Musiktheater zusammenfließen wie Rio Negro und Rio Solimões 289
Joachim Bernauer (Lissabon)


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