Friedländer, Vera

Ich bin Vergangenheit und Gegenwart

 2009, [= Autobiographien, Bd. 38], 467 S., zahlr. Fotos, ISBN 978-3-89626-930-0, 32,80 EUR

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Klappentext

Es gab viele glückliche Tage in Leben der Vera Friedländer und solche, in denen sie glaubte, der Kummer würde sie um den Verstand bringen. Zwei Zäsuren markieren ihren Weg – die erste 1945, die zweite vier Jahrzehnte später.

Kindheit und Mädchenjahre wurden durch die Shoa geprägt. Die große jüdische Familie, zu der sie gehörte, gab es nicht mehr. Sie selbst überlebte als „Mischling" und Zwangsarbeiterin.

Danach begann ihre zweite, ihre beste Lebenszeit. Sie wurde nach den schwierigen Nachkriegsjahren Germanistin an der Humboldt-Universität Berlin, nach Promotion und Habilitation Professorin für Deutsche Sprache. 1946 begegnete sie dem Mann, mit dem sie vierzig gute Jahre lebte und drei Kinder aufzog.

Mit seinem Tod 1986 und dem Ende der DDR begann die dritte Phase ihres Lebens, Witwendasein und neuer Kapitalismus, den sie sich nicht gewünscht hatte, in dem sie aber einen Platz finden musste. Sie gründete 1990 eine Sprachschule für Migranten.

Es sind Erlebnisse in acht Jahrzehnten, in drei Gesellschaftsformen, Erfahrungen aus Vergangenheit und Gegenwart.

 

Inhalt

1. Mein bittersüßes Leben 7

2. Meine Mutter, mein Vater und ich 9

3. Das brave Mädchen 31

4. Zwei illegale Schuljahre 43

5. Flucht aus der Familie 64

6. Meine erste Arbeitsstelle 69

7. Zwangsarbeit bei Salamander 75

8. Listen im Landeshauptarchiv 91

9. Weitere Kunde von den Deportierten 102

10. Die Generationen vor mir – in Sonderheit Rabbi Nathan 111

11. Das Kriegsende 125

12. Angst 133

13. Meine Zeit in Rüdersdorf 138

14. Die Familie meines Vater 149

15. Das erste Nachkriegsjahr 159

16. Von den Anfängen des Studiums 172

17. Wir beide 184

18. Nahe bei Essbarem und eine Hochzeit 193

19. Im Westen oder im Osten leben? 199

20. Ein Häuschen am Kanal 204

21. Umzug nach Berlin 210

22. Zwischenspiel 214

23. Wieder Studentin 221

24. Fotos der Studentenzeit 234

25. Der Sohn des Botschafters 241

26. Briefe aus Indien 244

27. Bei Dietz 251

28. Die Schatulle 259

29. Universitätsjahre 262

30. Meine Genossen und Kollegen 276

31. Sechs Warschauer Jahre 282

32. Gladiolen mag ich nicht 294

33. Große Gefühle 298

34. Frauensache 301

35. Familiäre Organisation 320

36. Unsere Tochter 328

37. Witwendasein 336

38. Kleine und große Ärgernisse 343

39. Anerkennung als Verfolgte 350

40. Novembertage 354

41. Ich als Unternehmerin 363

42. Die Friedländer-Schule 378

43. Die bei uns lernten 403

44. Etwas über meine Bücher 412

45. Das Eigenleben der Bücher 425

46. Als Jüdin leben 435

47. Neue Kapitalismus-Erfahrung 445

48 Nichtgefragtes, Nichtgesagtes 453

49. Über das Altwerden 460

50. Weint mir nicht nach 465

 

 

Leseprobe

1. Mein bittersüßes Leben

Ich blicke auf ein bittersüßes Leben zurück. Beides habe ich geschmeckt, das Süße und das Bittere. Ich habe das in Honig getauchte Apfelstück am Abend von Rosch Haschana, dem jüdischen Neujahrstag, gegessen, auf dass das neue Jahr süß und angenehm sein möge, und ich nahm von dem Bitterkraut auf dem Sederteller, um nicht zu vergessen, wie hart das Leben war und noch immer sein kann. Ich meine mein eigenes, das bittere und doch so schöne Leben. Viele glückliche Honigtage habe ich erlebt und solche, in denen ich glaubte, der Kummer würde mich um den Verstand bringen. Ich sage nicht, solches sei mir beschieden gewesen. Welches unaussprechbare Wesen sollte mir etwas gegeben oder genommen haben? Das Glück, das mir begegnete, waren Menschen, die ich liebte, waren Freunde und günstige Umstände. Den Kummer musste ich ertragen, weil ich eben diese Menschen verlor.

Eine Biografie folgt dem Ablauf der Zeit. Ich greife etwas wahllos in die Jahre. Einzelne Seiten aus dem Buch meines Lebens greife ich heraus. Mein Lebensweg ist daraus ablesbar, wenn auch nicht als chronologische Folge. Was fehlt, habe ich an anderer Stelle geschrieben, das Wichtigste in meinem autobiografischen Bericht über die Jahre bis 1945. Im Grunde enthält alles, was ich geschrieben habe, etwas von mir. Ich erfand Figuren und Geschichten und stattete sie mit dem aus, was ich gesehen, erlebt, gedacht und gefühlt habe. Und manche authentische Person habe ich abgebildet.

Es gab zwei Zäsuren in meinem Leben, die erste 1945, die zweite 1986. So entstanden drei Lebensphasen. 1945 endeten meine Mädchenjahre, 1986 die beste Zeit meines Lebens, danach gab es noch einen neuen Anfang.

Meine Kindheit und meine Mädchenjahre wurden geprägt durch die Shoa. Die große jüdische Familie, zu der ich gehörte, wurde deportiert, nur drei kamen aus Lagern zurück und Einzelne überlebten durch Emigration oder durch nichtjüdische Ehepartner. Die guten Tage, von denen es auch in jenen Jahren reichlich gab, wurden überschattet von der Sorge um meine von Deportation bedrohte Mutter und um meinen Vater, der ins Lager kam, weil er sich nicht von seiner jüdischen Frau scheiden ließ. Und gegen Ende dieser Zeit musste ich Zwangsarbeit unter SS-Aufsicht im Reparaturbetrieb von Salamander leisten. Diese erste Phase meines Lebens schloss mit dem Ende der Verfolgung und des Krieges.

Die zweite Phase begann nach einem kurzen Übergang mit der Aufnahme in die Vorstudienanstalt und den bald folgenden Studien und Forschungen. Am ersten Tag in der Vorstudienanstalt begegnete ich dem Mann, mit dem ich die zweite, die wichtigste Lebensetappe durchschritt. Es waren gute Jahre mit einem Mann, auf den ich bauen konnte, mit Kindern, die zu tüchtigen Menschen heranwuchsen, und mit Arbeit in einem für mich idealen Beruf.

Mein Mann starb 1986. Damit setzte die letzte Phase ein. Ich musste lernen, allein zu leben und nicht einsam zu werden. In dieser Zeit brach die Gesellschaft zusammen, die ich mitzugestalten versucht hatte, die sich aber weit von meinen Vorstellungen einer gerechten Gesellschaft entfernt hatte. Und so ist die dritte Phase, meine Jetzt-Zeit, vom konkurrenzlosen Kapitalismus bestimmt und ich habe versucht, meinen Platz darin zu finden, ohne meine Ideale zu verleugnen.

Von allen Phasen meines Lebens berichte ich etwas, von der Bitternis mehr als von der Süße, obwohl sie sich im Gleichgewicht hielten. Jedoch das Bitterkraut macht mir mehr zu schaffen als der Honig. Das Glück habe ich angenommen wie ein wunderbares Geschenk, es war kein Problem damit verbunden. Aber mit Leid, Ärgernissen und Missachtung bin ich nie fertig geworden und darum neige ich dazu, vor allem davon zu erzählen.

2. Meine Mutter, mein Vater und ich

Als Kind merkte ich nur, dass ich zu Mutter und Vater gehörte wie sie zu mir. Ich hatte beides, Mutter und Vater, was nicht jedem Kind vergönnt ist. Meine Eltern waren ein verträgliches Paar. Was viel wichtiger war: Sie konnten sich aufeinander verlassen. Meine jüdische Mutter brauchte meinen Vater, der als „arisch" galt, woraus sich nach Nazigesetz eine „Mischehe" ergab, in der die Jüdin einen ungewissen Schutz genoss, so lange es den Nazis gefiel.

Mein Vater hielt zu seiner Frau, er liebte sie sehr, mich auch, ich war seine einzige leibliche Tochter. Damit uns nichts geschieht, ließ er sich in ein Lager bringen. Es war ein Lager der OT, der Organisation mit dem unheimlichen Namen Todt, die dem Hauptkriegsverbrecher Albert Speer unterstand. Man hatte meinen Vater vor die Wahl gestellt: entweder Scheidung oder das Lager. Mein Vater wählte das Lager. Hätte er sich scheiden lassen, wären seine Frau und seine Tochter sofort, noch am gleichen Tag abgeholt und deportiert worden. Auf einer Brücke über den Gleisen am Bahnhofsende stehend, sahen wir, wie die Männer, die ihre Familien schützen wollten, in einen Güterzug einstiegen. Mein Vater unter ihnen, aber in der Menschenmasse fanden wir ihn nicht. Vielleicht hat er uns auf der Brücke gesehen, aber da standen viele, dicht gedrängt. Ich weiß nicht, wer uns gesagt hatte, wo und wann sie abfahren würden. Irgendwie hatte es sich unter den Betroffenen herumgesprochen. Wir sahen den Zug abfahren, mit dem mein Vater sich in die Hände der Nazis begab. In der Tasche hatte er als Ausweis das Dienstbuch der Organisation Todt, auf das ein großes B gestempelt war, wodurch er als staatsfeindliches Element gekennzeichnet war. Er fuhr in ein Lager mit SS-Bewachung. Nichts Gutes stand ihm bevor. Er hätte keinen größeren Beweis seiner Liebe geben können.

Ich bin nicht sicher, dass meine Mutter ihren Mann von Anfang an so liebte wie er sie. Liebe war es schon, was sie an ihn band, eine Liebe, die langsam gewachsen war. Mitte der zwanziger Jahre, als meine Mutter meinen Vater traf, war sie eine geschiedene Frau mit Kind, für die es damals nicht leicht war, noch einmal einen Mann zu finden. Mein Vater war nicht schön, er sah aus wie tausend andere, keine athletische Gestalt, dunkelblondes Haar, eine große Nase. An diesem Mann gefiel meiner Mutter, dass er sich vorbehaltlos für sie entschied und sich darum sogar mit seiner Familie überwarf, der nicht nur die Geschiedene mit Kind, sondern auch, und das vor allem, das Jüdische an ihr missfiel. Die Liebe kam, was meine Mutter betrifft, nach und nach dazu. Ich hörte es aus einer Antwort heraus, die sie mir auf meine Frage gab, was Liebe sei. Sie sagte: „Eine Sache der Gewohnheit." Das fand ich sehr merkwürdig, ich war erst fünfzehn, als sie mir das sagte, und hatte ganz andere Vorstellungen, romantische natürlich.

Später erlebte ich an meinen Eltern, was es bedeutet, sich zu lieben. Von meinem Vater sagte ich bereits, dass er für seine Liebe das Lager auf sich nahm. Das war im letzten Herbst vor der Befreiung. Um diese Zeit wurde es immer gefährlicher, als Jüdin in Berlin zu leben. Die Deportationszüge fuhren unaufhörlich in Vernichtungslager und fast alle unsere jüdischen Verwandten waren schon auf Transport gegangen und ich begab mich jeden Morgen zur Zwangsarbeit ins Salamander-Ghetto, während meine Mutter allein in unserer Wohnung war. Sie dachte nicht daran, sich in Sicherheit zu bringen, unterzutauchen. Die Möglichkeit dazu hätte es gegeben. Um ihres Mannes willen blieb sie in der Wohnung. „Dein Vater muss glauben, dass hier bei uns alles in Ordnung ist, sonst hält er nicht durch. Wir brauchen diese Adresse." Ungeachtet des Risikos. So sehr liebte sie ihn.

Sie hielten sich aneinander fest. Streit gab es kaum und wenn, um nichts Ernstes. Ich erinnere mich nur an eine einzige heftige Auseinandersetzung. Sie erschien mir so unsinnig, dass ich Mutter und Vater nicht begriff. Das geschah kurz nach dem Krieg. Sie waren wieder zusammen, gesund, wie es schien, aber wohl psychisch ziemlich angegriffen. Es war die Zeit des Wartens auf die Rückkehr von Deportierten, die Zeit des hoffnungslosen Wartens. Beide rauchten viel und holten sich teure Zigaretten aus Westberlin. Um das verrauchte Geld ging es. Sie warfen sich gegenseitig vor, mehr zu verbrauchen, als sie bezahlen konnten. Es machte mich traurig und trug wohl dazu bei, dass ich nie eine Zigarette an die Lippen führte.

Meine Mutter hatte das erste Mal sehr jung geheiratet, das war noch im ersten Weltkrieg. Der Mann wurde Soldat, sie bekam ein Kind, er kam zurück und wollte nun endlich „etwas vom Leben haben" und nicht wegen des Babys in einer kleinen Wohnung sitzen oder am Fenster das Treiben auf der Straße beobachten. Er verlangte saubere, gebügelte Hemden, um ausgehen zu können. Es soll ein schöner Mann gewesen sein und gefiel natürlich anderen Frauen auch. Sie ließ sich scheiden, da war sie zwanzig Jahre und wurde mit dem gerade geborenen Kind, meiner Halbschwester, im Hause ihres Großvaters, der in der Familie Vater Jakob hieß, aufgenommen. Er war Kantor, ich weiß aber nicht, in welcher Berliner Gemeinde, er wohnte am Markgrafendamm 34 im Osten Berlins.

Meine Mutter war das älteste Kind meiner Großmutter Tale, ihre Geschwister waren Debora, Martin und Edith. Ihr Vater war um 1900 nach New York ausgewandert und wollte seine Familie nachkommen lassen, sobald er festen Fuß gefasst hätte. Als es soweit war, war seine Frau nicht bereit, mit den Kindern fortzugehen. Sie hatte einen anderen Mann und bekam von ihm die Tochter Edith. Aber der Sohn Martin folgte seinem Vater in den zwanziger Jahren.

Mitte der Zwanziger lernten sich meine Eltern kennen. Mutters Schulfreundin vermittelte es, mein Vater war ihr Kollege. Sie trafen sich in einem Café und mein Vater verliebte sich auf der Stelle in diese schöne, temperamentvolle Frau. Sie hatte welliges schwarzes Haar und große dunkle Augen. Er war 30 Jahre alt, meine Mutter zweieinhalb Jahre jünger. Sie heirateten am 28. Dezember 1927. Mein Vater wurde der Stiefvater ihrer kleinen Tochter und zog sie als seine eigene auf.

Ich wurde bald nach der Trauung geboren. Und nun hatten sie ein Problem: Sie war eine Jüdin, er ein Katholik. Sie waren nur standesamtlich getraut worden, eine Trauung in der Kirche war für meine Mutter nicht annehmbar. Das zu akzeptieren wird meinem Vater nicht leicht gefallen sein. Nach Meinung der Kirche lebten sie in einer „wilden Ehe" mit amtlichem Trauschein. Dafür willigte meine Mutter ein, dass ich katholisch getauft wurde. Die christliche Erziehung wollten sie beide der Kirche überlassen, denn von meiner Mutter, die nach Ansicht meines Vater dafür zuständig war, konnte er es nicht verlangen. Die sonntägliche Messe besuchte mein Vater lange Zeit nicht mehr.

Am 27. Februar 1928 erblickte ich – in der Vogelsdorfer Straße 67 in Woltersdorf bei Erkner, einem Vorort Berlins – das Licht der Welt. Meine Eltern hatten eine kleine Parzelle gekauft, die sich am Ende der Straße befand, wo damals das Ende des Ortes verlief. Auf den trockenen brandenburgischen Sand baute mein Vater ein Holzhaus – mit sechseckigem Erker, wie er stolz zu ergänzen pflegte. Das Holz holte er aus dem Wald, es wurde geschält, im Sägewerk zu Brettern und Bohlen zersägt und im Laufe des Sommers vor meiner Geburt zu einem Haus verbaut.

Auf dem Sand am Rande des Ortes wuchs fast nichts, der Weg zur Arbeitsstelle war weit. Das Haus war auch im bildlichen Sinn auf Sand gebaut, denn es war Betrug im Spiel; alles Mögliche war den Siedlern am Ortsrand versprochen worden, damit sie den Fleck Erde bewohnbar machten. Damals war es nicht anders als heute: Man redete viel, aber vergaß umgehend, was man gesagt und versprochen hatte. Schon 1929 gaben meine Eltern die karge Parzelle und das Holzhaus mit dem sechseckigen Erker auf. Das war in dem sehr strengen Winter 1928/1929, der als extrem kalt notiert wurde. Meine Eltern zogen wohl nicht nur wegen des dürftigen Bodens und des weiten Weges zur Arbeit fort, sondern bestimmt auch, weil das Haus nicht genug Schutz gegen die Kälte bot und sie darin keinen weiteren Winter extremer Art erleben wollten. Ich weiß, dass es Unsinn ist, trotzdem bilde ich mir ein, dass meine tiefe Abneigung gegen Kälte in meinem ersten Lebensjahr erzeugt wurde.

Ihre Nachbarn in Woltersdorf waren der Musikclown Fritz Wester, seine Frau und seine Tochter Ruth. Fritz Wester erlebte ich immer als sehr ernsten Mann, nichts von Clownerie bemerkte ich an ihm. Er hatte ein Heim fürs Alter gebaut. Die Westers harrten dort trotz der Kargheit aus.

Noch viele Jahre blieben die Westers die Freunde meiner Eltern. Als die Bombardements begannen – wir wohnten schon lange in Berlin – suchten meine Eltern bei den Freunden Zuflucht. Mein Vater baute ein großes Zelt an das Haus, legte es mit dicken Bohlen aus, brachte ein paar lebensnotwendige Sachen nach Woltersdorf und schuf für uns einen Schlafplatz. Sie glaubten wohl alle, die Bombardements würden den Krieg schnell beenden. In den Sommertagen und im Herbst hielten wir es in unserem Zeltquartier gut aus, nur der Weg zur Schule nach den großen Ferien und der Weg zur Arbeit war weit, das nahmen wir für die nächtliche Sicherheit in Kauf. Dann kam der Winter mit Frost und Schnee, da gaben meine Eltern es auf, mehr oder weniger im Freien zu kampieren. Wir schliefen wieder in unserer Berliner Wohnung. Vielleicht war auch die Hoffnung auf ein schnelles Kriegsende zerronnen, falls sie tatsächlich damit gerechnet hatten.

Es war Anfang 1929, da zogen meine Eltern von Woltersdorf in den Nachbarort Rüdersdorf. Meine Großmutter Tale, die einen Laden für Schreib- und Papierwaren in Berlin betrieb, sorgte dafür, dass die junge Familie ein kleines, fest gemauertes Haus beziehen und ebenfalls einen Laden für Schreib- und Papierwaren eröffnen konnte. Ein Hof, ein Stall und ein großer Obst- und Gemüsegarten gehörten zum Haus, Lindenstraße 67.

Der heutige Ort Rüdersdorf bestand damals noch aus den drei Orten Tasdorf (an der B 1), Kalkberge (mit Kesselsee, Heinitzsee und Kanälen) und Alt-Rüdersdorf auf einem Hügel hinter dem Kesselsee. Wir wohnten im oberen Ortsteil, in Alt-Rüdersdorf. Es gibt ein sehr schönes Foto von damals: Am Vorgartenzaun stehen meine Eltern, meine Halbschwester und ein sehr kleines Mädchen, das war ich. Als ich nach Jahren das Haus sah, staunte ich, wie klein es ist.

Eine Weile ging es meinen Eltern gut. Den Laden betrieb meine Mutter und mein Vater fuhr mit dem Fahrrad nach Erkner und arbeitete dort in einer Fabrik, die Dosen aus festem Kunststoff herstellte, Bakelit genannt – nach dem belgischen Chemiker Baekeland. Vater arbeitete „in der Bakelite", bis die große Arbeitslosigkeit um sich griff. Da wurde er als „Doppelverdiener" entlassen.

Wir zogen hinunter nach Kalkberge. Am Kesselsee, der kreisrund wie ein Kesselrand war, heute aber am Ufer zugewachsen ist, pachteten meine Eltern ein Gartenlokal, das „Volkshaus". Hier endete eine der zahlreichen Wasserstraßen um Berlin. Ein Kanal fließt vom Kalksee bis zum Kesselsee. Wer heute an der Autobahn-Abfahrt Rüdersdorf vorbeikommt, fährt über eine lange Brücke und unten fließt das Wasser des Kanals. Die lange Brücke überspannt das Tal bis hinüber zum Wald zwischen Alt-Rüdersdorf und Woltersdorf. Die Autobahn gab es damals natürlich noch nicht, sie wurde erst in der Zeit gebaut, als der Krieg vorbereitet und schnelle Nachschubwege geplant wurden.

An unserem Steg am Ufer des Kesselsees machten Ausflugsdampfer aus Berlin fest, an manchen Sommertagen zwei Dampfer gleichzeitig. Das hieß: sehr viel Arbeit, aber gutes Geld. Meine Mutter war Chefin der Küche, mein Vater stand am Ausschank, sie hatten Küchenhilfen und einen Kellner; von einem einzigen war bei meinen Eltern immer nur die Rede, aber aushilfsweise müssen mehrere die Dampfergäste bedient haben. Mit der Gastronomie hatten meine Eltern nie zuvor zu tun, aber sie müssen beide die Sache gemeistert haben, denn das Geschäft lief sehr gut und meine Mutter war eine ausgezeichnete Köchin.

Das Volkshaus war das Vereinslokal der Sozialdemokraten und Kommunisten. Meine Eltern waren weder bei der einen noch bei der anderen Partei Mitglied, sie blieben neutral, wie sie es nannten, sympathisierten aber mit beiden, denn beide bekämpften die wachsende braune Gefahr. Das Volkshaus wurde in den ersten Februartagen des Jahres 1933 geschlossen und nie wieder geöffnet, weil mein Vater seine Konzession, die auf dreißig Jahre ausgestellt war, nicht aus der Hand gab. Er hoffte, später, wenn die Nazis nicht mehr das Land beherrschten, das Volkshaus wieder eröffnen zu können. Dazu kam es nicht. Es stand bis Kriegsende leer. Um es wieder herzurichten, fehlten meinen Eltern die Mittel. Nach dem Krieg wurde es von der Gemeindeverwaltung wieder bewohnbar gemacht und viele Jahre als Altersheim genutzt. Der Ort lebte schon lange vom Bergwerk, wo Kalkstein abgebaut wurde, und von Zementwerken. Mit der Erweiterung des Kalksteinbruches begann der Abriss der Hauptstraße des Ortsteils Kalkberge, denn sie war auf Kalkstein gebaut. Die Hauptstraße endete am Kesselsee. Als sie verschwand, lag das einstige Volkshaus in einem toten Winkel, es verfiel endgültig und wurde abgerissen.

Als die Nazis die Macht bekamen, wollten meine Eltern nicht in Rüdersdorf bleiben. Sie waren als die Wirtsleute des Volkshauses bekannt. Ihre politischen Freunde rieten ihnen, nach Berlin zu ziehen, in die Anonymität der Großstadt. 1934 zogen wir nach Friedrichsfelde, Luisenstraße 7. Meine Eltern eröffneten einen kleinen Lebensmittelladen. Aber schon bald wurden sie durch die Nazis boykottiert. Die Kunden blieben weg. Was sich im Laden befand, wurde von uns aufgebraucht. Und mein Vater suchte eine Arbeit.

1935 nahmen sich meine Eltern eine Wohnung in der Großen Frankfurter Straße 97, unmittelbar am Strausberger Platz. Die Wohnung befand sich im Seitenflügel, erste Etage rechts, mit Blick auf den Seitenflügel des Hauses Nummer 98, der so nahe lag, dass man den Leuten bequem in die Fenster sehen konnte und lauter Streit deutlich zu hören war. Es war eine völlig sonnenlose Unterkunft: ein Berliner Zimmer, in das fast kein Tageslicht fiel und in dem ich auf einer Chaiselongue neben dem Wohnzimmerschrank schlief, ein großes Schlafzimmer für meine Eltern, ein Bad, eine Küche und ein zehn Meter langer, schnurgerader Korridor. Ein Bad im Seitenflügel war eine Seltenheit, wir hatten sogar ein gekacheltes Bad mit einem normalen Stubenfenster. Vor uns hatte ein Arzt die Wand zwischen der Wohnung im Vorderhaus und der anschließenden Seitenflügel-Wohnung durchbrochen und beide Wohnungen als Praxis eingerichtet. Unser Berliner Zimmer gehörte zum Vorderhaus, alles andere war Hinterhaus. Eine verschlossene, mit einem Gobelin zugehängte Tür trennte unsere Wohnung vom Korridor der Vorderhaus-Wohnung. Man konnte durch die Tür alles hören, aber der Junggeselle, der hinter der Tür wohnte, war selten zu Hause, im Krieg wurde er Soldat und seine Wohnung blieb fast immer leer.

In unserer Wohnung war der Korridor wegen seiner Länge und Breite ein bedeutender Raum. Er reichte von der Wohnungstür bis zu dem hinteren Berliner Zimmer, vorbei an Küche, Bad und Schlafzimmer. Fenster hatte er nicht, denn er verlief an der Brandmauer des Seitenflügels. Etwas erhellt wurde er durch die stets offene Küchentür an dem oberen Korridorende.

An diesem Ende, gleich neben der Wohnungstür, stand eine Kommode, von der mir die unterste Schublade für meine Spielsachen gehörte. Alles, was ich besaß, passte hinein. Ich hatte kein Kinderzimmer, in dem sich Puppen und Kuscheltiere tummelten, keine Regalwand, keinen Spieltisch. Mir gehörte die Schublade der Kommode und ich saß auf dem blanken Fußboden davor. Ich besaß kein Kuscheltier und nur eine einzige Puppe. Sie war aus Porzellan und passte in eine Keksschachtel, die ihren Platz in der Schublade hatte, neben einer Schachtel mit Lackbildern, einem Beutel mit Murmeln, einem Triesel und einem Trieselstock, einem Heft mit getrockneten und gepressten Blättern, einer Büchse mit kleinen runden Kieselsteinen und allem, was ich aufheben wollte. Außerdem wurde mir ein Schrank mit zwei verglasten Türen zugestanden, der auch im Korridor stand. Darin befanden sich meine Schulsachen und außerdem bewahrte ich da meine Bücher auf. Ich las gern Geschichten und Verse und bekam manchmal Bücher geschenkt. Ich fand es gut so, mir reichte das, worüber ich verfügen durfte.

Schularbeiten machte ich an einem kleinen runden Tisch unter dem Fenster des Berliner Zimmers. Es fiel so wenig Licht auf den Tisch, dass ich ohne die direkt darüber hängende Lampe keine Zeile hätte schreiben können. An diesem Tisch saß meine Mutter aber auch mit Näharbeiten und manchmal brauchte sie den Platz, um irgendetwas auszubreiten. An dem großen Tisch in der Mitte des Zimmers war es zu dunkel zum Lesen und Schreiben und der Kronleuchter darüber verbrauchte zu viel teuren Strom. Dort saßen wir nur zum Essen und zum Kaffee am Sonntagnachmittag.

Mein liebster Platz war vor der Kommode im Korridor, das war mein Spielplatz, solange ich ein kleines Mädchen war. Als ich das Spielzeit-Alter hinter mich ließ, durfte ich mich an den Schreibtisch setzen, um Schularbeiten zu machen, und das war ein völlig lichtloser Platz im Wohnzimmer.

Der Korridor war der Verbindungsweg zwischen Küche und Wohnzimmer und wurde daher viel benutzt. Er war mit braunem Linoleum ausgelegt, der so gepflegt war, dass man vom Fußboden essen konnte, was ich eines Tages tatsächlich tun wollte. Das Linoleum war gerade frisch gebohnert und spiegelblank und ich trug meinen Teller mit Makkaroni, über die gebräunte Butter gegossen war, den Korridor entlang zum Wohnzimmer, kam aber da nicht an, weil ich mitsamt den Makkaronis auf dem Boden landete. Ich sammelte mein Essen vom Boden auf, legte es auf den Teller und rutschte auf dem nun auch noch mit heißer Butter gefettetem Linoleum ein zweites Mal aus. Als meine Mutter aus der Küche kam, um zu sehen, was geschehen war, saß ich auf dem Fußboden, schaufelte mit den Händen die Makkaroni noch einmal auf meinen Teller, der ganz geblieben war, und lachte. Ich fand es komisch.

„Gib mir den Teller", sagte meine Mutter. Sie wollte ihn abspülen und mir eine neue Portion auftun.

„Warum? Der Fußboden ist so sauber wie der Kochtopf. Ich bleibe sitzen und esse hier, denn ein drittes Mal ... nein, lieber nicht." Ich setzte mich doch noch an den Wohnzimmertisch, aber frisch gebohnerter Fußboden war mir seitdem verdächtig. Ich ging immer vorsichtig darüber weg.

Die Miete für unsere Wohnung betrug 45 Reichsmark. Eine schönere Wohnung im dritten Stock eines sonnigen Vorderhauses in der nahe gelegenen Marsiliusstraße kostete 5 Reichsmark mehr und die konnten sich meine Eltern nicht leisten. Aber es war ein Glück, dass sie die Wohnung in der Großen Frankfurter Straße nahmen, denn unser Haus stand bis zum Kriegsende, während das in der Marsiliusstraße mit den ersten Bomben zerstört wurde.

Wenn man heute auf der Rasenfläche des Strausberger Platzes steht, auf der südlichen Seite, etwa dort, wo man in die lange Allee Richtung Osten einbiegt, dann befindet man sich an der Stelle, wo einst unsere Wohnung war, Seitenflügel, 1. Etage rechts. Ich habe es vom ursprünglichen, jetzt vermauerten U-Bahn-Eingang mit Schritten so ungefähr ausgemessen. Die Männer, die auf einer Bank in der Sonne saßen und mich beobachteten, werden mich für ein bisschen verrückt gehalten haben, weil ich mit großen Schritten von der Stelle des ursprünglichen U-Bahn-Eingangs über die Straße zum Rasen ging, bis kurz vor dem Brunnen in der Mitte des Platzes. Ich bin nicht groß und musste meine Beine sehr strecken, um einen Meter von Fuß zu Fuß zu erreichen. Die Männer störten mich nicht bei meinem Vorhaben, Autos nur wenig, ich hatte einen frühen Sonntagvormittag gewählt, als die meisten Menschen beim Frühstück saßen.

Mitte der dreißiger Jahre gab es Arbeit, es war der Aufschwung der Nazi-Zeit, die Aufrüstung für einen kommenden Krieg, was aber die meisten Leute nicht wahrhaben wollten. Sie vergaßen ganz schnell die Losung der Kommunisten: „Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler. Wer Hitler wählt, wählt den Krieg." Es gab Arbeit, das Geld stimmte und die meisten dachten nur an sich selbst und an den gerade ablaufenden Tag, an die volle Lohntüte und daran, sich wohnlich einzurichten. Dass sie für den Krieg arbeiteten, wollten sie nicht hören. Mein Vater hatte die Losung noch im Kopf, aber er war auch froh, eine Arbeit in seinem Beruf bekommen zu haben. Er war Kaufmann und hatte Speditionserfahrung aus seiner Zeit als lediger junger Mann. Er wurde bei der Firma Jahnel, Spedition und Lagerung, in der Wassertorstraße 22 eingestellt und schon im Jahr darauf Prokurist. Von da an ging es uns gut. Er verdiente 400 Reichsmark. Wir hatten einen kleinen Hanomag und machten von 1936 bis zum Kriegsbeginn jeden Sommer eine Reise mit dem Auto in die Alpen.

Der Hanomag war feuerrot lackiert und Vaters Kollegen riefen „tatü tata", wenn er auf den Speditionshof fuhr. Bei Kriegsbeginn durften wir das Auto nicht mehr benutzen. Für die letzte Fahrt wurde es randvoll beladen mit allem, was man brauchte, falls die Wohnung verloren ging oder verlassen werden musste. Meine Eltern kannten den ersten Krieg und in dem neuen schien ihnen jedes Unheil denkbar. Mein Vater stellte das Auto in der Scheune eines Bauern hinter der Oder unter. Und das war es dann. Nach dem Krieg war das Gebiet polnisch und meine Eltern fragten sich nie, ob es den Bauer dort noch gab. Und das Auto, da waren sie sicher, stand bestimmt nicht mehr in der Scheune.

Ja, in den Jahren vor dem Krieg ging es uns gut. Wer hatte in unserer Gegend schon ein Privatauto, mit dem er im Sommer verreisen und am Wochenende ins Grüne fahren konnte. Aber die Nazis waren an der Macht. 1935 wurden die Gesetze gegen die Juden erlassen, die Nürnberger Gesetze, mit denen die Juden ausgegrenzt und rechtlos gemacht wurden. Ich gehörte zu einer großen Berliner jüdischen Familie. Häufig traf man sich und immer wurde diskutiert, wie es weitergehen werde. Sie stritten sich und hielten doch zusammen. Ich nahm es auf, obwohl ich vieles nicht verstand. Nur den Ernst der Gespräch spürte ich sehr deutlich.

Meine Eltern erkannten den Ernst der Lage und suchten nach Sicherheit. Noch in Friedrichsfelde entschloss sich meine Mutter zu konvertieren. Sie dachte, als katholisch Getaufte würde sie nicht mehr als Jüdin gelten. In der kleinen Kirche in der heutigen Alfred-Kowalke-Straße an der Ecke der Straße Am Tierpark wurde sie getauft. Zum Gottesdienst ging sie nicht, mein frommer Vater aber auch nicht und ich kann mich nicht erinnern, jemals in dieser Kirche gewesen zu sein.

Der Umzug von Rüdersdorf in die anonyme Großstadt war ebenso wenig ein Schutz vor Verfolgung wie das Konvertieren meiner Mutter. 1938 bereiteten wir uns darauf vor, nach Brasilien zu emigrieren. In São Paulo lebte ein Anwalt, der irgendwie zur Familie gehörte, wahrscheinlich sogar ziemlich nah mit meiner Mutter verwandt war. Er wollte uns aufnehmen, bis wir seine Hilfe nicht mehr brauchten. Wir lernten gemeinsam Portugiesisch mit einer Frau aus der Nachbarschaft, die viele Jahre in Brasilien gelebt hatte und sich mehr als Brasilianerin denn als Deutsche fühlte und es bitter bereute, in dieses kalte Land ihrer Geburt zurückgekehrt zu sein. Meine Mutter sorgte für Kleidung, die so nahe am Äquator getragen werden konnte. Sie meinte, in der tropischen Sonne würde die damals übliche Kunstseide zerfallen. Sie stellte ihre und meine Garderobe auf Seide um und kaufte für mich zwei seidene Blusen, cremefarben, ich trug sie bis zum letzten Kriegssommer.

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