Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Fritz Backhaus, Gisela Engel, Gundula Grebner, Robert Liberles 9
Grundsätzliche Fragen 13
On the Diffusion of the Word „Ghetto“ and its Ambiguous Usages, and a
Suggested Definition 15
Benjamin Ravid
Das Ghetto und die Entstehung einer jüdischen Kultur im Europa der
Frühen Neuzeit: Betrachtungen zur Geschichtsschreibung 39
David B. Ruderman
Das Ghetto – eine Begriffs- und Diskursgeschichte 53
Christhard Hoffmann
Vorgeschichte 79
Juden in Deutschland und Italien während des späten Mittelalters.
Bewegungen in kabbalistischen Zusammenhängen 81
Alfred Haverkamp
Die propagandistische Vorbereitung des Ghettos – Diskussionen um
Judenquartiere 149
Johannes Heil
Ghettos in Italien und Deutschland – Einzelstudien 171
Das Florentiner Ghetto. Ein urbanistisches Projekt und seine Ursprünge
zwischen Gegenreformation und absolutistischem Herrschaftsanspruch 173
Silke Kurth
Die Wormser Judengasse in der Frühen Neuzeit 205
Ursula Reuter
Jenseits der Brücke. Die Wiener Judenstadt 1624–1670 und der städtische
Raum 241
Barbara Staudinger
Für »gute ordnung und policey« und »dem gemeinen nutzen zum besten«. Die
Ghettoisierung der Mainzer Juden unter Kurfürst Johann Philipp von
Schönborn (1649–1673) im Rahmen einer frühkameralistischen Landespolitik
269
Ulrich Hausmann und Werner Marzi
Jüdische Perspektiven 301
Die Lebensbedingungen des Ghettos in der jüdischen Brauchtumsliteratur
der Frühen Neuzeit 303
Lucia Raspe
Im Zentrum der Selbstverortung? Das Ghetto als jüdischer Raum 333
Andreas Gotzmann
Außerhalb des Ghettos 369
The Jewish Presence in Early Modern Amsterdam 371
Yosef Kaplan
»I was told there were all Iewes«. Mentalities and Realities of
Segregation: Sephardi and Ashkenazi Jews in Early Modern Hamburg and
Altona 399
Felix Sprang
Topographie und Kommunikation. Zur Entwicklung der jüdischen Viertel im
spätmittelalterlichen Polen 417
Jürgen Heyde
Das Ende des Ghettos 443
»If only they had worn their cocarde«: The End of the Frankfurt Ghetto,
a Process, and not an Event 445
Robert Liberles
Kurze Angaben zu den Autorinnen und Autoren 461
* * *
Klappentext
Die Topographie jüdischer Siedlungen hat schon früh
das Interesse der Forschung auf sich gezogen. Die Form und die Lage der
jüdischen Wohnbezirke, die Abgrenzung zur christlichen Nachbarschaft,
die Gestalt und die Entwicklung kommunikativer Räume eröffnen Zugänge zu
grundlegenden Fragen jüdischer Existenz in Europa.
Als charakteristischste jüdische Siedlungsform gilt dabei bis heute das
Ghetto.
Seit der Aufklärung war es die negative Verkörperung der Ausgrenzung, im
19. Jahrhundert wurde es im nostalgischen Rückblick für jüdische
Künstler und Literaten auch der Ort eines unverfälschten jüdischen
Lebens.
Die Beiträge dieses Bandes analysieren die Entstehung und Entwicklung
der Ghettos in Deutschland und Italien seit dem späten Mittelalter,
untersuchen die Reaktion zeitgenössischer jüdischer Autoren, geben einen
Überblick zur Forschungsgeschichte und fragen danach, warum die
sephardischen Siedlungen in den Niederlanden und Norddeutschland in der
Frühen Neuzeit nicht als abgegrenzte Zwangssiedlungen entstanden.
* * *
Einleitung
Fritz Backhaus, Gisela Engel, Gundula Grebner, Robert Liberles (s.A.)
Die Topographie jüdischer Siedlungen hat schon früh das Interesse der
Forschung auf sich gezogen. Die Form und die Lage der jüdischen
Wohnbezirke, die Abgrenzung zur christlichen Nachbarschaft, die Gestalt
und die Entwicklung kommunikativer Räume eröffnen Zugänge zu
grundlegenden Fragen jüdischer Existenz in Europa. Die Untersuchung
eines »jüdischen Raumes« erfordert aber die Überwindung von in der Regel
getrennt untersuchten Bereichen in den jüdischen Studien.
»Siedlungsformen reflektieren sowohl den inneren Diskurs über Fragen der
Spiritualität, des Denkens und Glaubens wie Themen der äußeren
Narrative, also der Beziehungen von Juden und jüdischen Gemeinden zur
nicht-jüdischen Welt.« Eine Vertiefung und Erweiterung der Frage nach
den »Räumen« jüdischen Lebens in der Frühen Neuzeit ist wünschenswert,
sie wird durch den »spatial turn« in den Kulturwissenschaften methodisch
erleichtert.
Als charakteristischste jüdische Siedlungsform gilt bis heute das Ghetto.
Von Benjamin Ravid klar definiert als abgeschlossene Zwangssiedlung
ausschließlich für Juden, ist es eindeutig ein Phänomen des
Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Die Ghettos entstanden, als
insbesondere im Reich und in Italien in Städten wie Frankfurt, Venedig
oder Rom die Juden in eigens angelegten, vom Rest der Stadt abgeteilten
Vierteln angesiedelt wurden (vgl. die Beiträge von Ravid und Ruderman).
Im europäischen Vergleich ist jedoch schnell festzustellen, dass das
Ghetto selbst in der Frühen Neuzeit eher die Ausnahme als die Regel war.
Dennoch lässt sich seit dem 19. Jahrhundert eine erstaunliche Karriere
dieses Begriffes feststellen. Wie Christhard Hoffmann zeigt, wurde er in
der Literatur und in der wissenschaftlichen Forschung zum Inbegriff der
jüdischen Existenz im Ancien Régime. In der Kritik der Aufklärung wurde
das Ghetto als negatives Symbol der Ausgrenzung und Unterdrückung, nach
der Emanzipation aber auch als nostalgisch verklärter Ort eines
verlorenen »altjüdischen Familienlebens« in den Bildern von Moritz
Oppenheim oder den populären »Ghettogeschichten« beschworen.
Bemerkenswert ist die Studie The Ghetto, die 1922 von Louis Wirth als
Dissertation vorgelegt wurde. Sie ist eine der Pionierarbeiten der
modernen amerikanischen Soziologie und erweitert ausgehend von einer
Analyse des historischen Frankfurter Ghettos den Begriff auf die
ethnisch definierten Einwandererghettos in den amerikanischen
Großstädten. Wirth zeigt am Beispiel der Ghettos jüdischer Einwanderer
aus Osteuropa deren gesetzmäßiges Verschwinden durch sozialen Aufstieg
und Integration. Die in Deutschland wenig beachtete Pionierstudie –
selbst von einem aus Deutschland stammenden Migranten erstellt – zeigt
deutlich die Erweiterung des Begriffs im 20. Jahrhundert auf alle
ethnisch und sozial einheitlich geprägten Viertel in den modernen
Großstädten. Die jüdische Zwangssiedlung erlebte jedoch eine
erschütternde Rückkehr unter nationalsozialistischer Herrschaft, als
nach der Besetzung Polens und von Teilen der Sowjetunion Ghettos
errichtet wurden, die eine Vorstufe der Vernichtung bildeten und in die
auch die deutschen Juden ab 1941 deportiert wurden.
Diese Ausweitung des Ghettobegriffs seit dem 19. Jahrhundert hat jedoch
die Analyse der spezifischen frühneuzeitlichen Siedlungsform eher
verdunkelt. So zeigt ein Blick in deutsche Schulbücher, dass der Begriff
des Ghettos unterschiedslos für jüdische Siedlungen vom Mittelalter bis
ins 20. Jahrhundert gebraucht wird. Auch bei der 2004 durchgeführten
Tagung über die Frankfurter Judengasse – dem prototypischen deutschen
Ghetto – ergaben die Diskussionen überraschenderweise, dass zum Ghetto
als einer spezifisch jüdischen Siedlungsform der Frühen Neuzeit viel
Unklarheit herrschte und viele Fragen noch nicht untersucht waren. Es
schien uns daher geboten, ein weiteres Symposium zu konzipieren, das
sich nach der intensiven Untersuchung der Frankfurter Judengasse dem
Ghetto im europäischen Vergleich widmen sollte.
Es sollten dabei nicht nur die Entstehung und Entwicklung der Ghettos in
Italien und Deutschland untersucht, sondern zum Vergleich auch Regionen
wie die Niederlande und Polen herangezogen werden, in denen keine
abgeschlossenen Zwangssiedlungen entstanden sind. Insbesondere die
holländischen Städte erschienen dabei von besonderer Bedeutung, da die
Niederlassung der Juden hier zu einem Zeitpunkt ermöglicht wurde, als in
Italien und Deutschland durch die Obrigkeiten Ghettos installiert wurden
(vgl. die Beiträge von Kaplan, Heyde und Sprang). Ohne in der
Perspektive des ‚spatial turn’ geplant worden zu sein, zieht die
Thematik der Tagung, zieht die Raumgestalt des Ghettos Analysekategorien
desselben wie »Grenze«, »Innen« und »Außen« oder »Zentrum« und
»Peripherie« auf sich. Das Ghetto ist in paradigmatisch zu nennender
Weise Projektion von Machtstrukturen in den Raum, ist konstruiert im
doppelten Sinne, in den Steinen und in der Umsetzung von
Separierungsvorstellungen. Und es konstruiert seinerseits soziale Räume,
die von Minderheit und Mehrheit unterschiedlich, machtausübend, sich
selbst ermächtigend, besetzt und genutzt werden.
Eine Gruppe von Beiträgen bezieht sich auf die jüdischen Siedlungen in
einzelnen Städten wie Venedig, Florenz, Worms, Mainz, Frankfurt und Wien
(vgl. die Beiträge von Kurth, Reuter, Staudinger, Liberles, Hausmann/Marzi,
Haverkamp). Sie werden ergänzt durch Untersuchungen der seit dem
Hochmittelalter entwickelten kirchlichen Diskussionen und
Rechtsvorschriften, die dem Konzept und der Praxis des Ghettos zugrunde
lagen (vgl. den Beitrag von Heil). Ein anderer Block von Beiträgen
widmet sich dem bisher wenig analysierten innerjüdischen Umgang mit dem
Lebensraum Ghetto (vgl. die Beiträge von Gotzmann und Raspe). Dieser
Aspekt, nämlich die Praxis von Juden und Jüdinnen in allen
Lebenszusammenhängen im frühneuzeitlichen Ghetto aus ihrer Sicht zu
analysieren und zu rekonstruieren, ihre Gestaltungsmöglichkeiten und ihr
eigenständiges Handeln und Denken näher zu verstehen, scheint uns eine
wesentliche Aufgabe für weitere Forschungen zu frühneuzeitlichen Ghettos
zu sein.
Die Tagung über die frühneuzeitlichen Ghettos in Europa wurde gemeinsam
vom Jüdischen Museum Frankfurt, dem Historischen Seminar, dem Institut
für Judaistik und dem Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit der
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt in Kooperation mit dem Leo
Baeck Institute Jerusalem durchgeführt.
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