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Backhaus, Fritz / Engel, Gisela / Grebner, Gundula / Liberles, Robert (s.A.) (Hg.)

 

Frühneuzeitliche Ghettos in Europa im Vergleich


 

 

 

2012, [= Frankfurter Kulturwissenschaftliche Beiträge, Bd. 15], 470 S., ISBN 978-3-89626-929-4, 49,80 EUR, lieferbar

 

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Inhaltsverzeichnis



Einleitung
Fritz Backhaus, Gisela Engel, Gundula Grebner, Robert Liberles 9


Grundsätzliche Fragen 13

On the Diffusion of the Word „Ghetto“ and its Ambiguous Usages, and a Suggested Definition 15
Benjamin Ravid

Das Ghetto und die Entstehung einer jüdischen Kultur im Europa der Frühen Neuzeit: Betrachtungen zur Geschichtsschreibung 39
David B. Ruderman

Das Ghetto – eine Begriffs- und Diskursgeschichte 53
Christhard Hoffmann


Vorgeschichte 79

Juden in Deutschland und Italien während des späten Mittelalters. Bewegungen in kabbalistischen Zusammenhängen 81
Alfred Haverkamp

Die propagandistische Vorbereitung des Ghettos – Diskussionen um Judenquartiere 149
Johannes Heil


Ghettos in Italien und Deutschland – Einzelstudien 171

Das Florentiner Ghetto. Ein urbanistisches Projekt und seine Ursprünge zwischen Gegenreformation und absolutistischem Herrschaftsanspruch 173
Silke Kurth

Die Wormser Judengasse in der Frühen Neuzeit 205
Ursula Reuter

Jenseits der Brücke. Die Wiener Judenstadt 1624–1670 und der städtische Raum 241
Barbara Staudinger

Für »gute ordnung und policey« und »dem gemeinen nutzen zum besten«. Die Ghettoisierung der Mainzer Juden unter Kurfürst Johann Philipp von Schönborn (1649–1673) im Rahmen einer frühkameralistischen Landespolitik 269
Ulrich Hausmann und Werner Marzi


Jüdische Perspektiven 301

Die Lebensbedingungen des Ghettos in der jüdischen Brauchtumsliteratur der Frühen Neuzeit 303
Lucia Raspe

Im Zentrum der Selbstverortung? Das Ghetto als jüdischer Raum 333
Andreas Gotzmann


Außerhalb des Ghettos 369

The Jewish Presence in Early Modern Amsterdam 371
Yosef Kaplan

»I was told there were all Iewes«. Mentalities and Realities of Segregation: Sephardi and Ashkenazi Jews in Early Modern Hamburg and Altona 399
Felix Sprang

Topographie und Kommunikation. Zur Entwicklung der jüdischen Viertel im spätmittelalterlichen Polen 417
Jürgen Heyde


Das Ende des Ghettos 443

»If only they had worn their cocarde«: The End of the Frankfurt Ghetto, a Process, and not an Event 445
Robert Liberles


Kurze Angaben zu den Autorinnen und Autoren 461


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Klappentext
 

Die Topographie jüdischer Siedlungen hat schon früh das Interesse der Forschung auf sich gezogen. Die Form und die Lage der jüdischen Wohnbezirke, die Abgrenzung zur christlichen Nachbarschaft, die Gestalt und die Entwicklung kommunikativer Räume eröffnen Zugänge zu grundlegenden Fragen jüdischer Existenz in Europa.
Als charakteristischste jüdische Siedlungsform gilt dabei bis heute das Ghetto.
Seit der Aufklärung war es die negative Verkörperung der Ausgrenzung, im 19. Jahrhundert wurde es im nostalgischen Rückblick für jüdische Künstler und Literaten auch der Ort eines unverfälschten jüdischen Lebens.
Die Beiträge dieses Bandes analysieren die Entstehung und Entwicklung der Ghettos in Deutschland und Italien seit dem späten Mittelalter, untersuchen die Reaktion zeitgenössischer jüdischer Autoren, geben einen Überblick zur Forschungsgeschichte und fragen danach, warum die sephardischen Siedlungen in den Niederlanden und Norddeutschland in der Frühen Neuzeit nicht als abgegrenzte Zwangssiedlungen entstanden.

 

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Einleitung


Fritz Backhaus, Gisela Engel, Gundula Grebner, Robert Liberles (s.A.)

Die Topographie jüdischer Siedlungen hat schon früh das Interesse der Forschung auf sich gezogen. Die Form und die Lage der jüdischen Wohnbezirke, die Abgrenzung zur christlichen Nachbarschaft, die Gestalt und die Entwicklung kommunikativer Räume eröffnen Zugänge zu grundlegenden Fragen jüdischer Existenz in Europa. Die Untersuchung eines »jüdischen Raumes« erfordert aber die Überwindung von in der Regel getrennt untersuchten Bereichen in den jüdischen Studien. »Siedlungsformen reflektieren sowohl den inneren Diskurs über Fragen der Spiritualität, des Denkens und Glaubens wie Themen der äußeren Narrative, also der Beziehungen von Juden und jüdischen Gemeinden zur nicht-jüdischen Welt.« Eine Vertiefung und Erweiterung der Frage nach den »Räumen« jüdischen Lebens in der Frühen Neuzeit ist wünschenswert, sie wird durch den »spatial turn« in den Kulturwissenschaften methodisch erleichtert.
Als charakteristischste jüdische Siedlungsform gilt bis heute das Ghetto. Von Benjamin Ravid klar definiert als abgeschlossene Zwangssiedlung ausschließlich für Juden, ist es eindeutig ein Phänomen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Die Ghettos entstanden, als insbesondere im Reich und in Italien in Städten wie Frankfurt, Venedig oder Rom die Juden in eigens angelegten, vom Rest der Stadt abgeteilten Vierteln angesiedelt wurden (vgl. die Beiträge von Ravid und Ruderman).
Im europäischen Vergleich ist jedoch schnell festzustellen, dass das Ghetto selbst in der Frühen Neuzeit eher die Ausnahme als die Regel war. Dennoch lässt sich seit dem 19. Jahrhundert eine erstaunliche Karriere dieses Begriffes feststellen. Wie Christhard Hoffmann zeigt, wurde er in der Literatur und in der wissenschaftlichen Forschung zum Inbegriff der jüdischen Existenz im Ancien Régime. In der Kritik der Aufklärung wurde das Ghetto als negatives Symbol der Ausgrenzung und Unterdrückung, nach der Emanzipation aber auch als nostalgisch verklärter Ort eines verlorenen »altjüdischen Familienlebens« in den Bildern von Moritz Oppenheim oder den populären »Ghettogeschichten« beschworen. Bemerkenswert ist die Studie The Ghetto, die 1922 von Louis Wirth als Dissertation vorgelegt wurde. Sie ist eine der Pionierarbeiten der modernen amerikanischen Soziologie und erweitert ausgehend von einer Analyse des historischen Frankfurter Ghettos den Begriff auf die ethnisch definierten Einwandererghettos in den amerikanischen Großstädten. Wirth zeigt am Beispiel der Ghettos jüdischer Einwanderer aus Osteuropa deren gesetzmäßiges Verschwinden durch sozialen Aufstieg und Integration. Die in Deutschland wenig beachtete Pionierstudie – selbst von einem aus Deutschland stammenden Migranten erstellt – zeigt deutlich die Erweiterung des Begriffs im 20. Jahrhundert auf alle ethnisch und sozial einheitlich geprägten Viertel in den modernen Großstädten. Die jüdische Zwangssiedlung erlebte jedoch eine erschütternde Rückkehr unter nationalsozialistischer Herrschaft, als nach der Besetzung Polens und von Teilen der Sowjetunion Ghettos errichtet wurden, die eine Vorstufe der Vernichtung bildeten und in die auch die deutschen Juden ab 1941 deportiert wurden.
Diese Ausweitung des Ghettobegriffs seit dem 19. Jahrhundert hat jedoch die Analyse der spezifischen frühneuzeitlichen Siedlungsform eher verdunkelt. So zeigt ein Blick in deutsche Schulbücher, dass der Begriff des Ghettos unterschiedslos für jüdische Siedlungen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert gebraucht wird. Auch bei der 2004 durchgeführten Tagung über die Frankfurter Judengasse – dem prototypischen deutschen Ghetto – ergaben die Diskussionen überraschenderweise, dass zum Ghetto als einer spezifisch jüdischen Siedlungsform der Frühen Neuzeit viel Unklarheit herrschte und viele Fragen noch nicht untersucht waren. Es schien uns daher geboten, ein weiteres Symposium zu konzipieren, das sich nach der intensiven Untersuchung der Frankfurter Judengasse dem Ghetto im europäischen Vergleich widmen sollte.
Es sollten dabei nicht nur die Entstehung und Entwicklung der Ghettos in Italien und Deutschland untersucht, sondern zum Vergleich auch Regionen wie die Niederlande und Polen herangezogen werden, in denen keine abgeschlossenen Zwangssiedlungen entstanden sind. Insbesondere die holländischen Städte erschienen dabei von besonderer Bedeutung, da die Niederlassung der Juden hier zu einem Zeitpunkt ermöglicht wurde, als in Italien und Deutschland durch die Obrigkeiten Ghettos installiert wurden (vgl. die Beiträge von Kaplan, Heyde und Sprang). Ohne in der Perspektive des ‚spatial turn’ geplant worden zu sein, zieht die Thematik der Tagung, zieht die Raumgestalt des Ghettos Analysekategorien desselben wie »Grenze«, »Innen« und »Außen« oder »Zentrum« und »Peripherie« auf sich. Das Ghetto ist in paradigmatisch zu nennender Weise Projektion von Machtstrukturen in den Raum, ist konstruiert im doppelten Sinne, in den Steinen und in der Umsetzung von Separierungsvorstellungen. Und es konstruiert seinerseits soziale Räume, die von Minderheit und Mehrheit unterschiedlich, machtausübend, sich selbst ermächtigend, besetzt und genutzt werden.
Eine Gruppe von Beiträgen bezieht sich auf die jüdischen Siedlungen in einzelnen Städten wie Venedig, Florenz, Worms, Mainz, Frankfurt und Wien (vgl. die Beiträge von Kurth, Reuter, Staudinger, Liberles, Hausmann/Marzi, Haverkamp). Sie werden ergänzt durch Untersuchungen der seit dem Hochmittelalter entwickelten kirchlichen Diskussionen und Rechtsvorschriften, die dem Konzept und der Praxis des Ghettos zugrunde lagen (vgl. den Beitrag von Heil). Ein anderer Block von Beiträgen widmet sich dem bisher wenig analysierten innerjüdischen Umgang mit dem Lebensraum Ghetto (vgl. die Beiträge von Gotzmann und Raspe). Dieser Aspekt, nämlich die Praxis von Juden und Jüdinnen in allen Lebenszusammenhängen im frühneuzeitlichen Ghetto aus ihrer Sicht zu analysieren und zu rekonstruieren, ihre Gestaltungsmöglichkeiten und ihr eigenständiges Handeln und Denken näher zu verstehen, scheint uns eine wesentliche Aufgabe für weitere Forschungen zu frühneuzeitlichen Ghettos zu sein.

Die Tagung über die frühneuzeitlichen Ghettos in Europa wurde gemeinsam vom Jüdischen Museum Frankfurt, dem Historischen Seminar, dem Institut für Judaistik und dem Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt in Kooperation mit dem Leo Baeck Institute Jerusalem durchgeführt.