Dobenecker, Christel

 

Und knüpft hinein alles Licht der Welt.

Behindert und ganz und gar Mensch

 

Erzählung, 2010, 60 S., ISBN 978-3-89626-914-0, 9,80 EUR

 

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Klappentext

 

Ein Blick genügt, und wir wissen, der Mensch, der vor uns steht, ist geistig behindert.
Wir zucken zurück, warum? Berührungsangst?
Fürchten wir das Andere, Unvollkommene?
Und schon sind wir bereit, die Tür zuzuschlagen, nichts an uns heranzulassen.

Doch den wir ausschließen wollen, ist ein Mensch, einzigartig und wertvoll, trotz alledem,

ein Mensch mit einer ganz eigenen Persönlichkeit, die dem zum Geschenk wird, der sich ihr öffnet.

 

 

Leseprobe

 

Orange, Gelb, Weiß, Braun, Schwarz, Grün – die einzelnen Farben mit ihren jeweiligen Schattierungen liegen in kurzen Wollfäden gebündelt vor ihr und wollen zu einem Teppich geknüpft werden. Mit dem Knüpfhaken zieht sie sorgsam Schlinge um Schlinge in den hellen Stramin, sodass sich Knoten um Knoten aneinanderreihen, während sich eine flauschige Fläche bildet. Es ist still um sie, nur im Hintergrund, gedämpft, aber klar, die Klänge des Doppelkonzerts von Johannes Brahms, das sie so liebt, die tragische Stimme des Cellos, das aufzubegehren scheint und wieder zur Ruhe kommt. Sie lauscht, lässt sich gefangen nehmen, und ihre Finger knüpfen die Knoten und in sie hinein eine Fülle von Emotionen, Liebe, Sehnsucht, Wünsche auch. Versonnen schaut sie einen Moment von der Arbeit auf und sieht auf das Foto vor ihr. Vertrauensvoll strahlen ihr zwei große, helle Augen entgegen, halb fragend, halb verschmitzt, als wollten sie sagen: ‚Caro, was ist denn das, was machst du?‘ Carolin hat sich tatsächlich verknüpft: die falsche Farbe. Ertappt. Mit warmem Blick umfängt sie die kleine Gestalt auf dem Bild, die so fern und doch so nah ist, mit ihrem dichten braunen Haar, das ein rundes Gesichtchen umrahmt, dem immer leicht geöffneten Mund und der spitzen Nase. ‚Lorchen‘, denkt sie liebevoll.
Die dunklen, weichen Töne des Cellos dringen zu ihr, ehe die Violine das Thema aufgreift, fast klagend. Während Carolin emsig einen Knoten neben den anderen setzt und sich an dem harmonischen Zusammenspiel der Farben erfreut, die ganz allmählich ein Muster andeuten, schweifen ihre Gedanken zu Katia. Ihr war sie zu einer Zeit begegnet, als Lorchen noch zu Hause lebte, der baldige Abschied aber bevorstand und niemand einzuschätzen vermochte, welch möglicherweise unabsehbare Folgen er nach sich ziehen könnte, für Lorchen in erster Linie, aber auch für die Familie.
In dieser angstbesetzten Situation war Carolin dankbar gewesen, sich jemandem mitteilen zu können, der nicht nur ein offenes Ohr hatte, sondern auch genügend Empathie besaß, um Vertrauen mit Vertrauen zu würdigen. Ganz deutlich sieht sie den Abend wieder vor sich, als sei es gestern gewesen.


Nachdem es am Vortag gegossen und gestürmt hatte, was ihre Freude, wieder am winterlichen Meer zu sein, erheblich dämpfte, schneite es plötzlich ganz leicht, während riesige dunkle, von leuch-tenden Streifen gesäumte Wolkengebirge über den Himmel zogen. Die Lücken zwischen ihnen waren von einem so intensiven Blau, dass sie unwillkürlich an Emil Nolde denken musste. Ihr Herz schlug höher. Von Osten her näherte sich eine düstere Wand, aber Schnee konnte ihr nichts anhaben. Weil sie unbedingt den Leuchtturm erreichen wollte, über dem sich im Moment noch tiefblauer Himmel wölbte, beschleunigte sie ihren Schritt. Das Wasser, das gegen den Kai schäumte, war bei dem scharfen Wind seltsam bewegt: zig kleine dunkelgraue Wellen hüpften auf und ab, sodass es aussah, als platschten große Regentropfen in eine aufgewühlte Pfütze und jeder Tropfen zöge das Wasser nach oben wie einen flüchtigen Schopf.
Überraschend schnell kam die Schauerwand heran und hüllte alles ein wie in einen dichten weißgrauen Schleier. Der Leuchtturm verschwand abrupt, gleichsam von Geisterhand hinweggezaubert. Die Stufen, die zu ihm hinaufführten, waren kaum zu erahnen, und das Meer rings um ihn war nur zu hören mit seinem unentwegten rhythmischen Branden. Die großen Mauersteine unmittelbar neben ihr waren schemenhaft angedeutet und markierten den Weg. Sie war ganz allein auf der gespenstischen Mole. Nichts von Verlassenheit. Der Schnee schauerte auf sie herab, und rechts und links toste das Meer. Die entfesselte Natur war so beredt und teilte sich ihr so bereitwillig mit, dass sie einfach nur glücklich lauschte.
Das Schneetreiben ließ nach. Sie trat den Rückweg an. Zögerlich öffneten sich hier und da die Wolken einen Spalt. Pastellfarbenes Blau schimmerte für Augenblicke hervor, sogar die schmale Sichel des zunehmenden Mondes. Carolin verhielt den Schritt, nur um zu schauen. ‚Trinkt, o Augen‘, dachte sie, um sogleich, wie so oft melancholisch, in Gedanken – Schiller abwandelnd – hinzuzufügen: ‚Bewahret sie, sie sinkt mit euch, mit euch wird sie sich heben.‘ Sie hatte nie begreifen können, warum man beim Anblick solcher Schönheit nicht zwingend den Wunsch hatte, alles, aber auch alles daranzusetzen, um die Natur, die uns nicht braucht, zu erhalten, dass sie, im Gegenteil, mutwillig zerstört wird, unter dem mehr als fadenscheinigen Vorwand, sie untertan zu machen, sich über sie zu erheben. Man benutzte sie und missbrauchte sie recht eigentlich. Der vermessene Mensch, die vorgebliche Krone der Schöpfung, in seiner Hybris.
Sie wandte wieder den Kopf, suchte nach dem Mond und ertappte sich dabei, wie sie flüsterte: „Lorchen, sieh mal, der Mond“, als wollte sie ihn ihr zeigen, ehe er neuerlich verschwand, ihr, die so oft abends nach ihm verlangte: „Wann kommt der Mond? Mond sehen.“ Sie lächelte leise. Die Faszination des Kindes für den hellen, bleichen Gesellen da oben bewegte sie seltsam. So manches Mal hatten sie zusammen den Liedanfang gesungen: ‚Guter Mond, du gehst so stille durch die Abendwolken hin‘ – mehr ließ Lorchens Konzentration nicht zu, sie wehrte entschieden ab: „Lass mal sein“ oder „Hör auf“ – oder heiter: ‚Guter Mond, du gehst in Strümpfen …‘, wie sie es aus ihrer eigenen Kindheit kannte.
Der wattierte Mantel umhüllte sie warm, der eisige Wind drang nicht hindurch. Dennoch freute sie sich im Voraus auf wohlige Behaglichkeit und ein heißes Getränk. Direkt am Ufer, diesseits der gewaltigen Quader am Ende der Mole, lag, wie hingeduckt zwischen Steinen und Sand, ein kleines Café, das sein anheimelnd rötlich-gelbes Licht einladend hinaus in die klirrende Kälte schickte. Als sie es erreicht hatte und die Tür aufstieß, wurde sie von dem eisigen Windhauch förmlich hineingeweht. Drinnen schlug ihr die Wärme entgegen. Sie ging zu einem Tisch am Fenster mit Blick auf die dunklen, aufgewühlten Wogen, schälte sich aus ihrem Mantel und setzte sich. Still schaute sie zum Himmel empor und entdeckte den Mond und musste wieder lächeln.
Schritte näherten sich. In dem Glauben, es sei die Kellnerin, drehte sie sich halb um und bemerkte stattdessen eine stattliche Frau mittleren Alters, deren helle, ruhige Augen sofort für sie einnahmen.
„Guten Abend. Ist hier wohl noch ein Platz frei?“, fragte sie und fügte entschuldigend hinzu: „Die Fensterplätze sind alle besetzt, und ich wollte so gern von der Wärme aus in die Kälte hinausschauen … Wenn es Ihnen nicht unangenehm ist?“
Carolin zögerte einen Moment, ehe sie schlicht sagte: „Nein, nein, bitte.“ Das Lächeln strahlte noch immer aus ihren Augen.
Nachdem die Frau ihren Mantel über die Stuhllehne gehängt hatte, fühlte sie sich bemüßigt, erklärend hinzuzusetzen: „Sie haben so freundlich gelächelt, und ich dachte mir, da kann ich mir die Frage erlauben …“ Dabei nahm sie heiter Platz.
Carolin schaute sie nachdenklich und erfreut zugleich an. Abwägend musterte sie ihr Gegen-über, das, frei von Neugier, einfach nur voller Wohlwollen, ihrem Blick standhielt. Musste sie darauf antworten? Sollte sie es, konnte sie es tun?
Die Kellnerin trat zu ihnen und fragte nach ihren Wünschen. Beide entschlossen sich zu einem Kännchen Tee mit dem romantischen Namen „Winterzauber“, der, sobald er vor ihnen stand, seinen würzigen Duft nach Kräutern, Zimt und Ingwer verbreitete.
„Machen Sie Urlaub oder sind Sie nur übers Wochenende hier?“, erkundigte sich die Frau.
„Ich bin jeden Winter für eine Woche hier. Es ist so überaus reizvoll gerade um diese Jahreszeit an diesem Fleckchen. Die herrliche Luft, die wenigen Touristen, fast nur Einheimische … Der anhaltend starke Regen gestern hat mich zwar etwas deprimiert, umso willkommener ist mir nun der Schnee. Ich bin eben bei dem Schneesturm am Leuchtturm draußen gewesen. Nichts war zu sehen außer den riesigen Steinen der Mole, einem sicheren Geländer gleich. Als der Schnee langsam nachließ, war es, als würde ein schwerer weißer Vorhang aufgezogen, blassblauer Himmel leuchtete hier und da hervor, selbst der Mond.“ Carolin lächelte wieder. „Ich habe eine geistig behinderte Nichte, die bei Einbruch der Dunkelheit oft nach dem Mond fragt. Auf der Mole habe ich mich dabei überrascht, dass ich ihn ihr gezeigt habe: ‚Lorchen, der Mond.‘“ Mit einer Mischung aus Verlegenheit und Zärtlichkeit blickte sie auf ihre Hände.
„Wie alt ist Ihre Nichte?“
„Sie ist viel älter, als sie aussieht und vor allem durch ihr kindliches Verhalten wirkt – 29: Klein und pummelig, ein Kind eben.“
Es drängte sie, von ihr, an der sie mit aller Liebe hängt, zu sprechen; aber sie fürchtete, die Frau zu langweilen. Für sie, Carolin, war Lorchen so wichtig, doch konnte das ein Fremder nachvollziehen? Etwas, das einem die Seele aufwühlt, kann für den anderen eine Zumutung sein. Man möchte gern anvertrauen, indes – darf man Bereitschaft zum Zuhören und vielleicht Anteilnehmen, gar Mitfühlen voraussetzen? ‚Wes das Herz voll ist, des fließt der Mund über.‘ Sobald man freilich merkt, dass der andere nur höflich Interesse vortäuscht, ohne berührt zu sein, verschließen sich Herz und Mund von selbst.
Als habe die Frau Carolins Gedanken gelesen, wandte sie sich ihr herzlich zu und bat: „Wollen Sie mir von Ihrer Nichte erzählen? Ich habe nie direkt mit solchen Kindern zu tun gehabt, nur aus der Ferne, aus der sicheren Distanz, habe sie manchmal beobachtet, wenn ich Gelegenheit hatte. Ehrlich gesagt, bedaure ich das ein bisschen, weil bei ihnen vermutlich etwas ganz Besonderes zu finden ist. Und Ihre wenigen Worte und Gesten scheinen mir das zu bestätigen. Wie kam es dazu, dass Sie eine anscheinend so enge Beziehung zu dem Kind aufbauen konnten?“

 

...
 

Zur Autorin

 

Christel Dobenecker, 1939 in Berlin geboren. Wuchs in Thüringen auf, wo sie auch das Abitur machte. Studium
der Romanistik in Leipzig. Anschließend fast 30 Jahre Lektorin für lateinamerikani-sche Literaturen im Aufbau-Verlag Berlin.
Zahlreiche Übersetzungen aus dem Französischen und vor allem aus dem Spanischen, u. a. Onelio Jorge Cardoso (Kuba),

Samuel Feíjoo (Kuba), Augusto Monterroso (Guate­mala), Miguel Otero Silva (Venezuela), Antonio Skármeta (Chile).
Bisher erschienen bei trafo: Lebensraster – eine Erzählung (2008).
 

 

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