Inhaltsverzeichnis
Einleitung 7
Hans Magnus Enzensberger 43
Peter Schütt 109
Münchener Begegnungen 139
Uwe Timm 155
Martin Walser 215
Dieter Wellershoff 317
Einleitung
Selbstbegegnung im www
Vielfältig können Motive für einen Rückblick sein. Im vorliegenden Fall
ist es das Bedürfnis, sich die Kontexte zu vergegenwärtigen, in denen
ich in der DDR arbeitete und dachte. Dabei geht es vorzüglich darum, mir
die Motive und Intentionen der eigenen Arbeit bewußt zu machen,
Selbstvergewisserung, wenn man so will. Im Erinnerungsbuch „Schwindende
Gewißheiten“ schildere ich individuelles Werden, wie es sich unter den
Bedingungen der DDR zutrug. Es werden die Faktoren familiärer, sozialer
und geistiger Eindrücke dokumentiert, die das persönlich-mentale
Befinden bestimmt und im Laufe der Zeit, bis zum Ende der DDR verändert
haben. Ein Bericht, der nicht nur mit der eigenen Situation zu tun
hatte. Dabei blieb meine Arbeit als Literaturwissenschaftlerin
weitgehend ausgeklammert, für meine Erfahrungen auf diesem Felde fehlte
mir ein Ausdruck. Aber seither habe ich immer nach Wegen gesucht, um auf
sie zurückzukommen. Denn meine „Gegenstände“, zeitgenössische Autoren
und ihre Bücher, begleiteten mich auch weiterhin, ihnen wollte und
konnte ich nicht entkommen.
Es geht hier nicht um ein Resümee meiner wissenschaftlichen und
publizistischen Arbeiten, sondern um die Anstöße zum Nachdenken, die mir
Begegnungen mit Menschen und ihren Büchern gaben. Ihnen möchte ich hier
nachgehen. Dabei handelt es sich um eine subjektive, vielleicht
zufällige Auswahl, die ich gar nicht erst versuchen werde zu begründen.
Mein Verhältnis zu den ausgewählten Beispielen war Wandlungen
unterworfen, wie sich auch die Gegenstände der Betrachtung nicht gleich
geblieben sind. Aus Ignoranz wurde Verstehen, Annäherung, die kritische
Distanz nicht ausschließt; insgesamt geht es um einen Lernprozeß, der
sicherlich nicht vor neuen Irrtümern bewahrt.
Einen äußeren Anlaß, um mit der Rückschau auf Publiziertes zu beginnen,
bildete die Selbstbegegnung im www. Seit einigen Jahren gehöre auch ich
zur weltweiten Kommunikationsgemeinde, die sich im Internet begegnet.
Irgendwann suchte ich nach dem eigenen Namen bei Google, komisch, es
fiel mir erst nach Monaten meiner neuen Errungenschaft ein, daß das
möglich war. Und tatsächlich, Veröffentlichungen von mir sind angezeigt,
von denen ich annahm, daß sie längst der Vergessenheit anheimgefallen
sind. Es wäre mir, offen gestanden, sogar lieber gewesen, nicht mehr mit
ihnen konfrontiert zu werden. Aber Antiquariate arbeiten eben
zuverlässig, und wer sich in die Öffentlichkeit wagt, geht so schnell
nicht verloren. Das festzustellen, löste bei mir ziemlich peinliche
Gefühle aus. Denn auf solche Selbstbegegnung war ich in keiner Weise
vorbereitet. „Antihumanismus in der westdeutschen Literatur“ (1971)
lautete der Titel der Veröffentlichung, die aus der überarbeiteten
Fassung meiner Dissertation hervorgegangen war, die ich am Institut für
Gesellschaftswissenschaften verteidigt hatte. In dem bei Dietz
erschienenen Band wurde der Versuch gewagt, aktuelle literarische
Vorgänge in der Bundesrepublik seit Mitte der sechziger Jahre
darzustellen, Strömungen auszumachen und zu charakterisieren. Seit
langem ist mir bewußt, daß dieser Überblick in Inhalt und Methode recht
dilettantisch ausgefallen ist. Noch heute wundere ich mich darüber, daß
der Dietz Verlag das gedruckt hat. Sie spiegelt den damaligen Stand
meines Wissens, und der war eben nicht sehr entwickelt. Es fehlte mir an
literaturgeschichtlichem und literaturtheoretischem Wissen, ich war
unsicher und suchte nach Anhaltspunkten für die selbst gestellte
Aufgabe, Tendenzen aktueller westdeutscher Literaturentwicklung zu
analysieren und überschaubar darzustellen. Da griff ich zu gängigen
Stichworten, Kategorien wie Humanismus und Menschenbild, Realismus und
Dekadenz, die in der marxistischen Ästhetik eine Tradition hatten, ich
kannte Georg Lukács´ Arbeiten und griff zu dem damals gerade
veröffentlichten Buch von Hans Koch „Marxismus und Ästhetik“, in dem es
aktuellere Ableitungen gab. In meinem optimistisch-schematischem
Weltbild standen Antihumanismus und Dekadenz für den niedergehenden
Kapitalismus, während Humanismus und Realismus auf der Seite der
fortschreitenden Menschheitsentwicklung zu finden waren, von der wir in
der DDR ein Teil zu sein glaubten. Ich versuchte mit diesen Kategorien
zu hantieren, sie auf die gegenwärtige Entwicklung der Literatur
anzuwenden. Im Ergebnis meiner Bemühungen konstatierte ich eine
antihumanistische, eine humanistische und eine antiimperialistische
Strömung in der derzeitigen westdeutschen Literatur. Literarische
Wertungsarten fielen bei diesem starren Schema unter den Tisch.
Und da finde ich nun unter meinem Namen den Hinweis auf einen Artikel
von Volker Hage, den „Die Zeit“ am 16. März 1973 gedruckt hatte und der
sich wohl auch noch in meinen Unterlagen finden wird. Aber ich hatte ihn
vollkommen vergessen, und da begegnet er mir nun erneut. „Ist
Wellershoff antihumanistisch?“ steht klein über der in größeren Lettern
gedruckten Überschrift und die lautet: „Angeblich zum Nutzen der
Herrschenden“. Es handelte sich um eine Rezension zu meinem oben
genannten Erstling mit dem ominösen „Antihumanismus“ in der Überschrift.
Nun erinnere ich mich auch wieder an die erste Lektüre dieser Rezension,
die man mir zugeschickt hatte. Es war ein tiefer Schreck, als ich mich
mit meinen höchst provisorischen Untergliederungen und Bestimmungen so
ernst genommen sah, und meine Darlegungen hier nun sogar als offizielle
Parteilinie ausgegeben fand. Und dabei war es doch so, daß ich die
Parteilinie in Sachen Literatur und Kultur weder genau kannte, noch sie
verstehen konnte. Ich wollte daran glauben, daß es sie gab, und ihr auch
eine höhere Weisheit zugrunde lag. Aber zugleich fühlte ich mich immer
auch ganz hilflos, außerstande, die neuesten Verlautbarungen zu
begreifen; sie zu begründen oder gar zu vertreten, das lag außerhalb
meiner Möglichkeiten. Und nun fand ich meine höchst unzulänglichen
Bemühungen so gewichtig genommen. Das erschreckte mich gehörig. Ich war
weit davon entfernt, Wellershoff oder andere Schriftsteller als
Antihumanisten anzusehen. Klassifikationen, hatte man mir gesagt, trügen
objektiven Charakter, und so schwebte mir damals vor, daß sich
antihumanistische Wirkungen unabhängig vom Willen des Autors einstellen
können, eben wenn die Sicht auf den Menschen und die Gesellschaft nicht
auch mögliche Veränderungen ins Blickfeld rückt. Glücklicherweise
bemerkte ich bald, nicht zuletzt durch die Beobachtung der rasant
ablaufenden gesellschaftlichen Veränderungen in den späten sechziger
Jahren, wie wenig der Umgang mit kategorialen Bestimmungen aktuellen
politischen wie literarischen Prozessen gerecht wird. Schnell
verabschiedete ich mich von solchen Kategorien, griff Kriterien auf, die
im Entwicklungsprozeß selbst entstanden oder dort wieder in Gebrauch
genommen worden waren und begann mit differenzierterem Verständnis zu
arbeiten. Immerhin war ich lernfähig genug, um zu sehen, daß sich der
Literaturprozeß anders entwickelte, als meine vorgegebenen
Begrifflichkeiten glauben machen wollten. Bei Brecht las ich, wie er
solche Verfahren glossierte. Er machte sich über eine Wissenschaft
lustig, die zu dem Ergebnis kommt, daß diese Tauben falsch fliegen.
Kategoriales Denken wurde mir zunehmend suspekt, ich begriff, wie
verfehlt meine Herangehensweise war und suchte nach Gesichtspunkten, von
denen die Akteure der Entwicklung sich selbst leiten ließen, um der
komplexen und sich ständig verändernden Wirklichkeit auf die Spur zu
kommen. Meine Sicht aufs Reale wurde differenzierter und konkreter,
immerhin war ich neugierig und offen genug, um den ideologischen
Prämissen und Schemata nicht sklavisch zu folgen. Langsam, Schritt für
Schritt begann ich ihnen zu entgehen. Das Ergebnis meines Umdenkens
schlägt sich in publizierten Einzelbeiträgen und in der
Buchveröffentlichung „Literatur und Klassenkampf“ (1976) nieder. Hier
finden sich nun wiederum neue Einseitigkeiten. Es ist der schon im Titel
vollzogene Kurzschluß zwischen Literatur und Politik, der sich
allerdings aus der oberflächlich betrachteten Szenerie der
bundesrepublikanischen Verhältnisse ableitete, in der sich eine ganz
unmittelbare Beziehung zwischen den beiden Sphären entwickelt hatte.
Natürlich war es so, daß es literarische Erscheinungen gab, die davon
gar nicht, wenig oder nur mittelbar betroffen waren, und sie blieben
dann auch weitgehend außerhalb meines Blickfeldes. Solche Kurzschlüsse
waren dem literarischen Prozeß ihrerseits unangemessen und verkürzten
die Sicht auf die vielfältigen Wirkungsmöglichkeiten, die der Literatur
innewohnen können. Es ist sicherlich so, daß auch in folgenden Arbeiten
etwas von diesen Kurzschlüssen erhalten geblieben ist, langsam erst
revidierte ich sie Schritt für Schritt und ersetzte sie durch konkretere
Umgangsweisen mit Literatur. Zwar habe ich mit kritischen und
wissenschaftlichen Arbeiten zu einzelnen Werken und Autoren auch
publizistischen Zuspruch gefunden, auch das kann man im www finden, aber
darum geht es hier nicht.
Groß war auch mein Entsetzen angesichts der digitalen Begegnung mit
Manfred Jäger. Der Publizist hat u.a. für die Beilage der Zeitschrift
„Das Parlament“ einen Beitrag über DDR-Literaturwissenschaft
geschrieben. Anhand eines Zitats aus einer meiner Publikationen finde
ich mich dort als Beleg für eine SED-offizielle Sicht auf die
westdeutsche Literatur wieder. Das Zitat stammt aus dem Jahr 1970, es
ist aus seinem Zusammenhang gerissen und läuft mir nun vierzig Jahre
später als offizielle Parteilinie hinterher. Dabei hatte ich mit der
doch immer meine Schwierigkeiten, verstand sie meist nicht. Aber ihren
sozialistischen Zielen fand ich mich schon verbunden, will jetzt nicht
so tun, als wäre das anders gewesen. Ja, wer war oder hat damals
eigentlich die Linie bestimmt? Vielleicht war ich es doch, wer weiß das!
Jedenfalls graust mir bei dem Gedanken, daß Dinge, einmal in die Welt
gesetzt, ihr Eigenleben führen und mit dem Urheber nur noch wenig zu tun
haben.
Aber andererseits finde ich es auch ganz und gar in der Ordnung, daß nun
die Kritik, die ich an anderen geübt habe, zu mir zurückkehrt.
Ja, damals glaubte ich mich vor den Autoren, denen ich meine
Aufmerksamkeit angedeihen ließ, durch eine Mauer geschützt. Ein
Zeitalter wären wir ihnen voraus, hatte man mir gesagt, und ich war
stolz darauf, in einer so zukunftsbewußten neuen Gesellschaft zu leben.
Die würden auch schon noch begreifen, wohin die Reise der Geschichte
ginge, dachte ich mir und war befriedigt bei solchem Gedanken.
Mit solchen Selbstbegegnungen begann die Idee zu dieser Rückschau zu
reifen.
Vorweg erscheint es mir notwendig, Etappen meiner wissenschaftlichen
Laufbahn zu skizzieren, die kurz war und doch eine wesentliche Zeit
meines Erwachsenenlebens einnimmt: 1970–1991, so datiere ich sie, denn
in diesem Jahr wurde das Zentralinstitut für Literaturgeschichte an der
Akademie der Wissenschaften der DDR (ZIL) abgewickelt. Von 1992–1997
bekam ich innerhalb des Wissenschaftler Integrationsprogramms, das
Bestandteil des Hochschul-Erneuerungsprogramms (kurz: WIP im HEP) war,
einen Vertrag am Germanistischen Institut der Humboldt Universität. Hier
arbeitete ich an einem von Professor Ursula Heukenkamp geleiteten
Forschungsprojekt zur Nachkriegsliteratur in der Viersektorenstadt
Berlin (1945–1961) mit.
Eine Literaturgeschichte und ihre Autoren
Einen wichtigen Erkenntnisschritt in bezug auf die Komplexität und die
Geschichte des literarischen Prozesses seit dem 2. Weltkrieg brachte mir
die Teilnahme an der Erarbeitung des Bandes, der sich mit der Geschichte
der BRD-Literatur befaßte. Er galt als Band 12 der „Geschichte der
Deutschen Literatur“ und erschien im Jahr 1983 im Verlag Volk und
Wissen. Bei seinem Erscheinen lag eine ziemlich lange Entstehungszeit
hinter den Autoren und den Verlagsverantwortlichen. Zu diesem Zeitpunkt
waren bereits die zehn Bände des Großprojekts zur „Geschichte der
Deutschen Literatur von ihren Anfängen bis zur Gegenwart“
veröffentlicht, die parallel zu einer allgemeinen Darstellung der
„Geschichte des deutschen Volkes“ geplant worden waren. Die Konzeption
für die Erarbeitung einer deutschen Literaturgeschichte durch
DDR-Wissenschaftler ging bis in die sechziger Jahre zurück. 1964
veröffentlichte die Redaktion der „Weimarer Beiträge“ eine „Skizze zur
Geschichte der deutschen Nationalliteratur“, in der eine Arbeitsgruppe
erste konzeptionelle Überlegungen für eine Gesamtdarstellung vorstellte.
Fragen nach der Herausbildung von Realismus und Humanismus, nach dem
Charakter von Menschenbildern konstituierten auch hier die theoretischen
Grundlinien für den literaturgeschichtlichen Überblick. In dieser Skizze
ging man davon aus, daß auch die Phase der jüngsten deutschen
Literaturentwicklung als ein einheitlicher Komplex zu behandeln sein
würde. Für die Darstellung der Literaturentwicklung seit dem 2.
Weltkrieg, wurde ein Band veranschlagt, der die in der DDR entstandene
Literatur zusammen mit der humanistischen westdeutschen Literatur
umfassen sollte. Diese Sicht entsprach der in der fünfziger Jahren
konzipierten nationalen Politik der DDR-Führung, die auf eine Einheit
Deutschlands hinarbeitete. Inzwischen war allerdings eine politische
Situation entstanden, in der sich deutlich abzeichnete, daß die
Entwicklung in beiden Teilen Deutschlands sich immer stärker voneinander
entfernte. Die Integration in zwei verschiedene Blocksysteme und nicht
zuletzt die entschiedene Grenzziehung im August 1961 hatten Aussichten
auf Annäherung und Vereinigung in weite Ferne gerückt. Den
Parteiideologen in der DDR gelang es erst nach und nach, neue politisch
konzeptionelle Begründungen und Perspektiventwürfe zu finden. Man begann
den Begriff der Nation auf den Kleinstaat DDR zu beziehen, der Terminus
sozialistische Nation kam in Umlauf. Sie sollte als Keimzelle eines
sozialistischen Gesamtdeutschlands gelten, deren Realisierung erst für
eine ferne Zukunft anvisiert war. Das Konzept der nationalen Einheit
wurde fürs erste begraben, man rechnete für lange Zeit mit der Realität
zweier deutscher Staaten. Zwischen Abgrenzung und der Wahrnehmung
besonderer Verantwortung bewegten sich in den folgenden Jahren die
politischen und ideologischen Prämissen der DDR gegenüber dem anderen
Deutschland.
In diesem Kontext veränderten sich auch die Voraussetzungen für die
Erarbeitung einer Literaturgeschichte, besonders für den neuesten
Zeitabschnitt. Die Literaturwissenschaftler und Historiker in der DDR
waren es gewohnt, sich auf politische Kursänderungen einzulassen und
deren Zäsurierungen und Fragestellungen auch im Hinblick auf die
Literaturentwicklung zu prüfen. Man rückte nun von der Vorstellung ab,
daß die Literatur des jüngsten Zeitabschnittes als ein
zusammengehörender Prozeß dargestellt werden müßte, und konzipierte eine
geschichtliche Darstellung in zwei getrennten Verläufen. Sowohl die
Literaturentwicklung in der DDR als auch die der Bundesrepublik sollte
nun einen eigenständigen Band bekommen, Band 11 war der Literatur der
DDR gewidmet, während sich Band 12 mit der Literatur der Bundesrepublik
befaßte. Der BRD-Band wurde auch als Sonderausgabe innerhalb der
Literaturgeschichte ausgestattet. Naturgemäß veränderte diese Trennung
auch die innere Konzeption und die Anlage der Bände. Vor allem die
Darstellung der DDR-Literatur bekam eine völlig neue Ausrichtung, sie
stand jetzt unter der Prämisse der Herausbildung einer sozialistischen
Nationalliteratur. Diese Sicht bildete sich im Zusammenhang mit
entsprechenden Bemühungen von Ideologen und Philosophen, die die DDR auf
dem Wege zu einer sozialistischen Nation sehen wollten, als Keimzelle
einer sozialistischen Gesamtnation, selbstverständlich. In welche
Schwierigkeiten und Kalamitäten ein solches Konzept die
Literaturhistoriker brachte, die es mit einem höchst widersprüchlichen
Literaturprozeß zu tun hatten, ist dem 1976 erschienenen Band 11
abzulesen. Der Redaktionsschluß ist mit Oktober 1974 angegeben, aber die
Entstehungszeit des Textkorpus dürfte mindestens bis ins Jahr 1968
zurückreichen.
In diesem Zeitraum wurde auch der Band 12 neu konzipiert, die
westdeutsche Literatur erschien innerhalb des Gesamtkonzepts nun
gewissermaßen als Nebenarm der deutschen Nationalliteraturgeschichte.
Meiner Erinnerung nach bin ich 1977/78 zur Mitarbeitergruppe für Band 12
gestoßen. Zu diesem Zeitpunkt existierten bereits Ausarbeitungen zu
Autoren und ihren Büchern aus den fünfziger Jahren, über Heinrich Böll,
Paul Schallück, Hans Werner Richter u.a. lagen Textpassagen vor. Sie
wurden mir übergeben, und es war von da an abgemacht, daß ich über die
Epik der sechziger und siebziger Jahre zu handeln hatte, später kam dann
noch die Darstellung der Dramatik dieses Zeitraumes hinzu. Genauere
Absprachen und Festlegungen zwischen dem Leiter unseres Kollektivs, Hans
Joachim Bernhard (Rostock), und den Mitarbeitern, Eva-Maria Müller
(Rostock), Klaus Pezold, Klaus Schumann (Leipzig), ergaben sich schnell,
es entwickelte sich insgesamt eine gedeihliche Arbeitsatmosphäre. Obwohl
ich erst später zu der Autorengruppe gestoßen war, hatten wir schnell
eine produktive und kameradschaftliche Zusammenarbeit. Das blieb auch
so, nachdem Lutz Volke hinzukam, der die Kapitel über die Geschichte des
Hörspiels schrieb. Ich denke nicht ungern an diese Zeit.
Im einzelnen möchte ich den Diskussionsprozeß um Konzeption und Anlage
des Bandes nicht rekonstruieren. Dazu wären aufwendige Recherchen nötig,
für die mir entsprechende Unterlagen gar nicht mehr zur Verfügung stehen
und die mir hier auch überflüssig erscheinen. Für meine Entwicklung war
diese Zusammenarbeit sehr wichtig, weil ich durch sie konkretere
Vorstellungen über die Historizität und Komplexität von
Literaturentwicklungen bekam. Heute weiß ich, daß man
Literaturgeschichten auf sehr unterschiedliche Art schreiben kann und
daß jede Anlage und Methode ihre Vor- und Nachteile in sich trägt.
Unserem Unternehmen damals, die Literatur der Bundesrepublik gesondert
darzustellen, war unter der Herausgeberschaft von Dieter Lattmann 1973
in der BRD ein erster Versuch vorangegangen, wesentliche
Entwicklungszüge der westdeutschen Literaturentwicklung zu beschreiben.
Hier war sicherlich weniger als von uns an einer gemeinsamen Konzeption
gearbeitet worden; in jeweils abgeschlossenen Kapiteln stellte Dieter
Lattmann einleitend Stationen einer literarischen Republik vor, Heinrich
Vormweg Entwicklungstendenzen in der Prosa, Karl Krolow schrieb über
Lyriker und Hellmuth Karasek über die Tendenzen in der Dramatik. So wie
diese Veröffentlichung stellt sich auch unser Band mit allen
zeitbedingten und unserer begrenzten Einsicht geschuldeten Problemen
dar. Literaturgeschichtsschreibung so nahe an der Gegenwart bleibt ein
kühnes Unterfangen mit vielen Risiken, sich zu blamieren, denn man hat
es mit einem unabgeschlossenen, nach vorn offenen Prozeß zu tun. Für ihn
Festlegungen und einsehbare Gliederungskriterien zu finden bleibt ein
Wagnis. Weiterführend an unserem Band erscheint mir noch aus dem
Rückblick die Tatsache, daß wir dem Verhältnis von Literatur und
Gesellschaft in vielen Aspekten nachgegangen, ihm in der Darstellung
erheblichen Raum gegeben und mit einem sehr weiten Literaturbegriff
gearbeitet haben. Die gesellschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen
des Literaturprozesses, seine verlegerischen Voraussetzungen und die
Stellung der Autoren in der Öffentlichkeit einzubeziehen, wurde ein
Verfahren, dem später erschienene Darstellungen in vielem folgten. Unser
Literaturbegriff schloß nicht nur die traditionellen Gattungen ein,
sondern auch die literarische und politische Publizistik der Autoren.
Darüber hinaus behandelten wir triviale Massenliteratur, stellten ihre
sich verändernden Grundzüge dar, wie sie sich von Beginn an für den
westdeutschen Literaturbetrieb herausgebildet hatten. Auch bezogen wir
Kinder- und Jugendliteratur sowie die für die Literaturentwicklung in
der Bundesrepublik so wesentliche Geschichte des Hörspiels in die
Darstellung ein. Problematisch erscheint mir im Rückblick die strikte
Anlehnung des zeitlichen Gliederungsschemas an das der allgemeinen
Geschichtsschreibung. Bei größerer Übersicht hätten sich gewiß stärker
innerliterarische Gliederungskriterien für die Darstellung finden
lassen. Auch die Fixierung der Gliederung auf die Entwicklungen der
Gattungen, Epik, Lyrik, Dramatik wäre wahrscheinlich stärker zu
durchbrechen gewesen, um dem lebendigen Literaturprozeß näher zu kommen.
Mitunter wäre es auch besser gewesen, mehr oder anderen Autoren
Einzeldarstellungen zu widmen, um dafür andere in Übersichtskapiteln
unterzubringen. Die Gewichtung erscheint aus späterer Sicht manchmal
unzutreffend und wenig einsehbar. Aber das sind Fragen, für deren Lösung
die jeweils konkreten Kontexte ausschlaggebend und die im nachhinein
schwerlich gerecht zu beurteilen sind. Einen gewissen Inhaltismus
bescheinigte uns beim Erscheinen des Bandes Walter Jens in einer
Fernsehkritik, in der er dem Band insgesamt manches Verdienst zusprach.
Für meinen Anteil an den Problemen dieses Bandes veranschlage ich im
Rückblick mehrere Defizite. Weil die Voraussetzungen, mit denen wir
Geschichtsschreiber zu Werke gingen, sehr unterschiedlich waren, will
ich mich vor Verallgemeinerungen in jedem Fall hüten. Für mich kann ich
sagen, daß ich noch immer mit einem verengten, zu stark politisierten
Literaturbegriff arbeitete, der dem Zeitkontext der sechziger Jahre
entnommen war, mit dem ich mich zu beschäftigen und mit dem ich auch
meinen Einstieg ins literarische Fach begonnen hatte. Darüber will ich
mich an dieser Stelle nicht weiter verbreiten, weil Belege dafür sich
auch in den hier geschilderten Begegnungen finden.
Eine anderer Sachverhalt macht mir mehr zu schaffen, bereitet mir aus
heutiger Sicht einige Pein. Dabei weiß ich nicht, wie meine Kollegen im
einzelnen damit umgegangen sind und heute damit umgehen. Es handelt sich
dabei um das „Problem der Unpersonen“, wie ich es nennen möchte. Auf
diese Erscheinung trafen wir in der DDR häufig. In
Geschichtsdarstellungen, vor allem auch im Rahmen der Geschichte der
kommunistischen Bewegung und in ähnlichen Zusammenhängen stieß man
allenthalben darauf. Das erstemal begegnete ich diesem Tabu in meiner
Tätigkeit als Bibliographin, bei der Mitarbeit an einer großräumig
angelegten „Bibliographie zur Geschichte der Kommunistischen und
Arbeiterparteien“, die an der Bibliothek des Instituts für
Gesellschaftswissenschaften unter der Regie ihres Leiters erarbeitet
wurde. Nachdem der 1. Band der Bibliographie im Manuskriptdruck vorlag,
wurde die Arbeit plötzlich gestoppt, der Leiter Eberhard Kabus zur
Verantwortung gezogen. Der Grund: Es hätten sich Parteifeinde in das
Gedruckte eingeschlichen, so hieß es. Wir hatten, unserem
bibliographischen Gewissen entsprechend, Artikel und Aufsätze von
Personen in das Verzeichnis aufgenommen, die schon nicht mehr zur Partei
gehörten, ausgeschlossen worden waren oder längst im Westen lebten und
nun als Renegaten oder Verräter galten. Unpersonen waren sie nun
geworden, durften nicht mehr genannt werden. Unser Chef bekam dafür ein
Parteiverfahren, wurde als Leiter der Bibliothek und des Vorhabens
abgelöst. Zuvor waren wir monatelang damit beschäftigt, die Stellen zu
schwärzen, auf denen die Namen dieser Unpersonen verzeichnet waren. Erst
versuchten wir, die unerwünschten Eintragungen zu überkleben, aber die
Namen waren gegen das Licht noch immer zu lesen, nur das Schwärzen
brachte den gewünschten Effekt, wie sich zeigte. Noch heute sehe ich uns
mit den Bücherstapeln vor den Tischen des Lesesaals in der Taubenstraße
stehen, um die Maßgaben von höheren Orts ins Werk zu setzen. Ein solches
Erlebnis hinterließ einen tiefen Eindruck. So etwas wollte ich natürlich
nicht noch einmal erleben und hielt mich daher, so gut ich es verstand,
an das Tabu. Bei der Darstellung der westdeutschen Literatur handelte es
sich zumeist um Personen, die die DDR aus politischen Gründen verlassen
und sich in der Folgezeit als ihre Kritiker einen Namen gemacht hatten.
Manfred Bieler, Horst Bienek, Walter Kempowski, Gerhard Zwerenz gehörten
z.B. dazu. Wir hatten natürlich nicht die Absicht, sie völlig zu
übergehen, sie zum Verschwinden zu bringen. Nein, wir wollten schon so
weitgehend wie möglich unserer Chronistenpflicht nachkommen. Aber wie
damit umgehen? Nicht nur bei mir bestand Unsicherheit darüber, wie mit
diesen Autoren zu verfahren sei. Welcher Platz sollte ihnen eingeräumt
werden? Unsicherheit und die Furcht, etwas falsch zu machen, führten
dazu, daß solchen Schriftstellern mit ihrem Werk kein angemessener Raum
gegeben wurde. Das geschah eher unbewußt, denn an eine ausdrückliche
Verständigung über solche Fragen kann ich mich nicht erinnern. Dieses
Vorgehen wird mir im Rückblick bewußter, als ich es damals erlebt habe.
Offensichtlich folgte ich darin der seit langem geübten Praxis in der
Geschichte der kommunistischen Bewegung, in der es von Unpersonen nur so
wimmelte. Erst später bemerkte ich, welcher unbewußte Mechanismus da in
mir wirkte. Peinlich, peinlich ist mir das heute, ich muß es offen
sagen. Walter Kempowski hat mit seiner Kritik an dieser Praxis, die auch
seinen Namen betraf, vollkommen recht. Er hat sie in seinem Rostocker
Tagebuch von 1990 mit Namen und Adresse öffentlich gemacht. Es stimmt,
daß sein Werk in dieser Literaturgeschichte keine angemessene Würdigung
findet und daß es unentschuldbar ist.
Bei der Arbeit damals nahm niemand von meinen Kollegen Anstoß an meinen
geringen Voraussetzungen. Wahrscheinlich war es so, daß keiner von ihnen
eine genaue Vorstellung von meinen dürftigen Vorkenntnissen hatte. Denn
alle anderen waren bereits gestandene Wissenschaftler, bei ihnen sah das
jedenfalls durchaus anders aus als bei mir. Immerhin war Klaus Pezold
ein Schüler Hans Mayers in Leipzig gewesen, hatte dort früh mit einer
Arbeit über Martin Walsers Romanwerk promoviert. Das Thema der
Dissertation ging noch auf den verehrten Lehrer zurück, und sie lag
bereits veröffentlicht vor. Auch von Klaus Schumann, Spezialist für die
Lyrik, gab es bereits Veröffentlichungen. Er hatte über Brechts Lyrik
promoviert. Hans Joachim Bernhard hatte eine Habilschrift über die
Romane von Heinrich Böll verfaßt, auch deren Ergebnisse lagen gedruckt
vor. Außerdem hatte er über die Kriegsbücher von Ernst Jüngers
gearbeitet und publiziert. Ich kannte seine Arbeiten aus meiner
Studentenzeit. Mich beeindruckte der Kenntnisreichtum der Kollegen, aber
ich war erleichtert, daß sie mich ohne Vorurteile in ihren Kreis
aufnahmen. Denn ich war mir meiner geringen Voraussetzungen bewußt, war
unsicher, aber eifrig bemüht, meine Lücken zu schließen, um an einer so
wichtigen Arbeit, wie es eine Literaturgeschichte war, erfolgreich
mitschreiben zu können. Viel Eifer und Fleiß brachte ich mit, die Arbeit
machte mir Spaß, obwohl mich niemals das Gefühl von Überforderung
verließ, das mich im übrigen auf meinem gesamten Weg als
Wissenschaftlerin begleitet hat.
...
|