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Wissenschaftsverlag 2010, 164 S., ISBN 978-3-89626-885-3, 19,80 EUR
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Leibniztag 2009
Begrüßung durch den Präsidenten5
Dieter B. Herrmann: Die Leibniz-Sozietät im Internationalen Jahr der Astronomie Bericht des Präsidenten an den Leibniztag 2009 9
Karl Lanius: Wandel im Weltbild der PhysikFestvortrag auf dem Leibniz-Tag 2009 23
Nachrufe für verstorbene Mitglieder 43
Neue Mitglieder der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V. 65
Aus Plenar- und Klassensitzungen
Einleitende Bemerkungen des Sekretars der Klasse Naturwissenschaften auf der Sitzung am 8. Mai 2008 67
Werner Ebeling und Dieter Hoffmann: Max Plancks Beiträge zur Thermodynamik 73
Fritz Gackstatter: Hans-Jürgen Treders Studien über Relativität und Kosmos 85
Lothar Kolditz: Kollektivität und Emergenz – die Weltformel 91#
Petra Werner: Charles Darwin und Alexander von Humboldt 107
Rolf Löther: Darwinismus oder Kreationismus – eine wissenschaftliche Streitfrage? 123
Klaus Steinitz: Defizite der ostdeutschen Wirtschaftsentwicklung – Probleme bei der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse 141
Wilfried Schröder:
Wilhelm Foerster und die geophysikalischen Beobachtungen nach dem Krakatau
Ausbruch 165
Gerhard Öhlmann: Hermann Klare. Laudatio anlässlich seines 100. Geburtstags am
12. Mai 2009 171
Rüdiger Hardeland: Franz Halberg zum 90. Geburtstag – ein Symposium „Noninvasive Methods in Cardiology 2009“ an der Masaryk-Universität Brno 185
Rezension: Herbert Hörz, Realistischer Relativismus – Macht, Herrschaft und Kampf in der sozialen Welt – (Rezension zu Karl Heinz Domdey, Schizophrene Gesellschaftswelt. Quintessenzen aus Verganzheitlichung, Macht, Herrschaft und Kampf in der sozialen Welt) 189
Zwei Kolloquien zu
Ehren von Serge von Bubnoff „Zu Grund-problemen der Geologie“ (Bericht von Peter
Bankwitz, Heinz Kautzleben und Thomas Kaemmel) 197
Karl Lanius
Wandel im Weltbild der Physik (Ausschnitt)
Festvortrag auf dem Leibniz-Tag 2009
Unsere Vorfahren – Jäger und Sammler – mussten, um zu überleben, wissen,wann essbare Früchte reifen und wie das jagdbares Wild in Abhängigkeit vonder Jahreszeit wandert. Das Geschehen am Himmel, der Auf- und Untergang der Sonne, die Phasen des Mondes, die jahreszeitliche Stellung der Fix- und Wandelsterne wurden von Menschen über Zehntausende von Generationenhinweg wahrgenommen. Aus menschlicher Sicht scheint das Geschehen inder Natur einem ewigen Regelmaß zu folgen: über uns, am Himmel, der tägliche Lauf der Sonne und der Monatsrhythmus der Mondphasen um uns in der Natur, der ewig wiederkehrende Wechsel der Jahreszeiten. Das Geschehen inder Natur erleben wir als zeitlich unveränderliche Periodenfolge.
Soweit die geschriebene Geschichte der Menschheit zurückreicht, haben wir Zeugnis davon, dass die Menschen über die Natur nachdachten. Sonne,Mond und Sterne, die vielen Erscheinungsformen der sie umgebenden Materie, schließlich das Leben selbst in all seiner Formenvielfalt ließen sie nachdem Ursprung der Dinge fragen. Die ersten uns überlieferten Antworten darauf sind religiöse Mythen. Es waren dies, wie wir heute wissen, zwar unvollkommene, aber ganzheitliche Antworten, die alle Menschen erreichten. Der Mythos drückt das Bemühen der Menschen aus, sich in ihrer Umwelt zu begreifen, eine Vorstellung von der Natur und der Evolution der Welt zu gewinnen. Ich möchte ihnen beispielhaft eine Erzählung aus dem bevölkerungsreichsten Land der Erde vortragen: den chinesischen Mythos von der Erschaffung der Welt durch Pan Gu:
„Am Anfang waren Himmel und Erde noch eins und alles war Chaos. Das Universum war ein großes schwarzes Ei, in dem Pan Gu ruhte. Nach 18 000 Jahren erwachte Pan Gu aus seinem langen Schlaf. Es war ihm zu eng und stickig, so nahm er eine breite Axt holte mächtig aus und schlug das Ei entzwei. Die leichten hellen Teile stiegen auf und wurden zum Himmel, die trüben, dunklen sanken hinunter und bildeten die Erde. Pan Gu stand in der Mitte, sein Kopf berührte den Himmel, seine Füße ruhten auf der Erde. Himmel und Erde begannen um zehn Fuß pro Tag zu wachsen, und Pan Gu wuchs mit ihnen. Wiederum vergingen 18 000 Jahre. Der Himmel war höher und höher geworden, Die Erde dicker und dicker, und Pan Gu stand zwischen ihnen wie ein riesiger Pfeiler von 90000 Li, damit Himmel und Erde sich nie wieder vereinigen würden.
Als Pan Gu starb, verwandelte sich sein Atem in die Winde und Wolken und seine Stimme wurde zum rollenden Donner. Ein Auge wurde zur Sonne,ein anderes zum Mond. Sein Leib und seine Glieder verwandelten sich in fünfgroße Berge, und sein Blut bildete die brausenden Gewässer. Seine Adern wurden zu Straßen und Wegen, seine Muskeln zu fruchtbaren Land. Die unzähligen Sterne des Himmels kamen von seinem Haar und Bart, die Blumenund Bäume aber von seiner Haut und seinen Körperhaaren.“
Im 6. Jahrhundert v.u.Z. begannen die Denker der Antike, dem Mythos eine andere Art der Erzählung gegenüberzustellen, deren Wahrheitsgehalt keine Frage des traditionellen blinden Vertrauens war. Dieses neue philosophische Denken versuchte, die Dinge aus sich selbst zu erklären, sie in ihrer Objektivität zu erfassen. Es sah die Wirklichkeit als verstandesmäßig erfass-bare und damit durchschaubare Ordnung an, denn was objektiv erkennbar und rational erfassbar ist, bedarf keiner übernatürlichen Deutungen. In der Auseinandersetzung mit der Umwelt verloren die Dinge schrittweise ihren religiös-mythischen Aspekt. Mit der Objektivierung der Erscheinungen wuchs das Selbstgefühl der Menschen. Sie wurden sich ihrer Subjektivität bewusst. Der große Gedanke, den sie wohl als erste dachten, war, dass die Welt, in dersie lebten, durch den menschlichen Verstand begriffen werden kann; dass diese Welt nicht das Werk und der Tummelplatz von Göttern ist, die, häufig von Leidenschaft getrieben, die Geschicke der Menschen bestimmten. Die ersten Naturphilosophen suchten nach einem Urgrund, einer Ursubstanz, auf die sich alles in der Welt Existierende, trotz seiner unendlichen Mannigfaltigkeit zurückführen ließe. Was im Mythos Theogonie war, beginnt nun, zur Wissenschaft vom Werden der Welt, zur Kosmologie zu werden. Die unendliche Mannigfaltigkeit der Dinge wurde auf eine Ursubstanz reduziert.
Einer der für die Entwicklung der Naturwissenschaft einflussreichsten griechischen Philosophen war Aristoteles (384-322 v.u.Z.). Nach seiner Lehrmeinung bestehen alle Körper aus vier Grundelementen: Feuer, Luft, Wasser und Erde, von denen jedes seinen natürlichen Ort hat. Daraus folgerte er, dass auch jeder Körper, in Abhängigkeit von seiner Zusammensetzung aus den Grundelementen, seinen natürlichen Ort im Raum hat. Befindet sich ein Körper an seinem natürlichen Ort, so ist er bewegungslos, er ruht. Befindet er sich nicht an seinem natürlichen Ort, so ist er bestrebt, ihn in einer natürlichen, geradlinigen Auf- und Ab-Bewegung zu erreichen. Der natürliche Ort der Erde und des Wassers ist unten, wobei die Erde schwerer als Wasser ist. Der natürliche Ort der leichten Körper ist oben, wobei Feuer leichter ist als Luft. Diese Axiome entsprachen der Alltagserfahrung. Ein schwerer Körper fällt nach unten in Richtung auf den Erdmittelpunkt, eine offene Flamme strebt nach oben.
Die geradlinig natürliche Bewegung reicht nun aber nicht aus, um auch die Bewegung der Himmelskörper zu beschreiben. Aristoteles nahm daher an, dass es noch eine zweite natürliche Bewegung, die kreisförmige, gibt. Die kugelförmigen Himmelskörper, die Planeten und die Fixsterne, bewegen sich, nach Aristoteles, auf vollkommenen Bahnen, auf Kreisen, von denen er sagt: „Die kreisförmige Ortsbewegung muss notwendigerweise auch die ursprüngliche sein. Denn das Vollkommene ist von Natur ursprünglicher als das Unvollkommene und der Kreis gehört zu den vollkommenen Dingen“.
Aristoteles betrachtete die Bewegung der Himmelskörper als gleichförmig, weil die Entfernung zu ihrem natürlichen Ort, der Kreisbahn, stets Null bleibt. Irdische und kosmische Bewegungen sind damit streng voneinander getrennt. Für die irdische Physik wird gefordert, dass ein Körper, auf den keine Kräfte wirken, in Ruhe verharrt, während sich ein himmlischer Körperkräftefrei auf einer Kreisbahn bewegt. Das geozentrische Weltbild des Aristoteles trennt Himmel und Erde, Die ewigen und unveränderlichen Himmelskörper sind an kristallenen Sphären befestigt und bewegen sich mit ihnen auf ihren natürlichen kreisförmigen Bahnen. Die äußerste Sphäre, die das Universum begrenzt, trägt die Fixsterne. Die inneren Sphären tragen die sieben Planeten: Saturn, Jupiter, Mars, Sonne, Venus, Merkur bis herab zum Mond. Unterhalb des Mondes befindet sich die irdische Welt, gleichfalls konzentrisch angeordnet. Im Innersten die ruhende, kugelförmige Erde; nach außen folgen Wasser, Luft und Feuer. Für Aristoteles war der Kosmos zeitlich unvergänglich und räumlich endlich, ein konzentrisches Universum mit der ruhenden Erde als Mittelpunkt einer irdischen und einer himmlischen Sphäre. In dieser Wertordnung von höheren und niederen Sphären konnte es keine einheitliche Physik geben. Irdische und himmlische Vorgänge waren qualitativ nicht miteinander vergleichbar.
Als Vorstufe zu einer einheitlichen Physik verband Ptolemäus (83–161) in seiner auf dem Weltbild des Aristoteles fußenden Planetentheorie Erde und Sphären durch eine einheitliche Geometrie. Das ptolemäische Weltsystem war der gelungene Versuch einer mathematischen Synthese, in der die damals bekannten astronomischen Beobachtungen mit dem Ideal der natürlichen kreisförmigen Bewegung der Himmelskörper verknüpft wurden.
Der Augenschein lehrt uns, dass die Erde ruht und die auf der Himmelskugel fixierten Sterne einmal in 24 Stunden die Erde umrunden. Mond, Sonne und die Wandelsterne, d.h. die Planeten Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn, halten sich nicht an diese Regel. Die Sonne benötigt für einen Umlauf ein Jahr, der Mond einen Monat und der Mars 1,9 Jahre. Die Planeten bewegen sich auf einem Kreis entlang der Himmelskugel, dem Tierkreis, der Ekliptik, mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten von West nach Ost.
Aus der Antike übernahm die christliche Lehre die aristotelische Naturphilosophie und die geometrisch-kinematische Astronomie des Ptolemäus. Sein geozentrisches Weltbild stimmte mit den astronomischen Beobachtungen jener Zeit überein, und es ließ sich dem Text der Bibel anpassen. Die Welt sei, so lehrt die Bibel, unveränderlich und endlich in der Zeit. Sie dauert vom ersten Tag der Schöpfung bis zum jüngsten Tag, dem des Gerichts. Der unveränderliche und zeitlich unendliche Kosmos der Antike wurde durch die Lehre von der endlichen Dauer der Welt ersetzt. Das christliche Mittelalter übernahm auch die Lehre von der räumlich endlichen Welt. Auf der im Zentrum der Welt ruhenden Erde vollzieht sich das Geschick der Menschheit, während die himmlischen Sphären – gleichfalls Gottes Schöpfungen – ihm näher sind. Sein Sitz ist jenseits der Fixsternsphäre, im Epyreum, und damit außerhalb des endlichen Raumes, denn, so lehrt das kirchliche Dogma, Gottes Wesen ist grenzenlos in Raum und Zeit.
In den ersten Jahrhunderten des 2. Jahrtausends u.Z. begannen sich im Schoße des Feudalismus neue Formen des Handels und des Geldverkehrs zuentwickeln, deren Zentren die Städte und deren Träger das Bürgertum waren. Mit der wachsenden ökonomischen Stärke der Kaufleute, Geldverleiher und Handwerker wuchsen das Selbstvertrauen der Bürger und damit auch ihr Herrschaftsanspruch gegenüber Feudaladel und Klerus. Sie fühlten sich verantwortlich für die Gestaltung dieser Welt, mithin für deren Veränderung. Diese Steigerung des Lebensgefühls fand ihren künstlerischen Ausdruck in einer Renaissance der Antike. Auch Philosophie und Wissenschaft griffen in ihrer Auseinandersetzung mit der Scholastik auf die vorhandenen antiken Quellen zurück. An die Stelle eines demütigen und gläubigen Menschen trat als neues Ideal ein die Natur erkennender und umgestaltender Prometheus.
Im Mittelalter waren die aristotelische Naturphilosophie und die ptolemäische Astronomie zum Dogma geworden. Mit dem kopernikanischen Weltsystem begann die erste wissenschaftliche Revolution. Im Weltbild des Nikolaus Kopernikus (1473–1543) ruht die Sonne im Mittelpunkt des Systems. Sie ist der beherrschende Weltkörper. Die Erde, ein rotierender Planet wie andere, umläuft die Sonne in einem Jahr. Der Mond, ein Erdtrabant, umkreist diese innerhalb eines Monats. Die fünf Planeten umlaufen die Sonne. Merkur und Venus auf Bahnen, die der Sonne näher sind als die Erde, Mars, Jupiter und Saturn auf sonnenfernen Bahnen. Mit dem heliozentrischen Weltsystem des Kopernikus wurde das Dogma vom Unterschied zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Erde und Himmel in Frage gestellt. Wenn die kreisende Erde ein Planet unter anderen ist, muss auch die Sonderstellung der Menschheit in Zweifel gezogen werden. Darin lag die große weltanschauliche Bedeutung des kopernikanischen Weltbildes.
Vor 400 Jahren veröffentlichte der Astronom Johannes Kepler (1571–1632) sein Buch „Astronomia Nova“ über die Gesetze der Planetenbewegung. Im gleichen Jahr richtete der Physiker Galileo Galilei (1564–1642) ein Fernrohr in den Himmel.
Die Arbeiten Keplers über die Bewegung der Planeten und die Galileis über das physikalische Experiment und die mathematische Formulierbarkeit physikalischer Gesetze ergänzten einander und vertieften die Einsicht in die materielle Einheit der Welt und die Erkennbarkeit der in ihr wirkenden objektiven Naturgesetze. Sie führten zu einem erneuten Wandel in der Subjekt-Objekt-Beziehung.
Ausgehend vom heliozentrischen System, gelangte Kepler zu zwei Bewegungsgesetzen, die eine gute Wiedergabe der Beobachtungen erlauben:
• Die Bahn des Mars ist kein Kreis, sondern eine Ellipse, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht;
• Die Verbindungslinie Sonne-Mars überstreicht in gleichen Zeiten gleiche Flächen.
Diese beiden Keplerschen Gesetze brachen endgültig mit den antiken Überlieferungen. Die Bewegung der Planeten erfolgt nicht gleichförmig auf den idealen natürlichen Kreisbahnen des Aristoteles, sondern auf Ellipsen mitwechselnden Geschwindigkeiten. Mit dieser mathematischen Beschreibung der Bewegung der Himmelskörper tat Kepler einen entscheidenden Schritt,um Himmel und Erde unter der Herrschaft einheitlicher physikalischer Gesetze zusammenzufassen. Grundlage seiner Überlegungen war die Forderung nach mathematischer Einfachheit und guter Übereinstimmung mit den Beobachtungen – Prinzipien, die auch heute noch Grundlage jeder exakten Naturwissenschaft sind.
1609 erfuhr Galilei von der Erfindung des Fernrohrs. Dieses, unser beobachtbares Umfeld entscheidend erweiternde Instrument war ihm wichtig genug, um mathematische Untersuchungen zur Fallbewegung zeitweilig zuunterbrechen und ein selbstgebautes Fernrohr auf den Himmel zu richten. Ersah als erster Naturforscher die Gebirge des Mondes, die Flecken der Sonne und die Monde des Jupiters. Die Himmelskörper zeigten sich Galileis Blicken nicht als ideale mathematische Körper, die aus einem besonderen himmlischen Stoff bestehen, sondern als strukturierte Gebilde, die Ähnlichkeiten zur Erde aufwiesen. Auch diese Beobachtungen unterstützten die vom heliozentrischen Weltsystem geforderte Erkenntnis der naturgesetzlichen Einheit von Himmel und Erde.
Galilei, ein gleichermaßen bedeutender physikalischer Denker wie Experimentator, erkannte, dass nicht nur das Naturgeschehen am Himmel, sondern auch jenes auf der Erde durch mathematisch fundierte Gesetze beschreibbar ist und Vorhersagen dieser Gesetze im Experiment verifizierbar sind. Seit derZeit Galileis wurde diese Methode des wissenschaftlichen Denkens und Ar-beitens, der Verknüpfung von Experiment und Mathematik, zur beherrschenden Forschungsmethode der Physik, die in den zurückliegenden Jahrzehnten auch zunehmend in andere Wissenschaften eindrang. Durch Galilei wurden Spekulationen zu mathematisch fassbaren Naturgesetzen und Beobachtungen wurden durch zielgerichtete Experimente ergänzt.
Krönender Abschluss der ersten wissenschaftlichen Revolution war die Aufstellung einer einheitlichen Dynamik himmlischer und irdischer Körper durch Isaac Newton (1643–1727). Sie war die erste geschlossene Theorie mechanischer Bewegungen, die wir als die klassische Mechanik bezeichnen und die Himmel und Erde denselben Naturgesetzen unterwirft. Die zusammenfassende Darstellung der klassischen Mechanik veröffentlichte Newton 1687 in den Mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie. Nach Newton erhebt ein grundlegendes physikalisches Naturgesetz, häufig ein Axiom, keinen Gewissheitsanspruch. Es ist aber in seinen Konsequenzen einer experimentellen Überprüfung zugänglich. Letztlich entscheidet stets die Praxis – Experiment und Beobachtung – über den Wahrheitsgehalt eines Axioms. Die Physik fordert als Voraussetzung die Gültigkeit allgemeiner Naturgesetze, die Jahrmilliarden unverändert gelten.
Newtons Prinzipien wurden zu einem der bedeutendsten Bücher der Naturgeschichte. Seit Newton gilt ein Naturgeschehen als geklärt, wenn es sich letztlich auf einen Bewegungsablauf von Körpern zurückführen lässt, die den Newtonschen Begriffen und Axiomen gehorchen. Mit der gleichen Entschiedenheit, mit der die Scholastiker des Mittelalters den Gedanken des Aristoteles folgten, vertraten die Wissenschaftler des 18. und 19. Jahrhunderts die Newtonschen Ideen. Nur in dem Maße, in dem es ihnen gelang, Naturerscheinungen mittels mechanischer Modelle zu beschreiben, war die Physik Wissenschaft. Die Natur wurde als eine große Maschine betrachtet, die den Gesetzen der klassischen Mechanik gehorchte.
Charakteristisch für die moderne Physik seit Galilei und Newton ist die Einheit des experimentellen und theoretisch-mathematischen Vorgehens. Das fruchtbare Wechselspiel zwischen mathematisch formulierten Theorien, experimentellen Untersuchungen und letztlich technischen Anwendungen führte zu einem beeindruckenden Zuwachs an Erkenntnissen in den Naturwissenschaften.
Messungen und Beobachtungen für sich genommen sind in der Regel bedeutungslos. Die Theorie sagt uns, was gemessen und beobachtet worden ist und wie die experimentellen Daten zu interpretieren sind. Charakteristisch für eine physikalische Theorie ist die Einheit von physikalischen Aussagen und mathematischen Algorithmen. Ohne inhaltliche physikalische Aussagen, die experimentell überprüfbar sind, ist eine Theorie ein bloßes mathematisches Gerüst. Ebenso wenig ist eine physikalische Datensammlung eine Theorie. Erst die mathematisch formulierte Theorie liefert uns eine Erklärung der Naturerscheinungen und erlaubt Voraussagen. Abgeschlossene Theorien, wie etwa die klassische Newtonsche Mechanik, beschreiben einen großen Erfahrungsbereich. Für jeden Bereich gibt es ein exakt formuliertes System von Begriffen und Grundgesetzen, dessen mathematische Konsequenzen offenbar streng gültig sind, solange wir innerhalb des Erfahrungsbereichs bleiben. Die Theorie verbindet viele Erscheinungen und Beobachtungen und führt sie auf eine einfache Wurzel zurück. Die Gefahr eines Irrtums erweist sich als umso geringer, je umfangreicher und vielfältiger die Erscheinungen sind und je einfacher das ihnen gemeinsame Prinzip ist, auf das sie zurückgeführt werden können. Unsere Erfahrung ist, dass die Einfachheit der Naturgesetze einen objektiven Charakter besitzt. Einfachheit ist nicht im Sinne von Simplizität, sondern im wörtlichen Sinne zu verstehen. Bisher getrennte Gebiete ordnen sich in „ein Fach“. So erlaubte die von Newton formulierte Theorie gleichermaßen die Beschreibung irdischer und himmlischer Bewegungsvorgänge. Charakteristisch für jede physikalische Theorie ist ihr begrenzter Gültigkeitsbereich, den wir erst in einer umfassenderen Theorie zu erkennen vermögen. Keine Theorie vermag ihren eigenen Gültigkeitsbereich anzugeben. Durch die Arbeit Albert Einsteins über die spezielle Relativitätstheorie, die er am Anfang des 20. Jahrhunderts formulierte, wissen wir, dass sich Newtons klassische Mechanik auf bewegte Körper beschränkt, deren Geschwindigkeiten gegenüber der Lichtgeschwindigkeit klein sind. Zum Ausgang des 20.Jahrhunderts begannen wir chaotische Bewegungsabläufe in mechanischen Systemen als nichtlineare Effekte zu verstehen und zu beschreiben. Die erwähnten Beispiele zeigen, dass die Grenzen des jeweils erreichten Erkenntnishorizonts immer dann sichtbar werden, wenn wir sie überschreiten.
Die Newtonsche Mechanik behandelt einen Erfahrungsbereich in bestimmten räumlichen Dimensionen, für den Energien weder allzu groß noch allzu klein sind und bei dem die auftretenden Geschwindigkeiten von der Lichtgeschwindigkeit weit entfernt liegen. Die Überzeugung von der Allgemeingültigkeit dieser Erfahrung wurde vor allem dadurch bestärkt, dass sie der sinnlichen Wahrnehmung des Menschen entspricht. Die Illusion der klassischen Physik bestand darin, dass alle Gesetzmäßigkeiten und Begriffe auch außerhalb der menschlichen Erfahrungswelt uneingeschränkt gelten.
Charakteristisch für das einheitliche Weltbild der klassischen Physik war die Vorstellung, dass auch das Nichtschaubare, wie etwa das Atom, nach dem Bild des Anschaubaren erklärt werden kann. Jede nicht wahrnehmbare Erscheinung galt als ausreichend erklärt, wenn sie sich auf ein Modell nach dem Muster des sinnlich Wahrnehmbaren zurückführen ließ.
Der Begriff des Atoms kam aus der antiken Philosophie, die die Atome als das eigentlich Seiende, als die unteilbaren, unveränderlichen Bausteine aller Materienformen ansah. Zur naturwissenschaftlichen Hypothese wurde der Atombegriff durch die quantitative Chemie und die Kristallographie des 18.und zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Mit der Atomhypothese ließ sich erklären, dass Verbindungen chemischer Elemente in festen Massenverhältnissen auftreten und Kristalle regelmäßige Formen haben. Für die klassische Physik zum Ende des 19. Jahrhunderts war das Atom ein real existierender, isolierter und unveränderlicher Baustein der Materie, eine Art winziger Billardball.
Erhitzt man chemische Elemente und untersucht ihre ausgesandte Strahlung, z.B. mittels eines Spektrometers, zeigt jedes Element ein charakteristisches Strahlungsspektrum. Anhand dieser Spektren entdeckten Chemiker des19. Jahrhunderts zahlreiche neue Elemente. Die Anwendung der Spektralanalyse auf Sonne und Sterne erbrachte einen neuen, vom Newtonschen Gravitationsgesetz unabhängigen Beweis von der Einheit des Universums. Irdische und himmlische Spektren wiesen auf das Vorhandensein der gleichen Elemente hin.
Die Entdeckung der Radioaktivität lehrte die Wissenschaftler, dass chemische Elemente umwandelbar sind. Ein schweres Element, wie das Uran, zerfällt spontan über eine Reihe radioaktiver Elemente zu Blei. Die Physiker kamen nicht umhin, die Vorstellung von den Atomen als letzten, nicht teilbaren Baustein der Elemente aufzugeben. Es entstand das Modell des strukturierten Atoms, aufgebaut aus einem winzigen, elektrisch positiv geladenen Atomkern, in dem nahezu die ganze Masse des Atoms konzentriert ist, umkreist von Elektronen, den elementaren Trägern negativer elektrischer Ladung.
Aber auch dieses, von der klassischen Physik geprägte Bild des Atoms als eines Planetensystems im Mikrokosmos musste aufgegeben werden. Erst durch die Quantentheorie gelang es, die Wirklichkeit der atomaren Welt auf qualitativ neue Art abzubilden.
Die in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts formulierte Quantentheorie ließ uns erkennen, dass es unmöglich ist, alle Begriffe, die in der klassischen Physik bei der wissenschaftlichen Erschließung unserer Umweltgeprägt wurden, uneingeschränkt im Bereich atomarer Vorgänge zu verwenden. Der Anwendung von Begriffen wie Ort und Geschwindigkeit sind in atomaren Dimensionen Grenzen gesetzt. Licht zeigt sich sowohl als Welle wie auch als Teilchen (Photon). Elektronen wirken als Teilchen wie auch als Welle z.B. im Elektronenmikroskop.
Wissenschaftliche Begriffe sind Idealisierungen experimenteller Erfahrungen. Präzise Definitionen sind stets mit mathematischen Schemata verknüpft. Ausgehend von einem Axiomssystem, lässt sich eine physikalische Theorie formulieren, die zu Vorhersagen bisher nicht erwarteter Effekte führt und die ihrerseits der Kritik durch das Experiment unterliegt. Naturwissenschaftliche Theorien beschreiben stets nur einen begrenzten Erfahrungsbereich. Es sollte daher nicht verwundern, dass auch die adäquaten Begriffe der Theorie nur dieser Teilwirklichkeit entsprechen. Jede erfolgreiche naturwissenschaftliche Theorie entschlüsselt einen Teil der Wirklichkeit. Ein wesentliches Charakteristikum jeder Theorie liegt in ihrer Fähigkeit, neue, bisher unerkannte Erscheinungen vorherzusagen. Ihr experimenteller Nachweis und die sich häufig daraus ergebenden Techniken sind es, die uns den Wahrheits- und Wirklichkeitsbezug einer Theorie sichern.
Objektive Analyse im Experiment und erkennende Synthese in der Theorie sind zwei bestimmende Pole bei der wissenschaftlichen Aneignung der Natur. Zwischen beiden haben Modelle eine heuristische Funktion. So erwies sich das Atommodell als ein Planetensystem im Mikrokosmos, als wichtige Etappe auf dem Weg zur Quantenmechanik. Neben dieser Funktion des Modells als Vorstufe einer Theorie nutzen Wissenschaftler Modelle, um komplexe Systeme zu beschreiben, die uns wegen ihrer Einmaligkeit nicht zugänglich sind, wie die Erde, oder wegen ihrer zeitlichen und räumlichen Entfernung, das Universum in seiner zeitlichen Entwicklung. Der Erkenntnisweg geht von der Theorie über die Modellierung eines Als-ob-Objekts zur Wirklichkeit.
Wie wir sahen, kennt die Wissenschaft keinen Stillstand und keine „ewigen Wahrheiten“. Der fortschreitende Prozess menschlichen Erkennens vom Geschehen in der Natur lässt uns in immer weiter entfernte Raum- und Zeitdimensionen im Mikro- und Makrokosmos eindringen.
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