Roman, 2009, 312 S., ISBN 978-3-89626-860-0, 17,80 EUR
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Soeben, notierte Goethe, fährt, beim klarsten Himmel, der treffliche Felix, nachdem er 14 Tage bei uns vergnüglich zugebracht und alles mit seiner vollendeten liebenswürdigen Kunst erbaut, um ein Andenken zurückzulassen, welches fortwährend hoch zu feiern ist.
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Inhaltsverzeichnis
Erstes Kapitel: Der
Geschwisterkongreß
7
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Till Sailer, Autor des Romans „In Liebe – Ihr Johannes Brahms“, entwirft in seinem neuen Buch ein vielschichtiges Bild von Leben und Persönlichkeit des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy. Im Mittelpunkt stehen die letzten drei Lebensjahre des Leipziger Gewandhauskapellmeisters und Schöpfers der Musik zu Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“. Das Verhältnis von Felix, „dem Glücklichen“, zu seiner Schwester, der Komponistin Fanny Hensel, wird dabei ebenso ausgeleuchtet wie die Beziehung zu Zeitgenossen wie Jenny Lind, Königin Victoria, Clara und Robert Schumann oder Richard Wagner. Mit dem frühen Tod schien ein unerhört arbeitsreiches Leben vor der Zeit abzubrechen. Doch sein Schaffen, gekrönt durch Werke wie das Violinkonzert, die „Italienische Sinfonie“ oder das Oratorium „Elias“, erwies sich als vollendetes Gesamtwerk. Schumann faßte sein Urteil in die Worte: Daß dieser Herrliche von der Erde mußte. Aber seine Sendung war erfüllt. |
Willkommen im Gewandhaus
Sommer/Herbst 1845
Die Mendelssohns kehrten Mitte August nach Leipzig zurück. Hier hatten sie schon
vorher einige gute Jahre gehabt. Mit Hilfe von Freunden gelang es Felix, eine
geeignete Wohnung nahe der Innenstadt zu finden. Sie lag in der Königstraße und
bestand aus acht Räumen in der Belétage. Die Zimmer mußten in aller Eile
eingerichtet werden, denn von allen Seiten kamen Forderungen. Felix hastete von
einem unaufschiebbaren Termin zum nächsten. Vorerst mußte Cécile in der
unwirtlichen Zimmerflucht meist allein zurechtkommen. Das blieb auch im
September so, als die Geburt ihres fünften Kindes näherrückte. Es war
unumgänglich, daß Felix auf Reisen ging und der Familie fernblieb. Zunächst
riefen ihn Verpflichtungen beim preußischen Hof nach Berlin, wo ihn die Proben
zum „Ödipus“ volle acht Tage beanspruchten. Dann, kaum wieder zu Hause, riefen
ihn Verpflichtungen beim sächsischen Hof nach Dresden, wo Herr von Falkenberg
die Anstellung in Leipzig mit ihm besprechen wollte. Schließlich stand die neue
Saison im Gewandhaus bevor. Die Konzertprogramme der nächsten Monate mußten
zusammengestellt, abgestimmt und einstudiert werden. An Komponieren war für
Wochen nicht zu denken.
Die meisten Freunde sahen Felix nur von Ferne. Und für die Begegnung mit engen
Vertrauten blieben nur Augenblicke. Doch ein Wiedersehen, so hatte er
beschlossen, sollte nicht unter Zeitnot leiden. Den Besuch bei Clara und Robert
Schumann in Dresden bereitete er mit aller Gründlichkeit vor. Für viele
überraschend, hatten Schumanns Leipzig im vergangenen Jahr verlassen und waren
nach Dresden übersiedelt. Robert, so hieß es, könne nicht verwinden, daß man ihn
bei der Wahl zum Gewandhauskapellmeister übergangen hatte. Ausgerechnet Niels W.
Gade war ihm vorgezogen worden. Dabei hatte Schumann den jungen Dänen in Leipzig
erst bekannt gemacht. Mit der Übersiedlung endete die Schumann’sche Mitarbeit an
der „Neuen Zeitschrift für Musik“. Gleichfalls lief seine Unterrichtstätigkeit
am Leipziger Konservatorium aus. Beides war für Leipzig ein herber Verlust.
Die Freundschaft mit Robert und die erfreuliche Beziehung zu Clara mochte Felix
auf keinen Fall missen. Deshalb verband er eine offizielle Visite am Hof in
Dresden mit einem Abstecher zur dortige Waisenhausstraße, wo das Ehepaar mit den
drei kleinen Mädchen vorläufig untergekommen war. Felix drängten auch aktuelle
Gründe zu dem Besuch. Denn für den Frühherbst suchte er händeringend nach
passenden Stücken für die neue Konzertsaison. Robert kam als Komponist genauso
in Frage wie Clara als Interpretin.
Schumanns Haushälterin erkannte Felix sofort wieder und begrüßte ihn als den
verehrten Herrn Kapellmeister aus Leipzig. Sie führte ihn ins Wohnzimmer und bat
ihn, dort zu warten. Der Raum wirkte wesentlich kleiner als der Salon in der
Leipziger Inselstraße. Ein Stoß Noten lag auf dem Flügel. Das ließ vermuten, daß
Clara hier übte. Sicher hatte Robert, wie in Leipzig, sein eigenes
Arbeitszimmer. Auf dem Tisch stand eine Vase mit Lilien, deren rotgetupfte weiße
Blüten bizarre Formen annahmen. Die Einrichtung wirkte provisorisch. Dabei lag
der Umzug schon ein gutes Jahr zurück. Das konnte mit der vorherigen
kräftezehrenden Konzertreise zusammenhängen, bei welcher Robert seine Frau durch
ganz Rußland begleitet hatte. Wie Felix wußte, war der Hausherr nach der
Heimkehr dauernd kränklich und fand nicht zur gewohnten Schaffenskraft.
Die Tür ging auf. Schumann trat ein und breitete die Arme aus.
Wenn Sie wüßten, sagte er überschwenglich, wie Sie mir gefehlt haben!
Felix erschrak über sein Aussehen. Das vergangene Jahr hatte deutliche Spuren
hinterlassen. Er war fülliger geworden, dennoch wirkte seine Gesichtshaut
schlaff. Manchmal zuckten die Augenlider. Dem Lächeln haftete, so schien es, ein
Leidenszug an. Schumann bestätigte den Eindruck, indem er lang und breit über
diverse Krankheiten sprach. Er klagte über die Strapazen in Rußland und den
schwierigen Neuanfang in Dresden.
Als würde er sich selbst zur Ordnung rufen, erklärte er dann auf einmal, sie
hätten bei der Rußlandreise auch Erhebendes erlebt. Gewiß, sagte er, erinnern
Sie sich an den jungen Henselt, der hier vor Jahren plötzlich von der Bildfläche
verschwand. Wir trafen ihn als einflußreichen Musikpädagogen in Petersburg, wo
er systematisch das russische Musikleben reformiert. Interessanter Mann! fügte
er kopfnickend hinzu, indem er seinen Stuhl näherrückte.
Felix gefiel es, daß der Freund gleich zu Beginn seine schönste Gabe einbrachte,
die Begeisterung für das Talent anderer. Schumann galt für viele als begnadeter
Musikschriftsteller. In der „Neuen Zeitschrift für Musik“ hatte er Weitblick
bewiesen und einige Größen der gegenwärtigen Musik entdeckt. Seine Artikel über
Chopin, Berlioz, Liszt oder auch über Felix selbst waren literarische
Meisterstücke. Umso mehr bedauerte der Gast, daß die Zeitschrift stillschweigend
auf ihn verzichtete. Anders als einige Zeitgenossen hatte Felix die immense
musikalische Begabung des Freundes nie bezweifelt. Dessen Art zu komponieren war
anders als seine eigene. Aber es war eine Art, die er mochte. Besonders
imponierten ihm seine Lieder und die Auswahl der Texte. Auch er zählte Goethe,
Eichendorff und Heine zu den wichtigsten Dichtern der Epoche.
Ich sage es rund heraus, erklärte Felix unvermittelt. Ich brauche Ihre Hilfe.
Niemand kennt den Geschmack der Leipziger besser als sie. Und in einem weiß ich
mich mit Ihnen einig: im Kampf wider die Philister der Musik. Ich möchte nur
aufführen, was das Publikum anrührt. Die Stücke sollen das Orchester erziehen,
dürfen meinem Geschmack aber nicht widerstreben.
Schumann setzte zu einer der gefühlvollen Umarmungen an, die Felix insgeheim
fürchtete. Durch ein bezauberndes Lächeln konnte er den Freund gerade noch
bremsen.
Ich wußte es schon immer, lieber Meritis, sagte Schumann, wir sind Brüder im
Geiste. Ich bewundere nicht nur Ihr eigenes Werk über alles …
Felix räusperte sich.
Pardon, ich lobe nun mal gern, was lobenswert ist. Wie gesagt, nicht nur Ihr
eigenes Werk bewundere ich, sondern auch Ihr respektvolles Bewahren jener
Meister, die vorangingen und uns den Weg ebneten. Beides zusammen macht mir
unsre Freundschaft so wertvoll.
Felix hob ein wenig die Hand und gab damit zu erkennen, daß er seine Bewunderung
nur in kleinen Dosen vertrug.
Nein, sagte Schumann trotz der abwehrenden Geste. Was Sie für Bach getan haben,
das wird über Jahrhunderte unvergessen sein. Sie haben sich mit dem Leipziger
Bachdenkmal selbst das schönste Denkmal gesetzt.
Wie gesagt, meinte Felix betont sachlich, ich brauche Zugstücke für das nächste
Halbjahr. Ich denke etwa an eine Ihrer Sinfonien. Während er das sagte, fiel ihm
ein, daß Schumann vor kurzem selbst die Gewandhausdirektion angestrebt hatte.
Was würden Sie spielen, fragte er, wenn Sie an meiner Stelle wären?
Für einen Augenblick verstärkte sich der Leidenszug in Schumanns Gesicht. Sicher
wurde er nicht gern an die Schmach des Übergangenwerdens erinnert. Doch, und das
war typisch für ihn, er lobte die Fähigkeiten seines Konkurrenten. Gades
Programme würden in die richtige Richtung zeigen. Beethoven und Mozart, meinte
er, sind das Fundament, daneben Weber und Spohr. Von den Neuen würde ich,
pardon, Mendelssohn und Schumann empfehlen, dazu Berlioz, Liszt, Hiller und … Er
zögerte. Vielleicht spielen sie auch etwas von Richard Wagner. Er sorgt hier in
Dresden für viel Wirbel.
Bei den letzten Worten mochte Felix sein Gesicht nicht recht unter Kontrolle
gehabt haben. Jedenfalls lachte Schumann herzlich auf und meinte, der Gast sähe
aus, als hätte er eine bittere Medizin geschluckt. Ich verstehe, daß Sie ihn
nicht mögen, sagte er und fügte hinzu: diesen stadtbekannten Judenfeind.
Felix hielt den Atem an. Durch seinen Körper ging ein Ruck. Bisher hatte
Schumann sein Judentum noch nie erwähnt.
Stadtbekannt? fragte er leise und sah auf die gierig züngelnden Lilienblüten.
Mir begegnet Herr Wagner stets mit ausgesuchter Höflichkeit. Allerdings, gestand
er, ist mir seine Musik nicht geheuer. Ja, dieser Mensch ängstigt mich beinahe.
Schumann bestätigte den Eindruck. Sie sagen, es macht einem Angst. Hier wird
gerade die Uraufführung des „Tannhäuser“ vorbereitet. Ich habe ein riesiges
Notenpaket in meinem Arbeitszimmer. Doch solange es nicht durchgesehen ist, muß
ich schweigen. Man ist in Dresden sehr in Zwiespalt über den Kapellmeister
Wagner. Wir sehen uns einmal im Monat in einer Künstlerrunde.
Sie meinten, er sei ein stadtbekannter …?
Judenfeind, ergänzte Schumann. Ganz ohne Zweifel.
Doch, begehrte Felix auf, er lobte in meinem Beisein lauthals den Juden
Meyerbeer.
Er redet, wie es ihm gerade einfällt, antwortete Schumann.
Der Stoff zum „Fliegenden Holländer“, setzte Felix neu an, stammt von Heine,
einem angeheirateten Verwandten von mir.
Ich weiß, antwortete Schumann. Er bedient sich bei denen, die er diffamiert. Das
erscheint mir besonders infam. Doch, lieber Mendelssohn, mir kommt da eine
treffliche Idee. Er ging zum Flügel und holte einen Klavierauszug, der
aufgeschlagen auf dem Pult lag.
Felix sog den betörenden Duft der Lilienblüten ein. Es schien ihm so, als
bestehe eine geheime Verbindung zwischen diesem Geruch und dem überaus
freundlichen Auftreten des erwähnten Kollegen. Es war nie die ganze Wahrheit,
die ein freundliches Gesicht offenbarte. Das wußte er eigentlich. Und trotzdem
war er zutiefst enttäuscht, wie immer, wenn er hinter wohlwollender Fassade
Feindschaft entdeckte. Er blätterte mechanisch in dem Klavierauszug, den Robert
ihm gereicht hatte.
Was ist das?
Das übt derzeit meine Frau, erklärte Schumann. Es ist ein Klavierkonzert von
Adolph Henselt. Dr. Härtel hat es vor Jahren herausgebracht.
Felix nahm die Noten und legte sie auf das Pult zurück. Er fingerte den Anfang
durch, las sich fest und spielte dann das erste Solo. Es klang so, wie er
Henselt kannte, ohne Pomp und ohne falsches Pathos. Es war musikalische
Liebenswürdigkeit mit soliden Mitteln.
Sympathisch, meinte er, und spielte weiter.
Das glaub’ ich einfach nicht! kam es auf einmal von der Tür. Clara, die
unbemerkt eingetreten war, staunte über die schnelle Auffassungsgabe des Gastes.
Da übt man sich die Finger wund, sagte sie näherkommend, und Monsieur entlocken
es mühelos den Tasten.
Felix stand auf, und es ergab sich, daß sie einander umarmten. Dabei fühlte er,
was ihre Kleidung verbarg. Sie war erneut schwanger. Dabei hatte ihn die
Geburtsanzeige der dritten Tochter erst vor einem halben Jahr erreicht.
Lassen Sie sich anschauen, sagte er charmant. Mit berühmten Frauen hatte er
gewöhnlich Schwierigkeiten, doch Clara war eine Ausnahme. Sie wirkte auf ihn wie
ein Glas Champagner.
Ein Bild von einer Frau, meinte er.
Ein Gentleman von Kopf bis Fuß, erwiderte sie.
Er berichtete kurz vom Zustand seiner Frau. Dann fragte er nach seinem
Patenkind, das, wie seine eigene Tochter, Marie hieß. Die älteste
Schumanntochter war ein Liebling der Eltern, was die freudige Antwort erneut
bezeugte.
Hat Robert von seinem Klavierkonzert erzählt? wollte Clara wissen.
Felix war verwundert. Von manchem hatte man gesprochen, doch nicht von Schumanns
Schaffen. Er schüttelte den Kopf.
Das sieht ihm ähnlich, sagte sie. Bescheidenheit läßt sich auch übertreiben.
Liebes, besänftigte Robert seine Frau, es gab keine Gelegenheit.
Sein Klavierkonzert ist fertig, erklärte sie. Die Konzertphantasie, die wir
seinerzeit aufführten, hat er durch zwei Sätze ergänzt. So wie Sie es damals
vorschlugen.
Schumann war verlegen. Wie hätte das ausgesehen, fragte er, wenn ich mit der Tür
ins Haus gefallen wäre?
Es ist, setzte sie fort, ein außerordentliches Werk. Lassen Sie uns den
Mittelteil spielen.
Sie steuerte auf den Flügel zu und bat ihren Mann, noch einen Stuhl zu holen.
Schumann setzte sich zum Umblättern neben die beiden Spieler. Nun begann etwas,
das Felix ans Herz griff. Fast gleichzeitig mit seinem Violinkonzert, aber
unabhängig davon, war etwas Vergleichbares entstanden, eine Musik von größter
Intensität, Sanftheit und Eigentümlichkeit. Es wirkte wie ein Geschwisterwerk,
das ihm auf seltsame Weise bekannt vorkam. Es war so, als hätte er davon
geträumt. Er, der meist nicht viele Worte machte, hätte seiner Begeisterung gern
freien Lauf gelassen. Nur die ständige Angst, er könne mit der widerspenstigen
Zunge in Konflikt kommen, hielt ihn zurück. Ihn begeisterte das Stück, aber auch
der unverwechselbare Klang, den Clara jedem Klavier entlocken konnte. Er war
verzaubert. Alles rundum versank. Es blieb nur diese fein ziselierte Musik, die
gelegentlich mit typisch Schumann’schem Schwung vorwärts drängte.
Bei Felix drückte sich Hochachtung weniger in Worten, als in Taten aus.
Das müssen wir unbedingt aufführen, sagte er am Schluß hastig. Dabei unterlief
ihm jenes Zischeln, das seine Erregung verriet. Sobald die Stimmen
ausgeschrieben sind, meinte er, führen wir das Stück in Leipzig auf.
Die Uraufführung ist vergeben, wandte Clara ein. Es klang nach Bedauern. Anfang
Dezember macht Hiller hier in Dresden die Premiere. Wir wußten ja lange nicht,
was mit Ihnen wird.
Bis zum Sommer wußte ich es selbst nicht, erwiderte Felix lachend. Er prüfte in
Gedanken den Konzertplan. Für Anfang Dezember hatte er Jenny Lind eingeladen. Da
ging es nicht. Er überlegte. Richtig, der Jahreswechsel war noch frei.
Wir geben es Neujahr im Gewandhaus, verkündete er.
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