Erzählungen, 2008, 194 S., ISBN 978-3-89626-824-2, 12,80 EUR
Genießen Sie die Momente, in denen liebenswerte Charaktere mit Spaß und auch Übermut aufeinander zugehen, mit Witz und Charme, mit Freude und Energie ihren „Spätherbst“ meistern. Haben Sie dieses Buch gelesen, wird es im Alter nicht still um Sie sein … |
KINDERSTREICHE
Noch einmal vor Angst zittern, im Bauch das Kribbeln spüren.
Voller Übermut erleben Bernhard, Artur und Hans
im Urlaub Streiche ihrer Kinderzeit neu.
„Nun strengt euch an. Die paar Meter schafft ihr noch“, treibt sie Bernhard an.
„Hast du uns hier umsonst hochgetrieben, dann zahlst du jede Runde. Man merkt
gleich, dass du auf dem Bau Antreiber warst“, stöhnt Artur.
„Vorwärts mit euch. Außerdem habe ich nicht angetrieben, ich trug die
Verantwortung für alles. Wie auch jetzt hier bei euch, ihr lahmen Säcke.“
„Wie du das auch immer nennst, deine Leute haben sicherlich unter dir gelitten“,
lässt Artur nicht locker.
„Wenn ihr nicht gleich oben seid, dann leidet ihr.“
Hans und Artur kämpfen mit dem Aufstieg und gegen ihre Lungen. Bernhard treibt
sie vor sich her. Noch etwa 60 Meter. Dann ist es geschafft. „Nicht schlapp
machen. Zeigt, dass ihr noch Mumm in den Knochen habt.“
Artur ist der erste, der oben ankommt. Den Oberkörper nach vorne gebeugt, holt
er mehrmals tief Luft. Nur langsam kommt er wieder zu Atem. Er richtet sich auf
und schaut staunend über das Dorf hinaus auf das Meer. Nie hat er diesen
Ausblick vermutet.
Bernhard schiebt Hans die letzten Meter. „Du sollst nicht jeden Tag eine
Schachtel rauchen. Die halbe würde es fürs erste auch tun.“
„Ich rauche keine Schachtel. Ich stecke mir Zigaretten an. Auch du als
Nichtraucher müsstest das schon einmal gesehen haben“, versucht Hans zu witzeln.
Doch das Panorama lässt auch ihn verstummen. Traumhaft die Aussicht. Die
Morgensonne umschmeichelt die Berge, hat das weite Meer erfasst und lässt die
Wellen glänzen. Der Himmel zeigt sein Sonntagsblau. Mit aller Kraft saugen drei
Körper klare Luft in sich ein. Kein Mosern ist mehr zu hören. Drei Männer um die
Fünfundsechzig fühlen sich so jung wie lange nicht mehr. Sie stellen sich mit
ihren Rücken aneinander zum Dreieck auf und bewegen sich im Takt eines
Sekundenzeigers im Kreis. Sie können sich nicht satt sehen.
Schließlich unterbricht Artur die Stille: „Bernhard, heute übernehme ich
freiwillig deine Rechnung. Ich danke dir. Ich glaube, ich fahr nie wieder weg.“
Bernhard fühlt sich geschmeichelt. „Und du, Hans? Du sagst ja gar nichts. Lebst
du noch?“
„Stört mich nicht. Ich genieße“, antwortet dieser. „Hätte ich gewusst, dass
deine Insel so schön ist, ich wäre längst hierher gefahren.“
Bernhard freut sich über die gelungene Überraschung. Die Stimmen der Männer
gleiten den Abhang hinunter, um sich kurz vor der Dorfstraße zu erheben und mit
den Wellen hinaus auf das Meer und doch wieder zurück ans Ufer getragen zu
werden. Die drei beschließen, jeden Tag hier hinauf zu steigen.
„Jetzt habe ich Hunger“, meldet sich Hans zu Wort.
„Du solltest auf deine Fettpolster achten“, spottet Artur.
„Mach ich doch. Die brauchen ihre täglichen Kalorien. Wo gibt es hier etwas zu
essen? Ich sehe keine Imbissbude, keinen Dönerstand, auch keinen Kiosk.“
„Schäm dich. Hier ein Fressstand und die Romantik wäre futsch“, belehrt Bernhard
ihn.
„Du hast aber zugesichert, für unser Leib und Wohl zu sorgen. Wir sind nicht den
Berg hochgekrabbelt, um elendig zu verhungern.“
Die Stimmung droht zu kippen. „Nun reiß dich zusammen“, fordert Bernhard von
Hans. „Du bekommst ja gleich was. Wir steigen da hinab und gehen in das Dorf
dort unten.“ Mehr von Durst als von Hunger getrieben, machen sich die Männer an
den Abstieg.
Sie betreten das Dorfrestaurant. Doch bevor Artur und Hans einen Blick in die
Speisekarte werfen, bestimmt Bernhard, dass Fisch im Norden Pflicht sei. „Steak,
Geflügel, Bouletten bekommen wir überall. Auf fangfrischen Fisch sollten wir
nicht verzichten.“
Bernhard übernimmt auch schon die Bestellung. Wenig später serviert der Kellner
eine Fischplatte, die es in sich hat. Aal und Hornfisch, auf den Punkt gebraten,
dazu Bratkartoffeln.
„Was ist das? Grüne Gräten? Wie haben sie die denn gefärbt?“, fragt Hans
ungläubig.
„Du Tropf, du. Das ist Hornfisch“, doziert Bernhard. „Dessen Gräten sind nun mal
grün. Du sollst sie ja nicht mitessen. Außerdem sind sie völlig unschädlich. Der
Hornfisch kommt nur jetzt in die Ostsee, um hier zu laichen. Sonst schwimmt er
im Atlantik und im Mittelmeer. Sein Fleisch schmeckt hervorragend, es ist weiß
und fest. Probier es einfach.“
Nichts bleibt auf dem Teller zurück. Das kühle Bier rundet das Mahl ab. Die drei
lecken sich im wahrsten Sinne des Wortes die Finger.
Der Ober kommt zum Abräumen.
„Wo haben Sie denn diesen Fisch her?“, will Hans von ihm wissen.
Der Ober stutzt. Die Frage irritiert ihn.
„Wundern Sie sich nicht über die Frage meines Freundes“, versucht Bernhard, die
ihm peinliche Situation zu retten. „Er kommt aus der Großstadt.“
„Der wurde heute morgen an Land gebracht.“
„Heute morgen? Wann haben die Fischer ihn denn gefangen?“
Und wieder das erstaunte Gesicht des Obers. „Na, letzte Nacht.“
Artur und Hans schauen sich an und nicken anerkennend. „Bitte noch drei große
Bier und dann die Rechnung.“ Wieder ist es Bernhard, der von der Fragerei seines
Freundes ablenken will.
„Gerne.“
„Wisst ihr, was ich hier im Restaurant auch genieße?“, beginnt Artur zu
erzählen, „dass keine Löffelmusik gespielt wird. In fast allen Gaststätten läuft
sie. Und dann die Leute, die, bevor auch nur ein Lied beendet ist, ihr Essen
bereits heruntergeschlungen haben.“
„Und zu Hause hast du in der selben Zeit schon abgewaschen. Wir kennen dich“,
fällt Hans lachend ein.
„Ja, stimmt. Ich esse ziemlich schnell. Obwohl ich Knast schieben gar nicht
kenne. Seit ich denken kann, war mein Teller immer als erster leergegessen. Oft
hörte ich dieses ‚Iss langsam!‘ Doch nur selten nahm ich mir die Zeit. Jetzt
halte ich schon mal beim Schlucken inne. Der Geschmack, der sich über Zunge und
Gaumen ausbreitet, ist ein wahrer Genuss. Essen kann so schön sein.“
„Ja, Artur. Besonders im Alter. Daher nämlich der Spruch ‚Das Essen ist der Sex
im Alter.‘“ Hans ist nicht zu bremsen.
Doch Artur nimmt es sportlich. „Witzig. Egal, da ich nun verstehe zu essen,
werde ich nicht sexlos sterben.“
Es ist Zeit aufzubrechen. Zurück nehmen sie die Straße. Mit vollen Bäuchen über
die Berge, das muten sie sich nicht zu. Der Weg ist weit, aber eben.
„Wartet mal, die Blase drückt. Ich muss pinkeln.“ Da es den beiden anderen auch
so geht wie Artur, hat Hans eine Idee: „Früher haben wir Weitpinkeln gemacht.
Los jetzt, zeigen wir, dass wir Männer sind.“
Sie stellen sich neben einander am Straßenrand auf und pinkeln auf Kommando auf
die Fahrbahn. Artur siegt. Während Bernhard zweiter wird, tröpfelt es bei Hans
immer noch.
„Na, die Prostata ist wohl schon ziemlich groß. Du solltest unbedingt zum Arzt
gehen“, kann sich Artur nicht verkneifen zu sagen.
„War ich längst.“
„Und?“
„Ist vergrößert.“
“Und, was wird dagegen gemacht?“
„Nichts. Ich geh nicht mehr hin.“
Artur und Bernhard schauen ihn fragend an. „Mit heruntergelassenen Hosen lag ich
im Behandlungsraum, kam doch in dem Augenblick die Schwester herein, um dem Arzt
irgendwelche wichtigen Unterlagen zu reichen.“
„Na und? Tu nicht so, als hätte es dich ernsthaft gestört.“
„Und nach der Ultraschalluntersuchung sagte der Arzt zu mir, dass ich jetzt eine
Belohnung bekäme. Ich musste mich vor die Liege stellen, vorn überbeugen und wie
zum Stuhlgang drücken. Während er mit dem Finger die Prostata abtastete, fragte
ich mich, wo hier die Belohnung sei.“
„Das ist unser Schicksal“, seufzt Bernhard. „Einmal im Jahr kann man das schon
über sich ergehen lassen.“
Im Gleichschritt marschieren sie die Straße entlang. Bernhard muss schon wieder.
Während er sich erleichtert, denkt er an die langen Warteschlangen vor
Toilettenhäuschen bei Freiluftkonzerten. „Mit meinen Arbeitskollegen habe ich
früher viel unternommen. Leider sehen wir uns nur noch selten. Wahrscheinlich
stimmt der Satz, dass Rentner niemals Zeit haben. Jedenfalls besuchten wir
gemeinsam viele Veranstaltungen. Und jedes Mal waren sie erstaunt, dass mich so
viele Leute grüßten. Als Bauleiter lernt man schon den einen oder anderen
kennen. Irgendwann begannen meine Kollegen, Wetten abzuschließen, wie viele mich
grüßen würden. Wer mit seinem Tipp am nächsten lag, wurde von den anderen zum
Bier eingeladen. Wir hatten enormen Spaß daran. Ulli bekam so manches Freibier.
Doch bei unserem letzten Besuch wollte und wollte mich keiner kennen. Nicht
einmal ein aus der Ferne angedeutetes Kopfnicken. Zweifel nagten in mir. Immer
wieder schielte ich zur Seite. Doch vergebens. Das Konzert war irgendwann zu
Ende. Alles strömte dem Ausgang zu. Und plötzlich ein nicht mehr erwarteter
Gruß. Erkannt hatte mich mein Urologe. Da war die Welt für mich wieder im
Gleichgewicht.“
Artur kommentiert die Geschichte sofort. „Hat er dich erkannt, weil du da zuviel
oder zu wenig hast?“
Hans grinst über das ganze Gesicht und Bernhard schiebt unwillkürlich sein
Becken nach vorn. „Ha, ha, ihr Blödköppe, legt lieber einen Zahn zu, sonst
kommen wir nie an.“
Alle drei gehen trällernd ihrem Ziel entgegen. Wieder in der Pension, hauen sie
sich für ein Stündchen aufs Ohr. Das gute Essen, der lange Marsch lassen sie
sofort einschlafen.
Gegen siebzehn Uhr klopft es an Bernhards Tür. Völlig verschlafen öffnet er.
Hans und Artur sind längst ausgehbereit. „Jungs, noch fünf Minuten. Ich muss mir
noch schnell ein Hemd plätten.“
„Was musst du? Plätten? Heißt das nicht bügeln? Außerdem darf man das im
Hotelzimmer gar nicht. Sag mal, hast du ein Bügeleisen mitgebracht?“ Artur kann
es nicht fassen.
„Wo ist hier ein Hotel? Wir wohnen in einer Pension. Und gegen ein kleines
Reiseplätteisen kann ja wohl niemand etwas einzuwenden haben.“
„Lass das nicht Frau Georges sehen.“
Bernhard winkt ab. Ohne jegliches Schuldgefühl nimmt er das Bügeleisen aus
seiner Reisetasche, steckt den Stecker in die Steckdose und beginnt zu bügeln.
„Meine Mutter jedenfalls plättete. Ich weiß, heute macht man das nicht mehr.
Heute wird gebügelt. Aus dem Plättbrett wurde ein Bügelbrett, aus dem Plätteisen
ein Bügeleisen. Aber nicht bei mir.“ Flink lässt er das Eisen erst über den
Kragen, dann über die Ärmel und Manschetten gleiten. Anschließend streicht er
die beiden Vorderseiten sowie das Rückenteil des Hemdes glatt, dann gesondert
die Schulterpartie. „So, nun können wir wieder hoch in die Berge.“
„Und dazu musstest du noch stundenlang plätten?“, wundert sich nicht nur Artur.
„Ach, das versteht ihr nicht. Vielleicht begegnet uns ein hübsches Fräulein.“
„Bernhard, wir haben abgemacht, dass der Urlaub uns dreien gehört. Frauen sind
in dieser Zeit tabu.“ Da ist Hans streng.
„Ja, ist schon gut. Los jetzt mit euch.“
Oben auf dem Bergkamm durchströmt sie wieder das unbeschreiblich schöne
Glücksgefühl von unendlicher Weite, von Freiheit und Ruhe.
„Wenn das unsere Frauen sehen könnten“, schwärmt Artur.
„Sie sehen es. Außerdem werden wir ihnen ausführlich berichten.“
Dabei fällt Hans eine Geschichte ein. „Erinnert ihr euch noch an die Kellnerin
mit dem vielen Holz vor der Hütte? Wir drei beim Frühschoppen? Und sie fragte,
wo unsere Frauen seien. Und du, Bernhard, hast geantwortet, dass sie alle drei
einfach nicht zu bewegen waren mitzukommen. Solange wir ihnen zu trinken
brächten, ließen sie uns gerne ziehen.“
„Was muss da in ihrem Kopf abgelaufen sein?“, fragt sich Bernhard erneut. „Der
mitleidige Blick, den sie uns schenkte. Artur, und du meintest noch, sie würden
sich nicht von ihren Pflanzen trennen können. Die Kellnerin vermutete, sie
würden bei dem schönen Wetter Beete pflegen. Dann redete und redete sie von
ihrem Garten. Freute sich auf die Erdbeeren und die Süßkirschen. Gelacht haben
wir schon.“
„Ja, und hinterher geheult“, ergänzt Artur, „und dann sind wir gemeinsam zu
ihnen gegangen und haben ihre Gräber geharkt.“
Kennen gelernt hatten sich Artur, Hans und Bernhard während des letzten Sommers.
Viele Tage hintereinander brannte die Sonne. Kein Regen. Die Pflanzen ließen die
Köpfe hängen, und die drei gossen und gossen. War einer verhindert, so übernahm
ein anderer die Pflege. So kamen sich die drei Witwer näher.
Irgendwann tranken sie das erste gemeinsame Bier, später musste jeder beim
Einkauf im Baumarkt dabei sein, dann renovierten sie Arturs Wohnung, spielten
Tennis und trafen sich zum Fernsehen. Die Leidenschaft, gut zu essen, teilen
alle drei. Nun sind sie das erste Mal zusammen im Urlaub.
„Jungs, ich habe eine Idee.“ Wieder einmal ist es Bernhard, der keine Langeweile
aufkommen lässt. „Hier kennt uns keiner. Versetzen wir uns in unsere Kinderzeit
zurück. Jeder wiederholt einen seiner Streiche von damals. Und ich fange an.
Morgen geht es los.“
Die Diskussion über den Sinn dieses Vorschlags will nicht enden. Konsequenzen,
natürlich negative, werden heraufbeschworen. Doch Bernhard setzt sich durch. Mit
sehr gemischten Gefühlen und schweren Herzens stimmen die beiden per Handschlag
zu.
Äußerst wachsam trinken Artur und Hans am nächsten Morgen ihren frischgebrühten
Kaffee. Diesmal wollten sie ihn nicht gefiltert. Dazu essen sie Bäckerbrötchen
mit Honig und ein weichgekochtes Ei. Sie lassen sich mit ihrem Frühstück sehr
viel Zeit, erzählen und erzählen, kommen vom Hundertsten ins Tausendste. Immer
in der Hoffnung, Bernhard auf andere Gedanken zu bringen, ihn sein Vorhaben
vergessen zu lassen. Sie fürchten seine Einfälle, zuviel hat er ihnen aus seiner
Jugendzeit vorgeschwärmt, immer wieder Geschichten zum Besten gegeben.
Bernhard plaudert völlig entspannt, scherzt und ist bester Laune. Beim Essen
jedoch hält er sich erkennbar zurück. „Stopft nicht so viel in euch hinein. Ihr
müsst heute noch ’ne Menge essen. Wir werden heute Abend in die Gaststätte
gehen, ein Wettessen veranstalten, und anschließend die Zeche prellen.“
„Spinnst du?“, fragt Artur mit aufgerissenen Augen. „Die werden uns die Polizei
auf den Hals hetzen. Wir kriegen Aufenthaltsverbot. Vorbei ist es dann mit der
schönen Aussicht.“
Auch Hans ist entsetzt. Beide haben es geahnt, dass Bernhards Eingebung nichts
Gutes bedeuten konnte. Sie sehen in ihm einen großen Jungen, der versucht, sich
auszutoben.
Um neunzehn Uhr betreten sie das Lokal, „Hering satt“ steht auf der Speisekarte.
Sie suchen sich einen Tisch in Nähe des Ausgangs. Kaum haben sie Platz genommen,
fragt der Kellner nach ihren Wünschen. Wieder übernimmt Bernhard die Bestellung.
Die beiden anderen sehen sich ängstlich um. Fast alle Plätze sind besetzt. Sie
spüren schon jetzt ein peinliches Gefühl in sich aufsteigen und befürchten, dass
sie nach diesem Abend niemandem mehr in die Augen sehen können. Vielleicht
müssen sie sogar vorzeitig abreisen. Es gibt Momente, da können sie ihren besten
Freund nicht ausstehen. Und jetzt ist so einer.
Hans streikt schon nach der zweiten Portion. „Es geht nichts mehr rein. Die
Fischplatte dreht sich vor meinen Augen.“ Er kann gerade noch verhindern, sich
am Tisch zu übergeben. Mit geweiteten Augen und krampfhaft geschlossenem Mund
stürmt er zur Toilette. Bernhard und Artur essen weiter. Die vierte Platte ist
leer, die fünfte wird serviert. Der Kellner amüsiert sich. Das Fisch-Wett-Essen
hat sich inzwischen bei allen Gästen herumgesprochen. Es hält sie nur schwer auf
ihren Plätzen. Zu gerne wären sie hautnah dabei.
Von den beiden Männern will jeder gewinnen. So wie früher, als sie die Mädels
beeindrucken wollten. Da bricht es plötzlich aus Artur heraus. Eine Serviette
reicht nicht. Entsetzte Gesichter, auch sich ekelnde, begleiten ihn Richtung WC.
Bernhard lässt sich feiern. Fast das ganze Lokal klatscht. Das letzte Mal, das
er solche Begeisterung erlebte, war, als er bei der Schulmeisterschaft Sieger
über vierhundert Meter wurde. Die Mädchen kreischten. Damals war er der Schwarm
vieler.
Auch Artur sitzt wieder am Tisch. „Herr Ober, bitte ganz schnell alles abräumen.
Ich kann Fisch nicht mehr sehen. Und riechen schon gar nicht.“ Der Kellner
beeilt sich. Gekonnt stapelt er alle Teller auf seinen linken Arm, legt das
Besteck oben auf, greift mit den Fingern der rechten Hand in die Biergläser und
bringt alles zügig in die Küche. „Ich muss zugeben, dass ihr größere Fresser
seid als ich. Und du, Bernhard, du bist der größte Vielfraß von uns allen“,
gratuliert Hans ihm.
Mit Siegerpose ordert Bernhard Küstennebel. Sie stoßen an und ernennen ihn
offiziell zu ihrem Gewinner im großen Wettessen des Abends. Sie lobhudeln, sie
raspeln Süßholz, sie heben seine Kämpfernatur hervor. Bernhard genießt seinen
Triumph. Ein Sättigungsgefühl hat sich nun auch bei ihm eingestellt. Er scheint
müde zu werden. In Artur und Hans keimt Hoffnung. Ihn noch ein wenig einlullen,
und die Gefahr, die Gaststätte ohne Bezahlung verlassen zu müssen, wäre
abgewendet.
„Dass mit der Zechprellerei lassen wir aber. Uns kennt doch jetzt jeder hier“,
flüstert Artur den beiden zu.
Bernhard ist plötzlich wieder hellwach. „Nichts ist. Das ziehen wir durch“,
reagiert er schroff. „Ihr habt zugestimmt. Und nun seid nicht feige. Freut euch
auf das Gefühl danach.“
Die versöhnlichen Töne lassen den Protest der beiden ersticken. „Gut. Dann gehen
wir jetzt alle zur Toilette und verziehen uns anschließend.“
Doch Bernhard bleibt auch jetzt stur. „Das ist doch total langweilig. Wo soll da
der Reiz sein? Wir machen das ganz anders. Damals, ich war vierzehn, da brach
einer meiner Kumpel am Tisch zusammen. Die hatten ihm das wirklich abgenommen
und einen Notarzt gerufen.“
„Bernhard, es reicht. Weißt du überhaupt, wie teuer so etwas heute ist? Scheinst
seit fünfzig Jahren nichts dazu gelernt zu haben“, mokiert sich Hans.
„Ist ja schon gut. Aber ganz ohne Spaß bekommt ihr mich hier nicht raus.“
Während Artur und Hans krampfhaft nach einem möglichst unspektakulären Abgang
suchen, platzt es aus Bernhard heraus.
„Ich hab’s. Jetzt weiß ich, wie wir es machen.“
Die Vorfreude steht in seinem Gesicht geschrieben. Die beiden anderen spüren
Angst in sich aufsteigen. Sie halten den Atem an. Bernhard beugt sich zu ihnen
und erläutert die Vorgehensweise. Artur und Hans wissen, dass er keinen
Widerspruch duldet. Sie befürchten, es könne dann noch schlimmer kommen.
„Hans, du machst es wie vorhin besprochen. Du gehst aufs Klo und haust danach
durch die Hintertür ab.“
Die Erleichterung sieht man ihm an. Sofort springt er auf, schwankt ein wenig
holprig zur Toilette und kommt nicht zurück. Überglücklich, dass Bernhard nichts
Schlimmeres von ihm verlangte, wartet er abseits des Restaurants auf die
anderen.
„Und du, Artur, torkelst dort auf den Tisch zu und fällst der Brünetten in den
Ausschnitt.“ Vorsichtig späht er zu ihr hinüber. Bevor er protestieren kann,
spricht Bernhard weiter.
„Sie wird aufspringen, wutschnaubend nach dem Kellner rufen, der dich dann am
Kragen packt und an die frische Luft setzt. Da sich niemand freiwillig in das
Essen anderer wirft, wird er keine Fragen stellen.“
Artur scheint fast alles egal zu sein. Beschwipst und mit geschlossenen Augen
steht er vom Tisch auf, dreht seinen Körper in Richtung Ziel und stakst los. Das
für ihn Unfassbare geschieht. Er stolpert derart ungeschickt, dass er mit dem
Gesicht in der Vorsuppe des Begleiters der Brünetten landet. Ihr Aufschrei lässt
alle Kellner herbei eilen. Noch bevor diese den Tisch erreichen, umklammert der
Gast mit seinen langen kräftigen Armen Artur und trägt ihn hinaus auf die
Straße. Draußen geht Artur sofort in Deckung. Mit den Händen vor dem Gesicht bei
leicht gekrümmter Haltung wartet er auf die Einschläge. Doch der Mann wendet
sich von ihm ab. Auf dem Weg zurück in die Gaststätte versucht er notdürftig,
seinen Anzug von den Speiseresten zu säubern.
Aus Scham, aber auch aus Erleichterung sackt Artur in sich zusammen. Auf dem
Boden liegend, übergibt er sich. In diesem Augenblick verspürt er das Bedürfnis,
Bernhard zu verprügeln. Nie hatte er sich in der Vergangenheit derart peinlich
aufgeführt.
Die Tür der Gaststätte öffnet sich. Artur befürchtet sofort, der durch ihn
Geschädigte komme zurück, aber es ist Bernhard.
„Na, wie geht es dir?“, fragt dieser scheinheilig. Doch Artur ist nicht in der
Lage zu antworten. Bernhard, der ihm hilft aufzustehen, fällt es schwer, das
Lachen zu unterdrücken. Von Mitleid keine Spur.
Auf dem Weg zurück zur Pension treffen sie auf Hans, der sich aus seinem
Versteck hinter der Scheune hervor wagt.
„Was ist mit Artur passiert?“, wendet er sich voller Sorge an Bernhard.
„Nichts Schlimmes. Er hat nur in einer Fischsuppe gebadet.“
Hans fragt nicht weiter. Es interessiert ihn jetzt auch nicht, wie Bernhard die
Zeche geprellt hat. Seine Gedanken kreisen nur darum, wie er diese Peinlichkeit
wieder wettmachen kann.
Zurück in der Pension kämpfen sie mit ihren Mägen. Zusätzlich plagen Artur und
Hans das schlechte Gewissen. „Im Dorf können wir uns nicht mehr sehen lassen.
Die erkennen uns“, beschwört Hans eine Gefahr herauf. Wir hätten nicht zustimmen
dürfen, die Zeche zu prellen oder diese Aktion wenigstens in einer Großstadt
durchziehen sollen.“
Bernhard versucht, ihn zu beruhigen. „Ach, das Personal wechselt doch. Die
Spätschicht hat morgen frei, und die meisten Gäste reisen ab. Sollten wir
geschnappt werden, dann tun wie so, als hätten wir es nur vergessen. Alzheimer.
Versteht ihr?“ Im Bett hat auch er Gewissensbisse.
Zum Frühstück erscheinen Artur und Hans unausgeschlafen. Beide bereuen es immer
noch, sich Bernhards Idee angeschlossen zu haben, und wollen auch nicht mehr
über den gestrigen Abend sprechen. Sie sitzen bereits am Tisch, als Bernhard den
Speiseraum betritt. Kaum sehen sie ihn, prusten sie los. Er trägt sein Hemd
links herum. Die Fröhlichkeit ist zurück.
„Sag mal, wie läufst du denn rum? Einer deiner Küstennebel war sicher schlecht“,
scherzt Hans.
„Wieso, bin ich ungeplättet?“
Wieder bersten sie fast vor Lachen.
„Du solltest mal dein Oberteil prüfen. Gebügelt ist es, nur hast du es falsch
herum angezogen.“
„Ähnliches passiert mir immer wieder. Wisst ihr, es war erst vorletzten
Sonnabend. Kurz vor Ladenschluss fiel mir ein, dass ich kein Bier mehr im Hause
hatte. Schnell zog ich mir was über, die Schuhe an und lief los. Nachdem ich die
Flaschen in meinen Einkaufskorb gestellt hatte, reihte ich mich an der Kasse
zügig in die Schlange ein. Der schriftlichen Aufforderung ‚Bitte legen Sie alle
Waren auf das Band‘ folgte ich schon automatisch. Die Kassiererin warf ihren
prüfenden Blick in den an der Decke montierten Spiegel. Ich folgte ihren Augen
und bemerkte den nach innen geschlagenen Kragen meiner Jacke. So war ich nun die
ganze Zeit durch den Laden gelaufen. Noch vor dem Bezahlen brachte ich meine
Kleidung in Ordnung. Bevor ich das Geschäft verließ, kontrollierte ich erneut
meinen Kragen. Zufrieden machte ich mich auf den Weg zu meiner Wohnung. Da ich
es nicht eilig hatte, die sechs Flaschen nicht zu schwer waren, ließ ich mir
Zeit. Zumal mich inzwischen meine neue Nachbarin begleitete. Ich gab mir alle
Mühe, charmant zu sein. Ich wollte unbedingt einen guten Eindruck auf sie
machen. Erst im Treppenhaus verabschiedeten wir uns. Immer, wenn ich meine
Wohnung betrete, ziehe ich die Schuhe aus und kremple die Hosenbeine um. So auch
an diesem Tag. Zu meinem Erschrecken musste ich feststellen, dass sie bis fast
an die Knie hochgeschlagen waren. In aller Eile hatte ich verdrängt, dass ich am
frühen Morgen beim Bäcker war – nun hört schon auf zu lachen.“
„Und deine Nachbarin hat nichts gesagt?“, fragt Artur ungläubig.
„Natürlich nicht. Und einkaufen ging ich viele Tage woanders.“
Wieder lachen Artur und Hans aus vollem Hals.
Bernhard wechselt das Thema. „Erzählt mir lieber, was wir heute anstellen.
Durchs Dorf können wir nicht. Wir sollten warten, bis ein wenig Gras über unsere
unbezahlte Rechnung gewachsen ist.“
Gemeinsam überlegen sie. Die Sonne meint es sehr gut. Es sind bereits am frühen
Vormittag über zwanzig Grad Celsius. Da es ein heißer Tag zu werden scheint,
entscheiden sie sich für die Ostsee. Natürlich legen sie ihre Badetücher am
FKK-Strand aus. Mit Wehmut schauen sie auf die vielen durchtrainierten Körper.
Dass vorne am Wasser ein Vater seinem Sohn Handstand lehrt, finden sie dann doch
unangebracht.
Die Sonne treibt ihnen Schweißperlen auf die Haut. Mit Gebrüll werfen sich die
drei ins Wasser. Herrlich dieses unbekümmerte Gefühl beim Spielen mit den
Wellen.
Den Tag lassen sie in Arturs Zimmer bei einem Glas Rotwein ausklingen. Von Mut
ist die Rede und davon, dass er sich endlich für einen seiner Kinderstreiche
entscheiden solle.
Artur erinnert sich an die einzige Ohrfeige, die er je von seiner Mutter bekam.
„Wenn es dunkel ist, gehen wir fensterln. Ich weiß, wo hier die Dorfschönheit
wohnt. Früher habe ich das öfter gemacht. Damals beobachtete ich meine
Großmutter beim Baden. Völlig konzentriert schaute ich vom Kirschbaum aus durch
das geöffnete Fenster. Die Brüste groß, der Hintern breit. Und was da zwischen
den Beinen war, konnte ich einfach nicht sehen. Ich beugte mich zu weit vor. Der
Ast brach. Kaum auf dem Boden aufgekommen, da spürte ich auch schon die Hand
meiner Mutter. Die Ohrfeige saß. Als sie dann mit meinem Vater drohte, bekam ich
Angst. Doch der fragte nur ‚Kleiner, sag, konntest du wenigstens alles erkennen?
Beim nächsten Mal sieh, dass du eine junge Frau beobachten kannst.‘ Und ich
dachte, ich bekäme Hausarrest.“
Gegen dreiundzwanzig Uhr ziehen Artur, Bernhard und Hans los. Sie tasten sich in
der Dunkelheit vorwärts. Am Haus angekommen, entdecken sie unter dem Fenster
eine Leiter.
„Ein Glück, wir müssen nicht auf die Bäume klettern.“
„Mensch, Bernhard, halt die Klappe. Man kann uns doch hören“, flüstert Artur.
Hans steigt zuerst hoch. Die Sprossen ächzen unter seinem Gewicht. Kurz bevor er
das Fenster erreicht hat, saust er mit Höllenlärm zwischen beiden Holmen nach
unten. Eine Sprosse nach der anderen zerbricht. Ringsherum werden Türen
aufgestoßen, Fenster geöffnet, Licht geht an. Männer suchen mit Taschenlampen
die Gegend ab. Rufe wie „Wer ist da?“ dringen durch die Nacht. „Verdammte
Bengels, wenn ich euch erwische. Ich zieh euch die Ohren lang“, schallt es von
oben aus dem Fenster.
Es ist sehr knapp. Instinktiv rennen Bernhard, Artur und Hans in Richtung der
Berge. Dort sucht niemand.
Hans schimpft: „Fast hätte ich es geschafft. Mist. Die blöde Leiter war morsch.“
Bernhard und Artur sehen ihn immer noch ungebremst nach unten sausen. Zum Glück
hat er sich die Beine nicht gebrochen. Dass er hinkt, der rechte Fuß ist
unmittelbar nach dem Aufprall angeschwollen, amüsiert die beiden. Sie hören
immer noch die Leiter in Brüche gehen.
Zurück in der Pension, kühlt Hans seinen Fuß die ganze verbleibende Nacht. Gegen
Morgen lässt der Schmerz ein wenig nach.
Das Frühstück schmeckt ihnen nicht. Zu sehr ärgern sie sich über den
misslungenen Versuch. Aus der Küche schnappen sie auf, dass letzte Nacht im
Garten der Nachbarin ein Blumenspalier zerbrochen wurde. Völlig kaputt liege es
am Boden. Auch die Klematis wurde niedergetreten. Von großer Niedertracht ist
die Rede. „Irgendwelche Jugendliche wussten wieder mal nicht wohin mit ihrer
Kraft. Das waren bestimmt die Bengels von der Müllern. Was kann man von denen
schon erwarten. Keinen Schulabschluss und ein Vater ist auch nicht im Haus.“
„Blumenspalier? Hans, wo bist du hochgestiegen?“, flüstert Artur ihm zu. Das
einsetzende immer lauter werdende Gelächter der drei lässt das Gespräch in der
Küche verstummen.
Diesen Tag verbringen sie getrennt. Hans kühlt seinen Fuß, lässt sich wieder und
wieder abgepacktes, gefrostetes Gemüse geben.
„Wie ist Ihnen denn das passiert?“, will Frau Georges, seine Wirtin, wissen und
legt eine Tüte Erbsen um seinen Knöchel.
„Ich habe mich vertreten, eine Bordsteinkante unterschätzt.“
Frau Georges, die hier geboren wurde, kennt in ihrem Ort keine einzige hohe
Bordsteinkante. Aus Höflichkeit fragt sie nicht weiter.
Artur hat es sich hinter dem Haus im Liegestuhl bequem gemacht und blättert in
Zeitschriften.
Bernhard schleicht vom Gehöft. Er nimmt ein zweites Frühstück ein. Luise hat
Eier und Schinken gebraten, reicht Baguette dazu und gießt frischgebrühten
Kaffee ein. Das vereinbarte Weibertabu interessiert Bernhard nicht. Artur und
Hans sind weit weg. Schon am Anreisetag war ihm diese Frau aufgefallen. Zufällig
stand sie bei Frau Georges in der Küche. Ihre Blicke trafen sich. Und über seine
Wirtin erhielt Bernhard die Einladung.
„Ich hoffe, Sie fassen es nicht falsch auf, dass ich die Initiative ergriffen
habe. So jung sind wir ja nun wirklich nicht mehr, um Zeit verstreichen zu
lassen. Außerdem reisen Sie bald wieder ab.“
„Frau Luise, der Schinken schmeckt vorzüglich.“
Sie lächelt, weiß sie doch, dass er verstanden hat.
„Bernhard ist ein schöner Name. Mein Hund hieß auch so.“
Der letzte Bissen rutscht Bernhard in den falschen Hals. Erst zärtlich, dann mit
kräftiger Hand klopft sie ihm auf den Rücken. Mit Tränen in den Augen bittet er
um einen Schluck Wasser. Sie reicht ihm einen Sherry. Während beide die Gläser
leeren, schauen sie den Möwen nach.
„Frau Luise, einen Ausblick haben Sie hier.“
Wieder lächelt sie. Dass Männer immer dummes Zeug reden müssen, anstatt zu
handeln, geht es ihr durch den Kopf. Sie wendet sich zu ihm und küsst ihn direkt
auf seinen Mund. Fast wäre ihm das Glas aus der Hand gefallen.
„Herr Bernhard, noch eine Scheibe Schinken?“
Die Frage überhört er. Nun küsst er sie. Dieses Gefühl will er erhalten, will es
auskosten. Voller Erwartung trägt er sie ins Schlafzimmer. Beide lieben sich.
Obwohl auf ihrem Namensschild Therese Blitz steht, nennt er sie Luise. Bernhard
fand diesen Vornamen schon immer schön, und schöne Frauen hießen bei ihm Luise.
Obwohl die schönste für ihn seine Charlotte war. Sie nannte er bei ihrem
richtigen Namen.
Mit „Na, habt ihr den Vormittag gut verbracht?“, geht er gegen Mittag auf Artur
und Hans zu.
„Klar. Es war schon richtig, noch ein wenig auszuruhen. Und du? Hast du auch ein
bisschen geschlafen?“, fragt ihn Hans.
„Ja, ich fühle mich wirklich sauwohl.“ Und er hat nicht einmal ein schlechtes
Gewissen.
Für den dritten Streich gibt es noch keine Idee. Hans fällt nichts Passendes
ein. Viel zu sehr beschäftigt ihn sein Fuß. Äpfelklau und Klingelstreich
erscheinen ihm total langweilig. Er schlägt vor, auf den letzten Streich zu
verzichten, zumal er Schmerzen habe. Doch Bernhard kennt kein Erbarmen.
„Klauen wir doch im Dorfladen Kondome“, schlägt er vor.
Doch das wollen die anderen nicht gelten lassen. „Dies ist ja so ähnlich wie
Zechprellerei. Denke ich dran, kommen mir vor Angst immer noch die Fische hoch.
Dass der Wirt uns bisher nicht aufgespürt hat?“, wundert sich Hans immer noch.
„Vielleicht hat er bei dem Trinkgeld der Gäste nicht bemerkt, dass die Kasse
nicht stimmte? Haben wir eben Glück gehabt.“
„Bernhard, ich weiß nicht, Kondome?“
„Warum nicht. Oder willst du lieber einen Sack Kartoffeln mitgehen lassen? Hört
jetzt auf zu diskutieren. Wer mit den Dingern am schnellsten aus dem Laden
kommt, der hat gewonnen.“
„Wie? Willst du die Zeit stoppen?“, fragt Artur weiter.
„Klar, wie sonst?“
„Bernhard, ich bleibe dabei, du tickst gegen die Uhr. Habt ihr das als Kinder
wirklich gemacht?“
„Ja, nur nicht nach Zeit. Wer die teuersten vorzeigen konnte, der war der Held.“
„Und?“
„Natürlich habe ich gewonnen“, lügt Bernhard.
Hans, wieder als erster, betritt das Geschäft.
„Kann ich Ihnen helfen? Was suchen Sie denn?“
„Ich, ich brauche Einlegesohlen, Größe 46.“
Während Hans bezahlt, starrt er irritiert auf seinen Einkauf. Die Schnelligkeit
des Verkäufers hat ihn durcheinander gebracht. Dort, wo er sonst einkauft, ist
meistens nur die Kassiererin im Laden. Nach seinen Kundenwünschen wurde er nie
gefragt. Oft hat sich über die fehlende Beratung geärgert.
Bernhard stoppt die Zeit. Zwei Minuten, dreizehn Sekunden. „Langsamer ging es
wohl nicht. Zeig her, was du ohne Bezahlung gekauft hast.“ Über die Sohlen
können Bernhard und Artur sich minutenlang nicht beruhigen. Von Lachkrämpfen
geschüttelt, schießen Tränen aus ihren Augen.
„Artur, los. Mach es besser!“, kommandiert Bernhard. Nach zwei Minuten, sieben
Sekunden, schneller als Hans, kommt er aus dem Laden. Aber die rote Schuhcreme
lässt auch Artur nicht gewinnen. Und schon gar nicht, dass auch er einen
Kassenbon hat. Bernhard kann sich nun alle Zeit der Welt lassen. Kommt er mit
unbezahlten Kondomen aus dem Laden, müssen Artur und Hans ihn zwei Tage
freihalten.
Auch jetzt ist kein weiterer Kunde im Verkaufsraum. Und wieder die höfliche
Frage des Verkäufers, doch darauf ist Bernhard vorbereitet. Er schwatzt mit ihm,
will ihn in Sicherheit wiegen, um im günstigen Moment zuzuschlagen. Er redet von
Ehrlichkeit, fragt, ob die Kasse immer stimme, behauptet gar, dass er Diebstähle
verwerflich fände. Aber so schnell lässt sich der Verkäufer nicht einlullen.
Bernhard fährt größere Geschütze auf. Er erzählt ihm die Geschichte mit dem
Fahrschein. „Wissen Sie, ich bekomme es nicht einmal fertig, mit ungültigem
Ticket zu reisen. Vor kurzem entwertete ich einen Fahrschein, den der Automat
mit dem Aufdruck vier Uhr versah. Es war aber bereits vierzehn Uhr. Ich fuhr,
obwohl völlig unschuldig, mit einem ungültigen Fahrschein. Aussteigen und einen
neuen entwerten oder zum Zugführer gehen und die Situation erklären? Wer hätte
mir geglaubt, dass der Entwerter die Zeit unvollständig gedruckt hatte?“
Bernhard erzählt und erzählt. Seine Augen wandern durch den Verkaufsraum. Das
Gewünschte hat er immer noch nicht entdeckt. „Station um Station durchfuhr ich
auf der Suche nach einer Lösung. Dazu die Angst, ein Kontrolleur würde zusteigen
und mich als Schwarzfahrer brandmarken. Erst nach der neunten Station wurde mir
bewusst, dass ich eine Tageskarte, die vierundzwanzig Stunden galt, gelöst
hatte.“
„Ich verstehe. Diese Unruhe, die Sie da spürten, kann ich mir sehr gut
vorstellen.“
Bernhard kann keine Kondome entdecken. Wieder ist er bemüht, Zeit zu schinden.
Er will unbedingt als Sieger aus dem Wettstreit hervorgehen. „Müssen Sie hier
auch alleine sauber machen?“
„Und ob. Hier kommt niemand. Bei dem, was Kunden so alles vor der Tür fallen
lassen, könnte ich so manches Mal die Straßenreinigung anfordern. Oftmals muss
ich eine halbe Stunde ranhängen. Freitags ärgert es mich besonders. Hin und
wieder habe ich an diesem Wochentag den Laden bis zwanzig Uhr geöffnet. Die
Dörfler wollen nicht ihre gesamten Einkäufe aus der Stadt mitbringen. Da viele
von ihnen den Bus nehmen, ist die Schlepperei teilweise unzumutbar. Ich kann sie
ihnen ersparen, außerdem ist es mein Umsatz. So ein Wochenendgeschäft lohnt sich
für mich schon. Zum Glück wohne ich ja in der Nähe.“
Bernhard beginnt zu verzweifeln. Er kann keine Präservative entdecken. „Gibt es
denn hier im Ort einen Straßenreinigungsbetrieb?“
„Natürlich nicht. Er würde sich gar nicht rentieren. Die Dorfstraße und die
wenigen Seitenwege schaffen wir alleine. Reinigungsfahrzeuge kommen zu lassen,
wäre viel zu teuer. Außerdem haben die Jungs in Städten genug zu tun.“
„Das stimmt. Ich erinnere mich da an die Nachweihnachtszeit vor acht oder neun
Jahren. Bei uns war es üblich, die Tannenbäume am Straßenrand abzulegen. Die
Stadtreinigung musste sie stets während der ersten Januartage einsammeln. Um sie
zu entlasten, wurde erstmalig in jenem Jahr ein Tannenbaumablageplatz
eingerichtet. Die Stadtverwaltung forderte alle Bewohner auf, die Bäume dorthin
zu bringen. Da der Weg ziemlich weit war, beschloss ich, die Aufforderung zu
ignorieren und legte wie alle Jahre zuvor den Baum am Straßenrand ab. Nun lag er
da. Morgens, mittags, abends. Ich hatte Urlaub und ihn vom Fenster aus ständig
im Blick. Am übernächsten Tag konnte ich den Druck, etwas Verbotenes getan zu
haben, nicht mehr ertragen. Ich ging hinaus, nahm den Tannenbaum und schleppte
ihn etwa vierhundert Meter hin zum Sammelplatz. An der Ablagestelle angekommen,
bemerkte ich, dass an diesem Baum zwei wunderschön gewachsene Kienäpfel waren.
Meiner, den ich vor dem Fest sorgfältig geschmückt und nachher genauso
gewissenhaft von Kugeln und Lametta befreit hatte, besaß keine. Sicher hatten
die fleißigen Jungs von der Stadtreinigung meinen längst entsorgt.“
„Und? Hat Sie der einstige Besitzer beim Wegtragen seiner Tanne beobachtet?“
Bernhard hebt die Schultern. „Ich hoffe nicht.“
Draußen stehen Artur und Bernhard sich derweil die Beine in den Bauch. Ihre
Anspannung wächst. Sie haben ein ungutes Gefühl. „Wenn der die Polizei holt, was
machen wir dann?“, fragt Hans unruhig.
„Was schon, wir besuchen Bernhard im Knast.“
„Artur, red nicht so. Wir sind doch mit dran. Ich warte noch fünf Minuten. Dann
gehe ich hinein.“
Bernhard kommt immer noch nicht. Vorsichtig spähen die beiden durch die
Schaufenster. Vor Artur liegen Andenken über Andenken. Vor Jahren brachte auch
er solche von jeder seiner Urlaubsreisen mit. Doch kürzlich hat er die
Holzbrettchen, die Figürchen, die Türmchen und Schälchen, die Tellerchen mit
Sprüchen, die Tellerchen ohne Sprüche, aber mit Landschaften, aus seiner Wohnung
verbannt. Nur die Bildbände behielt er. Heute macht er von den Urlaubsorten
Foto- oder Filmaufnahmen.
Hans hat für die Dekoration im Schaufenster kein Auge. Bienenhonig,
Akazienhonig, Zuckerrübensirup, Sanddornsaft, Sanddornmarmelade, Sanddorn in
Gummibärchen, Schweineschmalz, Gänseleberwurst, Ziegenkäse, Schafwolle
präsentieren sich gestapelt, geschichtet und gehängt. Doch er sieht die Auslagen
nicht. Er sorgt sich um seinen Freund. „Los, wir gehen rein“, entscheidet er
endlich.
„Und was willst du sagen? Er sei Kleptomane, ließe immer alles mitgehen,
bräuchte ständige Betreuung?“
Angespannt betreten sie das Geschäft.
Bernhard, der beim Anblick der beiden Freunde erschrickt, fragt den Verkäufer
fast zu laut: „Sagen Sie, gibt es in diesem Laden keine Kondome?“
„Aber natürlich. Hier, genau vor Ihnen liegen sie. Welche Größe darf es denn
sein? Groß, normal oder klein?“
Bernhard ist derart überrascht, dass er auf die erstbeste Packung zeigt und
stotternd nach dem Preis fragt – und bezahlt.
Die Wette hat keiner gewonnen.
Bernhards Enttäuschung sitzt sehr tief. Er verliert nicht gerne. „Früher waren
wir abgebrühter. Ich kann es nicht fassen. Da fange ich zu stottern an.“ Mit der
nächsten Niederlage im Nacken ziehen Bernhard, Artur und Hans betreten davon.
„Ich muss den Ärger runterspülen. Wir machen die Flasche Whisky nieder und
lassen die Glotze flimmern.“
Kurz vor der Pension läuft ihnen der Wirt des Lokals, in dem sie die Zeche
geprellt haben, über den Weg.
„Schreck lass nach“, beschwört Hans ihrer aller Schicksal. „Nicht auch noch das
jetzt.“
Bernhard sagt kein Wort. Gerne wäre er einfach am Wirt vorbeigelaufen.
„Hallo meine Herren, endlich treffe ich Sie“, spricht der Wirt sie freundlich
an. „Ich habe mir erlaubt, bei Ihrer Vermieterin nach Ihnen zu fragen. Verzeihen
Sie, mir ist es sehr unangenehm, dass ich bisher nicht die Gelegenheit hatte,
Ihnen Ihr Wechselgeld zurückzugeben. Zweihundert Euro sind für ‚Hering satt‘ und
Ihre zwölf Biere zu viel. Und als Trinkgeld kann ich die Restsumme nicht
annehmen. Bitte kommen Sie demnächst vorbei. Ich würde mich sehr freuen, Sie
nochmals in unserem Restaurant begrüßen und natürlich bedienen zu dürfen. Das
erste Bier geht aufs Haus.“
Kaum ist er gegangen, überschütten Artur und Hans Bernhard mit allen
Schimpfwörtern, die ihnen gerade einfallen. Lügner und Betrüger sind die
harmlosesten, hinterhältiger Schweinehund, Mistkerl und falsches Aas sitzen
dagegen. Besonders Artur kann sich kaum beherrschen: „Dass du uns in dem Glauben
gelassen hast, wir hätten die Zeche geprellt, dass uns beiden vor Angst und dem
vielen Essen zum Kotzen war, verzeihen wir dir nie. Du Arsch, du. Muss noch
spazieren gehen, tief Luft holen, ha, ha. Du, ich sage dir, das zahlen wir dir
heim. Ab sofort übernimmst du jede Rechnung. Und Hunger haben wir, das kannst du
glauben! Ich werde mich nicht zurückhalten. Ich esse, bis es mir oben rauskommt.
Und du wirst blechen.“
Nachdem Artur sich auf diese Art Luft gemacht hat, nimmt er gemeinsam mit Hans
Bernhard wieder in ihre Mitte. Vor ihnen steht nämlich die Aussicht auf den
billigsten Urlaub, den sie je verbracht haben. Ihre Vorfreude verdrängt die Wut.
Doch sie sind jetzt vorgewarnt. So leicht lassen sie sich nicht mehr
hereinlegen. Beide verabreden, Bernhard bei seinem nächsten Alleingang
unauffällig zu folgen.
Am Nachmittag ist es soweit. Sie schleichen ihm nach.
„Hab ich doch gesagt, er geht Richtung Strand. Lassen wir ihn in Ruhe. Der legt
sich ins Gras und schläft sich stark.“
„Ich hör immer Strand. Siehst du ihn da vorne abbiegen? Los, wir dürfen ihn
nicht aus den Augen verlieren. Verdammt, er ist verschwunden“, ruft Artur
erschrocken Hans zu.
„Red nicht solchen Unsinn. Wie soll er denn in diesem kleinen Nest verschütt
gehen?“
Beide können ihn nicht entdecken. Minutenlang halten sie nach ihm Ausschau.
„Hans, kneif mich mal. Ich glaube, ich träume. Sieh da, auf der Terrasse.“
Bernhard, der wieder mit Frau Blitz turtelt, ist abgelenkt. Er nimmt seine
Verfolger nicht wahr, zu tief schaut er Luise abwechselnd ins Dekolletee und in
die Augen.
„Dafür wird er bluten“, brummt Artur. „Den nehmen wir aus wie ’ne
Weihnachtsgans. Wenigstens einmal im Monat gehen wir auf seine Kosten einen
Trinken. Und das halten wir mindestens ein Jahr durch.“
Hans stimmt froh gelaunt zu. „Komm, wir verziehen uns. Wir lassen uns nichts
anmerken. Der soll sich in Sicherheit wiegen. Frauen im Urlaub sind tabu. Der
wird was erleben.“
Beide machen einen langen Spaziergang am Ufer entlang. Sie ziehen Schuhe und
Strümpfe aus und gönnen ihren Füßen das kühle Nass. Dabei besprechen sie ihr
weiteres Vorgehen.
Zum Abendbrot wird gegrillt. Diesmal entscheiden sich alle drei gegen Fisch.
Bernhard und Hans wählen Rippchen, dazu Folienkartoffeln. Artur hat Appetit auf
gegrillte Schweinshaxe mit Sauerkraut nach Familienrezept. Das Bier zischt durch
ihre Kehlen.
Er beginnt ein scheinbar harmloses Gespräch mit der Wirtin: „Wissen Sie, Frau
Georges, es ist sehr schade, dass unser Urlaub schon bald vorbei ist. Ich will
gar nicht glauben, dass die Zeit so schnell vergangen ist.“
„So empfinden fast alle meine Urlauber. Gerne würde der eine oder andere ein
paar Tage ranhängen, doch meistens ruft die Arbeit.“
„Ja, leider. Obwohl ich mich nicht mehr durch den Berufsverkehr wälzen muss,
ruft die Pflicht. Ich werde mit meinem Freund Hans wie geplant abreisen.“
„Wieso nur ihr beide? Wollt ihr mich etwa hier lassen?“ Bernhard blickt
irritiert von einem zum anderen.
Prompt reagiert Hans: „Denkst du etwa, dass Frau Blitz dich so ohne weiteres mit
uns abfahren lässt?“
In Bernhards Gesicht läuft ein Farbenspiel ab, von kreideweiß bis puterrot.
„Dachtest du, dass in einem kleinen Ort wie diesem irgendetwas unbemerkt
bleibt?“
Ohne auf eine Antwort zu warten, stimmt Artur ganz versöhnliche Töne an. „He, du
alter Schwerenöter. Nun krieg dich wieder ein. Wir gönnen es dir ja. Obwohl es
deine Idee war, dass Frauen für uns hier tabu sind. Ehrlich, wir beneiden dich.
Genieße es. Wann kommt schon mal die Liebe zu uns Alten? Und wenn, dann wäre es
in der Tat unverzeihlich, wir gingen nicht hin.“
Bernhard ist glücklich. Das schlechte Gewissen plagte ihn schon.
Am letzten Morgen verabschieden sich drei Freunde.
„Sagt mal ehrlich, war das mit dem vielen Trinkgeld okay?“
„Bernhard, es war okay. Außerdem hast du es ja gezahlt.“ Hans lacht.
„Man sieht sich, spätestens kommenden Sonntag bei unseren Frauen. Dann erzählen
wir ihnen von unseren Erlebnissen.“
„Das mit den Kondomen lassen wir aber weg“, beschwört Bernhard seine Freunde.
Während sie sich umdrehen und ins wartende Taxi steigen, fragt Hans verschmitzt:
„Sag mal Artur, hatte bei ihm etwa seine Frau die Hosen an?“