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MONTAG
Das letzte, was Bernd Matuschek sah, bevor sich die Kugel über dem rechten
Auge in seinen haarlosen Kopf bohrte, war der rote Feuerball der Sonne,
der den verlassenen Schrottplatz in ein blutiges Licht tauchte. Noch nie
war ihm die Sonne so kraftvoll vorgekommen und in ihrem intensiven Rot
so kompromisslos. Schön war sie, das sah er nun. Doch es war zu spät.
Vor der Kugel, die ihn gleich treffen würde, gab es kein Entrinnen, das
wusste er. Dann wäre alles vorbei. Er spürte keine Angst, nur Gewissheit
und eine eigentümliche Ruhe. Sein letzter Gedanke galt seiner Tochter,
die am Abend am Flughafen Köln/Bonn ankommen wollte, um ihn zu besuchen,
und sich wundern würde, wo er steckte. Dann drang die Kugel in ihn ein,
und er fühlte nur noch wattige Dunkelheit. Wie sein Gehirn aus seinem
Kopf herausquoll, fühlte er nicht mehr.
Sabine rannte auf den Schrottplatz, doch sie konnte gerade noch sehen, wie
der glatzköpfige Mann zu Boden sank, sein Kopf eine einzige klaffende
Wunde. Sie war zu spät gekommen, Dragolov hatte schon wieder
zugeschlagen. Hastig blickte sie sich um und sprang kraftvoll hinter ein
ehemals grünes VW-Käfer-Wrack in Deckung. Dann presste sie für einen
kurzen Moment die Augen zusammen und atmete tief ein. Sie hatte ihr
Versprechen gebrochen, hatte Matuschek nicht mehr helfen können. Sie
hatte seinen Hilferuf nicht ernst genug genommen, hatte daran
gezweifelt, dass er wirklich aussteigen wollte. Nun hatte er dafür
bezahlen müssen. Dragolov hatte ihn hingerichtet.
Als sie die Augen wieder öffnete, sprach Wut und Entschlossenheit aus
ihrem Blick. Jede Faser ihres Körpers war angespannt. Hass stieg in ihr
auf. Das würde Dragolov ihr büßen, dieser Mistkerl. Diesmal würde er ihr
nicht entkommen. Diesmal nicht. Koste es, was es wolle. Mit einer
gezielten Bewegung griff sie nach ihrer Pistole, die in dem Waffengurt
unter ihrer schwarzen Lederjacke steckte und entsicherte sie mit einer
geschmeidigen Bewegung aus dem Handgelenk. Die Verstärkung, die sie
angefordert hatte, würde nicht rechtzeitig kommen, das war ihr klar.
Ebenso, dass sie ihre Pistole besser als alle anderen in ihrem Team
beherrschte, und sie wusste genau, was jetzt zu tun war. Zielsicher und
lautlos bahnte sie sich ihren Weg über den Schrottplatz, vorbei an den
alten Autowracks, die im Licht der untergehenden Sonne etwas
Skelettartiges hatten, etwas knochenhaft Ausgehöhltes. Und dann sah sie
ihn: Er stand da, eine hochgewachsene, hagere Gestalt, nur noch wenige
Meter von ihr entfernt. Er trug einen fast bodenlangen schwarzen Mantel
und hatte sich rücklings an einen dunkel glänzenden Mercedes gelehnt. In
seiner Hand konnte sie die Waffe erkennen, deren Kugel gerade Matuscheks
Kopf gesprengt hatte. Er schien sie zu polieren, fast liebevoll wischte
er mit einem Tuch über das silbern glänzende Metall. Er schien alle Zeit
der Welt zu haben, und sie meinte, ein selbstsicheres Grinsen auf seinem
Gesicht zu erkennen.
Hastig durchstreifte Sabines Blick den Schrottplatz. Hatte sie etwas
übersehen? War noch jemand hier außer ihr? Irgendetwas stimmte nicht.
Worauf wartete Dragolov? Konnte er sich nicht denken, dass Matuschek ihn
verraten hatte und die Polizei unterwegs war? Dragolov musste noch ein
Ass im Ärmel haben, warum sollte er sonst so selbstsicher stehen
bleiben. Das musste eine Falle sein, eine Falle für sie. Sie wusste,
dass sie jetzt schnell handeln musste und hatte auch schon eine Idee.
Sie musste…
«Schiissdräck! Huere Siech!»
Linn Kegel schien mit ihrem Blick den Bildschirm des alten Laptops
förmlich durchbohren zu wollen. Sie verzog ihr Gesicht. Das tat sie
immer, wenn sie angestrengt nachdachte. Und in letzter Zeit dachte sie
beim Schreiben immer angestrengt nach.
Bernd Matuschek war also tot, lag erschossen auf einem verlassenen
Schrottplatz mit Blick auf die untergehende Sonne, und ihre
Polizistinnen-Protagonistin Sabine stand fast Auge in Auge mit dem
Bösewicht, die entsicherte Waffe in der Hand, und wusste genau, was nun
zu tun war. Ganz im Gegensatz zu Linn: Die kannte, wenn sie ehrlich war,
noch nicht einmal die Vorgeschichte zu dieser Schrottplatzepisode,
geschweige denn die Fortsetzung. Ihre Protagonistin Sabine hatte sie
erst vor einer Stunde auf dem Klo erfunden.
«Schiissdräck, verdammt nommol», fluchte sie wieder in ihrem breitesten
Zürcher Dialekt, «das isch doch alles unbruuchbarä Quatsch! So goot da
doch nööd!»
In einem Anflug von Ungeduld drückte sie kurzerhand unter Bearbeiten auf
alles markieren und löschte den Text. Das Schicksal von Bernd Matuschek
und die ungewisse Zukunft von Sabine und Dragolov lösten sich in nichts
auf. Die Datei sah nun wieder aus wie ein leeres, weißes Blatt, genau
wie gestern und an den Tagen zuvor. Linn konnte sich gar nicht mehr
erinnern, wann sie zuletzt einen Text gespeichert hatte, anstatt ihn
gleich wieder zu löschen. Es schien jedenfalls lange her zu sein. Die
Datei, der sie vorsorglich schon einmal den optimistischen Titel Der
ultimative Bestseller gegeben hatte, blieb leer.
Entnervt und resigniert starrte sie auf den Bildschirm. Was war nur
geschehen? Früher, ja, da schwappte sie förmlich über vor Geschichten.
Einmal hatte sie es sogar geschafft, in vier Wochen eine nagelneue
Computertastatur zu ruinieren. So viele Ideen hatte sie.
Linn strich sich eine feuerrot gefärbte Locke aus dem Gesicht und kratzte
sich am Hinterkopf. Ihr Blick ging zur Decke. Damals hatte sie an jedem
Schreib-Wettbewerb mitgemacht, wie niedrig er auch immer dotiert war.
Einen hatte sie sogar einmal gewonnen, den Putlitz Preis mit dem
sensationellen Preisgeld von 150 Euro. So viel hatte allein die
Fahrkarte von Köln nach Putlitz gekostet. Dafür wusste sie jetzt, wo das
Kaff lag – und dass selbst solche Käffer an das öffentliche Verkehrsnetz
angeschlossen waren, wenn auch auf Umwegen. Aber Preis war schließlich
Preis.
Das schrille Klingeln ihres Telefons riss sie aus ihren Gedanken. Kaum
hatte sie den Hörer am Ohr, meldete sich eine Stimme, die ihr nur allzu
bekannt war.
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