Brodbeck, Rolf

Die verlorenen Freunde. Erinnerungen an Ulrich, Werner, Kurt und Adolf, die starben, bevor ihr Leben begann

[= Autobiographien, Bd. 30], 2008, Tb, 475 S., zahlr. Fotos und Abb., ISBN 978-3-89626-808-2, 24,80 EUR

Sehr gute Besprechungen bei Amazon.de

   => Lieferanfrage

Zurück zur letzten Seite                    Zur Startseite des Verlages

 

Über diese Aufzeichnungen 
 

Unser Leben besteht nicht nur aus Tagen, Monaten, Jahren, aus faßbaren Ereignissen und Geschehnissen, aus erfühlten Höhepunkten und Tiefen. Unser Leben ist auch ein Mythos, also etwas Unbegreifliches, Geheimnisvolles. So hab ich's gelesen in einem Buch, dessen Autor und Titel mir nicht mehr gegenwärtig sind. Die Idee vom Lebensmythos blieb mir im Gedächtnis und ich möchte sie übertragen auf einen Teil meines Lebens, auf jenen Teil, den ich im Dritten Reich durchlebte von meinem achten bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr.
Alle Realität aus dieser Zeit ist verschwunden, alle Gefühle und Empfindungen haben sich verflüchtigt. Auf alten, kleinen, vergilbten und rand­gezackten Fotografien sehe ich einen blondgelockten Pimpf, in seitlicher Pose stützt er sich gegen einen jungen Zwetschgenbaum, von vorn zeigt er sich mit entschlossen verkniffenem Mund, die Hände am Koppel. Was geht vor hinter der durch die Mütze verschatteten Stirn? Fünfzehn Jahre alt ist er und gerade Jungzugführer geworden. Auf anderen Bildern, wenig später nur, sehe ich den Fähnleinführer, wie er vor seinem Jungvolk steht. Er trägt zum letzten mal das braune Hemd mit dem schwarzen, vom Lederknoten zusammengehaltenen Tuch um den Hals, an der linken Brustseite schaukelt die weiß-grüne Führerkordel. Links im Bild der Fanfarenzug, ich zähle sechs Fanfaren und sechs Trommeln, der Führer schwingt seine Fanfare zum Takt: Der Fähnleinführer verabschiedet sich von seinen Pimpfen und übergibt das Fähnlein seinem neben ihm stehenden Nachfolger. Ich schaue und staune. Wie locker und selbstverständlich dieser Fähnleinführer vor seinen im Karree versammelten Jungen steht, als sei er dafür seit eh bestimmt gewesen. Ich nehme ein anderes Bild zur Hand. Ich sehe den jungen Rekruten in feldgrauer Uniform, sein Gesicht spiegelt gläubigen Idealismus kurz vor seiner Abstellung an die Front. Lange schaue ich auf das letzte Soldatenbild, es zeigt den Fähnrich, mit schwarzer Panzeruniform, am Revers und an der Brusttasche seine Kriegsauszeichnungen. Immer noch ein unglaublich junges Gesicht, aber die Züge haben sich verändert.
Indem sich meine Gedanken mit diesen Bildern beschäftigen, entfernt sich die dargestellte Person immer mehr von mir. Laut muß ich zu mir sagen: das bist du, aber ich werde mein Gefühl unüberbrückbarer Distanz nicht los. Es ist schwer zu begreifen, daß ich in die Gesichter meines ersten Lebens schaue. Ich weiß, ich bin es, aber ich kann keine Kontinuität zwischen damals und danach erkennen. Ein Mythos also. Deshalb ist das Schreiben über diese Zeit so schwierig, so unvollständig, so ungenau, letztlich so willkürlich. Wie und was soll man über einen Mythos berichten, ein Mythos, der sich wie jeder in ein geheimnisvolles Dunkel hüllt? Ich habe es trotzdem versucht, ein Trieb, ein starkes Verlangen verführte mich dazu – nicht um des Schreibens willen, nein: um diesem ersten Leben auf die Spur zu kommen, um tiefer in mein Herz zu blicken.
Daraus ergibt sich von selbst: es ist meine Geschichte, die ich hier in Form zu bringen versuche, sie zu verallgemeinern, in einen generationstypischen Bezug zu bringen, ist nicht meine Absicht. Und immer bitte ich zu berücksichtigen: es handelt sich um die Schilderungen eines über Siebzigjährigen, da ist nicht auszuschließen, daß in die erinnerte Zeit viel eingeflossen ist von der Lebensschau und vom Erfahrungsschatz des Erzählers.

 

Inhaltsverzeichnis


Fragen an den Autor 11
Über diese Aufzeichnungen 13
Vom Erinnern, Schreiben und Erzählen 15


Erster Teil
Fanfaren und Trommeln
Schüler, Pimpf und Jungvolkführer (bis 1943) 25
Jahrgang 25 27
Erste Wahrnehmungen 33
Der Anfang 39
Olympiade Berlin 1936 43
Beim Jungvolk 51
Sport und Spiele 95
Von Fechtmeistern, Kriegshelden und einem Ahnungslosen 113
Von den Schwierigkeiten, über meine Jugendzeit zu schreiben 121
Glaube und Kult 125
Ein Lied 131
Der Fähnleinführer 139
Ein Abituraufsatz 157
Die Thesen der Erika Mann 161
Freunde meiner Jugendzeit 181


Zweiter Teil
Im Jagdpanzer. Meine Kriegszeit (bis Mai 1945) 201
Lilo 203
Der Alte 207
Nach Osten 211
Die grimmigen Häscher und ein schwäbischer ZwoBe 221
Die Meldung 229
Die Fete 237
Tiba 243
Frontbereinigung 257
Gewaltsame Erkundung 263
Karl 277
Ablösung 283
Michalovce 287
Wintervorsorge 293
Zwischenzeit 297
Der Froschkönig 307
Die Fahnenjunkerschule 315
Das Gespräch 323
Das vorzeitige Ende der Kriegsschule 327
Nikolsburg – Division „Feldherrnhalle“ 331
Znaim 339
Auflösung 347
Das Ende 359
Gefangenschaft 369
Im Lager 375
Im Lazarett 383
Nach Hause 397
Auf der Marktstraße 403


Dritter Teil
Eine Zukunft? Über meinen zweiten Anfang (1945 bis 1948) 409
Der endgültige Schlußstrich 411
In der Jura-Liste 415
Über Gott, die Welt und ein Erstes Staatsexamen 419
Tübinger Streiflichter 425
Stuf’ um Stufe 441
Untilgbare Schuld 453
Was gesagt werden muß – Zwei abschließende Bemerkungen zu Hitler 457


Schlußbetrachtung und Dank 471
Ein Nach-Wort 475
 

 

Fragen an den Autor

Warum hast Du Dir so viel Mühe gemacht, über Deine Jugendzeit zu schreiben?, fragt mich ein jüngerer Freund.
Ich verstehe Deine Frage. Lohnt sich die Beschäftigung mit seiner Vergangenheit? Aber ich wollte, ich mußte, etwas nachholen, etwas zurückholen – sehr spät freilich, aber es gibt Dinge, für die es nie zu spät ist.
Was wolltest Du nachholen oder zurückholen?
Wie soll ich Dir das mit wenigen Worten sagen? Weißt Du, jede Jugend ist einmalig und niemand will sie verlieren. Ich habe sie verloren.
Kannst Du mir das erklären?
Schau, Deine Jugendzeit ging nahtlos über in Deinen nächsten Lebensabschnitt, es war ein fließender Übergang, den Du kaum wahrgenommen hast, ein ganz natürliches Werden und Wachsen. Bei mir war das anders. Meine Jugendzeit stand unter einer Botschaft. Hitler sagte: wir brauchen Euch! Und er sagte: Euch gehört die Zukunft! Beide Botschaften prägten meine Empfindungen und mein Bewußtsein, sie waren Wirklichkeit und Vision zugleich. Mit dem totalen Zusammenbruch im Mai des Jahres 1945 fand diese Jugend ihr Ende, und dieses Ende war radikal. Meine seitherigen Wertvorstellungen waren dahin, alle Ideale und Visionen verschwunden. Übrig blieb die nackte, leere, beschädigte Existenz. Ein von der Besatzungsmacht verordneter KZ-Film fügte zur tiefen Hoffnungslosigkeit die tiefe Scham hinzu. Du hast – so nagte die Erkenntnis in mir – deine jugendliche Begeisterung und deine naive Gläubigkeit einem System geopfert, das schwerste Verbrechen auf sich geladen hatte. Ich war wie gelähmt.
Wie ging es trotzdem weiter?
Ich ließ meine Jugendzeit hinter mir, es blieb mir nichts anderes übrig. Ich koppelte diese Zeit von meinem künftigen Leben ab, schottete mich emotional und rational ab von den zwölf Jahren, die sich das „Dritte Reich“ nannten.
Also ein Neubeginn durch Verdrängung der Vergangenheit?
Ja, so war es. Es erging sehr vielen Menschen so. Gegen Ende der sechziger Jahre erschien ein Buch, das sehr bekannt wurde: „Die Unfähigkeit zu trauern“. Vielleicht hast Du davon gehört. Alexander und Margarete Mitscherlich kamen bei ihren Untersuchungen zu der Erkenntnis: hätten sich die Deutschen dem, was sie angestiftet und verbrochen und was sie verloren hatten, wirklich seelisch geöffnet, wären sie allesamt versunken in eine kollektive Depression. Angesichts des ungeheuren Unheils, das wir angerichtet hatten, war dies eine logische Folgerung. Also haben wir uns dem Überleben und dann dem Wirtschaftswunder „hingegeben“.
Diese Verdrängung konnte doch nicht ohne Folgen bleiben!
Ja, sie hatte schwerwiegende Folgen. Sie verhinderte einen wirklichen Neubeginn. Was immer wir taten, geschah ohne Erneuerung unseres Fundaments und ohne moralischen Rückhalt. Die junge Generation hat das übelgenommen und sich abgesetzt von uns. Es kam zur „Mauer des Schweigens“ zwischen den Generationen. Aber das ist ein anderes Thema.
Nochmals zu meiner Eingangsfrage, Rolf: warum hast Du über Deine Jugendzeit geschrieben?
Endlich hatte ich Zeit. Und mit dieser freigewordenen Zeit wuchs mein Bedürfnis, mich meiner ausgesperrten, verstoßenen und inzwischen auch vergessenen Jugend zu nähern. Ich versuchte es im Gespräch. Bald merkte ich, daß es nur Vorübungen sein konnten und ich begann zu schreiben, zunächst sehr zögernd, mit vielen Pausen. Zweifel und Skrupel begleiteten meine ersten Versuche. Ich machte weiter und schließlich ließ mich meine Erinnerungsarbeit nicht mehr los. Ich wollte mir meine Jugendzeit wieder zurückholen. Indem ich mir selbst gegenüber Auskunft und Rechenschaft einforderte über meine Zeit im „Dritten Reich“. Und wenn das Buch erst mal fertig sein sollte und Du es gelesen hast, dann wollen wir versuchen, über diese Zeit zu reden – über jene Zeit, die meine Jugend war, und über die miteinander zu reden so schwierig ist.

   => Lieferanfrage

Zurück zur letzten Seite                    Zur Startseite des Verlages