Roman, 2008, 307 S., ISBN 978-3-89626-806-8, 14,80 EUR
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Mehr als zehn Jahre
schon liegt die Mauerzeit zurück. Die Berliner haben sich längst unter
den neuen Verhältnissen eingerichtet. Die Alteingesessenen sind es
gewohnt, dass sich ständig etwas verändert. |
Dass Clara ihren neunzigsten Geburtstag feiern wollte, darauf war Kathrin
vorbereitet. Aber dass sie dazu die ganze Sippschaft versammeln wollte, das kam
unerwartet. Auch das noch, denkt sie und schüttelt unmerklich den Kopf. Ich bin
nun wirklich randvoll mit eigenen Sorgen.
Der Gedanke an ein Familientreffen wirkte wie ein schmerzhafter Stachel in ihrem
Kopf.
Doch lässt sie von ihren Gedanken nichts laut werden, behält den Unmut für sich,
der sie beschleicht, wenn sie an solches Zusammenkommen denkt. Missbehaglich
fühlt sie sich, wenn sie sich das Wiedersehen mit Regine, der Schwester, und dem
Schwager vorstellt. Sie braucht alle Energien für ihre eigenen Verhältnisse, mit
denen es schwierig steht, sie weiß nicht genau, wie es weitergehen soll.
Aber sie will die alte Frau nicht enttäuschen. Dass der Neunzigste von Clara ins
Haus steht, weiß Kathi schließlich seit langem, und dass gefeiert werden soll
auch. Es kommt auch nicht ganz unerwartet, dass sich Oma Clara an sie wendet,
denn sie würde erledigen, was notwendig war, sich kümmern, wie denn sonst, davon
ging die alte Frau aus.
Ja, das kann sie auch, denkt Kathi, ich werde tun, worum sie mich bittet, einen
solchen Wunsch könnte ich ihr nicht abschlagen, ihre Enttäuschung würde mich
schmerzen.
Sie schaut auf die kleine lebhafte Frau, die sich in Eifer geredet und gar ihre
roten Bäckchen bekommen hat, die jetzt nur noch selten das zerfurchte Gesicht
unter den weißen Haaren beleben. Auch die braunen Augen haben ihren alten Glanz,
als sie ihr, der Lieblingsenkelin, den Wunsch, den letzten, den sie hat, wie sie
jetzt schon zum zweiten Mal betont, mit naiver Aufregung offenbart. Für eine
Neunzigjährige konnte es keinen anderen Traum mehr geben, als den, die ganze
Nachkommenschaft, alle, die irgendwie zu ihr gehörten, vollständig um sich
versammelt zu sehen. Immer hat sie sich das gewünscht und jetzt, die Grenzen
sind offen, seit über zehn Jahren schon, gibt es keine Gründe, die sie gelten
lassen wollte. Sie sagt es mit einigem Nachdruck zu der schweigenden Enkelin
hin, die der Großmutter während ihres unerwarteten Redeflusses ins Gesicht
schaut, wohl um sich zu vergewissern, wie ernst es der alten Frau ist. Aber es
gibt keinen Zweifel, Clara meint, was sie sagt.
Kathrin, die Enkelin, ist hochgewachsen und schlank, galt von ihrer Kindheit an
als wohlgeraten. Als die erste von drei Geschwistern steht sie der Großmutter am
nächsten, schon in Kindertagen war sie die Pflichtbewusste und Zuverlässige, man
konnte sich auf sie verlassen, wenn man ihr etwas auftrug, erledigte sie es
prompt. Und auch jetzt baut die alte Frau vor allem auf sie, wenn es darum geht,
Alltagsdinge zu regeln, die ihr immer beschwerlicher werden.
An wen sollte sie sich auch sonst halten, wenn sie von der Pflegekraft absah,
die jetzt täglich kam, denkt die junge Frau, die nun abgewandt am Fenster steht
und über die noch kahlen Bäume und Sträucher blickt, die den Wassergraben
säumen, der sich hinter den Wohnblöcken entlangschlängelt. Dort war einst die
Grenze. Westlich vom bewachsenen Streifen beginnt ein anderer Typ von Wohnbauten
mit Hochbeeten und Betonschrägen, die zu Stellplätzen für die Autos führen.
Dagegen stehen auf der östlichen Seite des Heidekampgrabens die Wohnblöcke
weniger dicht und kompakt in der Landschaft, ihre Anordnung ist von geregelter
Monotonie bestimmt. Die Aprilsonne wirft ein schräges Licht auf die Häuser und
ein schwacher Abglanz fällt von den Fenstern zurück in Claras Wohnstube und
lässt Kathis aschblonde Haare einen Ton heller erscheinen als sonst. Aber das
kommentiert die Großmutter heute nicht, weil es ihr offensichtlich gar nicht
auffällt, obwohl sie ihre Blicke ganz und gar auf die junge Frau am Fenster
konzentriert. Sie wartet auf eine Geste oder ein Wort, das sie als Zuspruch für
ihren Plan werten kann. Aber die Enkelin schaut nur und schweigt und reagiert
Momente lang gar nicht.
Kathrin will es so lange wie möglich vermeiden, der alten Frau das Gesicht
zuzuwenden, weil sie fürchtet, ihre Miene könnte den Unmut verraten, der in ihr
hochgestiegen ist und Besitz von ihr ergriffen hat.
Hast du schon mit deiner Tochter die Sache beredet, fragt sie nun und schaut auf
die alte Frau. Ihre Züge hält sie jetzt so weit unter Kontrolle, dass sie auf
die kleine Person zugehen und ihr ins Gesicht blicken kann. Sie wendet sich dem
Sessel zu, in dem Clara sitzt, muss sich bücken, um ihren Kopf kurz an die
runzlige Wange der Alten zu legen. Ach Oma, ich verstehe dich, ich will auch
alles tun, um dir deinen Wunsch zu erfüllen, nur ich habe im Augenblick so viel
anderes im Kopf, sagt sie einlenkend. Eine warme Welle von Mitleid steigt in ihr
hoch, wenn sie auf die gebeugte Gestalt ihrer Oma blickt, der einst rührigen,
agilen Frau, die drei Kinder großgezogen hat und die nun doch allein steht.
Kathi weiß, dass sie schwer an den Einschränkungen trägt, die ihr das
Greisenalter auferlegt.
Drei Kinder, sieben oder acht Enkel, sieben Urenkel, solche Bilanz zog Clara,
wenn sie von ihren Familienverhältnissen sprach. Aber immerhin eine Tochter, und
eine Enkelin sind am Ort, sagt sie dann, sie wohnen in Berlin, in der Stadt, in
der sie seit neunzig Jahren lebt. Und die beiden Frauen besuchen sie, auch wenn
es häufiger sein könnte. Während sie die andere Tochter nur selten sah, seitdem
die 1959 mit ihrem Verlobten nach Darmstadt gegangen ist. Und die beiden
Mädchen, die ihre Ingrid geboren hat, kennt sie nur wenig, sie sind ganz und gar
ohne die Oma aufgewachsen. Und Günter, ihr Ältester, gab nur ungenaue Auskünfte
über den Nachwuchs, den er in jungen Jahren in die Welt gesetzt hat.
Möglicherweise wusste er selbst nichts Genaues und wie soll ich da Durchblick
haben, fragt sich Clara. Aber Fred und Gabriel, die Jungen aus seiner späteren
Verbindung, die kennt sie genauer, die sah sie öfter, seitdem die Familie in
Strausberg wohnte. Aber auch diese Enkelsöhne sind längst aus dem Haus. Seit
fünf Jahren hat es den Fred nach England verschlagen. Manchmal schreibt er ihr
Kartengrüße, wenn er mit seinem Freund in Paris, Rom oder Madrid unterwegs ist.
Wenn er die Woche über in Leeds in seiner amerikanischen Computerfirma arbeitet,
dann hat er keine Zeit, ihr zu schreiben. Vor vier Jahren hat er ihr den
asiatisch aussehenden Freund einmal vorgestellt, aber Clara war enttäuscht, weil
sie mit dem so gar nicht reden konnte, er versteht kein Deutsch. Sie haben sich
dann immer nur angelacht, weil die Übersetzerei ihre Geduld strapazierte und sie
aus seinen Antworten nicht klug wurde. Er kommt von weit her, von den
Philippinen, wenn sie sich richtig erinnert. – Also rechnen kann sie nur mit
denen, die hier sind.
Wenn Nachbarinnen von gelungenen Sprösslingen zu berichten wussten, dann konnte
auch sie mithalten, sie erzählte dann von den drei Enkeln, die am Ort waren, von
den Kindern ihrer jüngeren Tochter Erika, deren Leben sie kennt. Manches lässt
sie beiseite, konzentriert sich vor allem auf Dinge, die in ein einigermaßen
intaktes Familienbild hineinpassen. Dabei verwendet sie natürlich auch die
Briefneuigkeiten, die sie aus Darmstadt erreichten, die ihr Ingrid von Andrea
und Claudia, den überaus gelungenen Mädchen zukommen ließ. In ihrem Alter ist
der Hinweis auf gelungenen Nachwuchs das einzige, was unter den Nachbarinnen
zählt, die fast alle an der Schwelle des letzten Lebensabschnitts stehen und
deren Kinder und Enkel sie hatte aufwachsen sehen.
Von ihren drei Kindern wohnten nur noch die beiden Mädchen zu Hause, als sie
damals mit Kurt zusammen die Wohnung bezog, während die anderen Mieter noch
jünger waren und kleinere Kinder hatten. Wie die das damals gemacht haben in den
kleinen Zimmern, die die meisten nun schon seit langem ganz alleine bewohnen,
fragt sie sich manchmal.
Clara schaut noch immer mit erstaunten Augen auf die Enkelin, deren langes
Zögern sie nicht recht deuten kann. Das Geld kannst Du von meinem Konto nehmen,
wendet sie sich nach einer längeren Pause an Kathi und fügt nach kurzem Bedenken
hinzu, es wird trotzdem noch reichen, um mich unter die Erde zu bringen.
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