Leseprobe
Der letzte Weg
Zitternd vor Angst wachte ich auf und starrte in die Dunkelheit. Ich
war allein. In der leeren, fensterlosen Zelle versickerten meine
Hilferufe ungehört. Die Stille schmerzte in meinen Ohren. Ich konnte
hier verhungern oder verfaulen, niemand würde es je erfahren. Von Panik
ergriffen schaute ich mich um, in der finstersten Dunkelheit, die meine
Augen je erblickt hatten. Der Angstschrei erstarb in meiner Kehle. Auf
eine Falle lauernd kroch ich schweißgebadet auf dem weichen Fußboden,
bis mein Kopf auf die gepolsterte Wand der Gummizelle stieß. Dann kroch
ich auf Knien weiter entlang der Wand, so als würde ich in der
Finsternis nach einem verborgenen Schlüpfloch aus dem Käfig suchen.
Vergebens. Doch plötzlich geschah das rettende Wunder. Ich erblickte
einen schwachen Lichtschein unter der Tür und klammerte mich an ihn, wie
ein Ertrinkender an einen Balken, mit einer Dankbarkeit von nie
gekannter Heftigkeit, bewies er doch, dass ich nicht lebendig begraben
war, dass es außerhalb dieser Gruft noch eine Welt gab, mit Menschen,
gleichgültig wer sie waren, mochten sie auch meine Feinde sein. Und doch
waren sie Menschen, deren bloße Anwesenheit meine Hoffnung weckte, nicht
in der Einsamkeit dieses Kellerlochs verrecken zu müssen.
Ich schlug mit der Faust gegen die weich gepolsterte Tür, die Klappe
ging auf, in ihr erschien ein Männergesicht. »Was gibt’s?« »Ich muss mal
austreten.« »Groß oder klein?« »Klein.« Die Klappe ging zu. Mit lautem,
metallischem Klappern der Verriegelung ging die Tür auf. Vor der Zelle
standen drei streng blickende Uniformierte. Wortlos zeigten sie auf
einen mit Wasser gefüllten Kübel. Ich zog die Hose und die Unterhose
herunter und kniete vor ihnen nieder, um den Kübel treffen zu können.
Ich brachte keinen Tropfen heraus. Ein Krampf schnürte mir den
Blasenausgang zu. Die Drei standen breitbeinig vor mir und starrten mich
pausenlos an. Vergeblich kämpfte ich mit der vollen Blase. Ungeduldig
klapperten sie mit Schlüsseln. »Na wird’s bald!« Es schien eine
Ewigkeit zu sein, die ich so vor ihnen verbrachte, entblößt, in einer
Lähmung erstarrt.
Ein schriller Klingelton beendete meine Pein. Ich schreckte auf und
öffnete die Augen. Greller Lichtschein drang am Vorhang vorbei in das
Schlafzimmer meiner Westberliner Wohnung. Genüsslich ließ ich den Wecker
eine Weile läuten, bevor ich ihn ausstellte, überglücklich aus dem
Albtraum geweckt worden zu sein.
Der auf dem Fußboden liegende Beerdigungskranz erinnerte mich an das
heute bevorstehende Ereignis. Die Zeit war knapp. Im Eiltempo erledigte
ich meine Morgentoilette, band mir auf ein weißes Hemd einen schwarzen
Schlips um, zog schwarze Socken, den schwarzen Anzug und Schuhe an,
verschlang ein Marmeladebrot, das ich mit einem Schluck Instantkaffee
hastig herunterspülte, verließ mit dem Kranz in den Händen meine
Wilmersdorfer Wohnung, stieg in den Wagen. Ich fuhr Richtung Moabit, zum
Grenzübergang Invalidenstrasse. Es war kurz nach acht. Zehn Uhr musste
ich auf dem Friedhof in Friedrichsfelde sein.
Der Tod meines Vaters zwang mich, auch über mein Leben nachzudenken.
Sollte ich wie er mein Privatleben aufgeben und es der Mission der
Veredlung der Menschheit opfern? Die Menschheit würde es mir kaum
danken. Damals konnte ich noch nicht ahnen, dass an jenem Tag mehr als
ein lebloser Körper beerdigt wurde. Eine Idee schritt ihrem Ende
entgegen. Sie wurde mit Vaters Generation zu Grabe getragen. Ihr hatte
er sein ganzes Leben gewidmet und sie hatte auch mein Weltbild und
Handeln seit frühster Kindheit entscheidend geprägt.
Reise in die Hoffnung
Mit einem langen Pfiff kündigte die Lokomotive ihr Eintreffen auf der
Station an. Der Takt der rollenden Räder wurde immer langsamer und
langsamer, bis der Zug mit schrillem Quietschen hielt. Mein Vater
öffnete mit sichtbarer Kraftanstrengung die Verriegelung der Tür und
schaute hinaus. Sonnenstrahlen fielen in den halb düsteren Güterwagon,
der ansonsten nur durch eine offene Luke spärlich beleuchtet war. Sie
trafen die Gesichter der auf Stroh und Decken liegenden Menschen, die
ihre Augen zukniffen oder mit der Hand das schmerzend grelle Licht
abwehrten.
Aus der Ferne ertönte eine blechern klingende Lautsprecheransage. Mein
Vater wiederholte den unverständlichen Namen der Station, so als wollte
er den anderen beweisen, wie gut er französisch konnte. »Der Zug soll
hier eine längere Zeit stehen bleiben. Kommt heraus an die frische
Luft.« Neben mir, dem damals vierjährigen Jungen, drängelten sich meine
drei Schwestern an der offenen Tür: die neunjährige Frida, die
siebenjährige Rosette und die fünfjährige Rosa. Vater kletterte vom
Waggon. »Nicht springen«, ermahnte er die Kinder und hob sie
nacheinander herunter. »Geht Pipi machen.« Nach ihnen verließen
zahlreiche Reisende, Erwachsene und Kinder, den Waggon. Meine
Stiefmutter Dora blieb auf der Decke liegen. Sie hatte Kopfschmerzen.
Gleich neben dem Gleiskörper begann eine mit Butter- und Gänseblümchen
übersäte Wiese. Die drei Mädchen kauerten sich im Gras nieder; ich
stellte mich breitbeinig an einen Telegraphenmast. Nachdem sich alle
erleichtert hatten begannen die Mädchen Blumen zu pflücken.
»Passt auf, dass ihr euch nicht zu weit vom Waggon entfernt, sonst fährt der
Zug ohne euch weiter. Komm, schauen wir uns mal die Lokomotive an«,
sagte Vater zu mir. »Oh ja, Papa«, sagte ich begeistert.
Der Zug glich einem riesigen Tausendfüßler. Irgendwo in der Ferne
verschwanden im Dunst die ersten Waggons. Nur der Qualm verriet, dass
sich dort die Lokomotive befand.
Stolz marschierte ich an der Hand meines Vaters. In den offenen Türen
der Güterwaggons saßen fröhliche Menschen. Sie sangen Lieder in einer
für mich unverständlichen Sprache. »Es ist Polnisch«, erfuhr ich von
meinem Vater, der sich lächelnd einer sangesfreudigen Runde zuwandte.
Andere ließen volle Wodkaflaschen von Hand zu Hand kreisen. Sie riefen
auch meinen Vater zum Mittrinken auf. Aus einigen Waggons ertönten
erhitzte Rufe von Kartenspielern.
Eine Frau mit weißer Rotkreuz-Haube teilte mit einer Schöpfkelle Tee
aus. Vor ihr hatte sich eine Schlange von meist ärmlich gekleideten
Reisenden aus dem Güterzug gebildet, mit Tassen, Kannen und Flaschen in
den Händen. Auch mein Vater stellte sich an und ließ sich die
Thermosflasche mit Tee füllen. »Wann gehen wir weiter«, quengelte ich.
Endlich erreichten wir das schwarze Ungetüm, das ächzend Qualm und Dampf
ausspuckte. Der stählerne Kraftprotz schien voller Ungeduld darauf zu
warten, mit seinen dampfangetriebenen Muskeln die Räder in Bewegung zu
setzen. Aus dem Fenster der Lokomotive schaute rußverschmiert der
Lokführer.
»Schau dir diese Lokomotive genau an, mein Sohn. Sie fährt uns nach Polen,
zum besseren Leben, zum Sozialismus.« Doch was wusste ich damals, mit
vier Jahren, vom Sozialismus? Es war für mich nicht mehr als ein
schwieriges, kaum aussprechbares Wort. Ich stellte ihn mir so großartig
vor, wie die Dampflokomotive, die uns dahin bringen sollte.
Vor Glück strahlend, schritt ich Hand in Hand mit Vater zum Waggon
zurück. »Papa, hier in dem Waggon ist es nicht schön. Wenn ich mal groß
bin, werde ich Lokführer. Dann werde auch ich auf so einer großen
Lokomotive die Menschen in den Sozialismus fahren.« Vater lächelte.
»Aber nein, mein Sohn. Wenn du groß bist, dann sind wir doch schon
längst im Sozialismus und auf dem Weg zum Kommunismus.« »Gut Papa. Dann
werde ich mit der Dampflokomotive die Menschen zum Koo-mmu-nismus
fahren.«
Polen, dessen war sich mein Vater Leon Berger sicher, sollte die letzte
Station seines ruhelosen Lebens werden. Vierundvierzig Jahre
Wanderschaft waren genug. In Polen hatte sie einst begonnen, als er 1904
in Warschau geboren wurde und den Vornamen Leibusch erhielt. Er war der
zweite aus einer Schar von zwölf Kindern, mit denen seine streng
gläubigen Eltern, Jossl und Ziwia Berger, die Welt noch segnen sollten.
Die meisten von ihnen wurden auf der langen Odyssee ihrer Eltern
geboren. Elias, Freidel, Leibusch, Lya und Liba kamen im heimatlichen
Warschau auf die Welt. Als begeisterten Zionisten zog es Jossl Berger
von dort 1908 nach Palästina. Schon sah er sich dort als Textilfabrikant
und Besitzer großer Ländereien, wegen seiner mildtätigen Gaben von allen
Juden verehrt. Doch er verlor sein ganzes Geld in riskanten Geschäften
mit windigen Partnern. Nach zwei erfolglosen Jahren im Land der Väter,
das damals von Armut und dem Fehlen jeglicher Annehmlichkeiten
europäischer Zivilisation geprägt war, mit miserabler medizinischer
Versorgung für die Kinder, die von schweren Krankheiten geplagt wurden,
kehrte er niedergeschlagen nach Polen zurück. Als Trost schenkte ihm
seine Frau noch eine Tochter, Ida. Wenige Monate später floh er vor der
Armut, der religiöser Intoleranz und den Pogromen in seiner polnischen
Heimat zu seinem Bruder nach Belgien. Dort kamen Noemi, Chaya und
Yizchok auf die Welt.
Kaum hatte sich mein Großvater Jossl Berger in Antwerpen als
Diamantenhändler etabliert, da brach der erste Weltkrieg aus. Die
deutschen Truppen überschritten die belgische Grenze. Die inzwischen
elfköpfige Familie flüchtete über Holland nach England. Schon nach
kurzer Zeit gelang es Jossl Berger, mit Hilfe jüdischer
Flüchtlingshilfsorganisationen in der neuen Heimat als Diamantenhändler
wieder Fuß zu fassen und der Familie einen beachtlichen Wohlstand zu
sichern. In der pulsierenden Weltstadt London wurden Becky und Ephraim
geboren. Bestrebt, sich der modernen Welt anzupassen, anglisierten die
Kinder und die Eltern alle ihre jüdischen Vornamen. So hieß mein
Großvater Jossl von nun an Josef und aus dem Vornamen meines Vaters
Leibusch wurde Leon.
Doch selbst die Verantwortung für die stolze Zahl von elf Kindern machte
Josef Berger nicht sesshaft. Ahasver, der ewige Jude, schien in ihn
gefahren zu sein und der trieb ihn rastlos über die Landkarte Europas.
Deutschland hatte nach dem ersten Weltkrieg unter den Juden Osteuropas
einen sehr guten Ruf genossen. Dort, so hörte man, würden die Juden als
gleichberechtigte Bürger geachtet. Kaiser Wilhelm hatte sich während des
Krieges in einer patriotischen Ansprache persönlich an die Juden gewandt
und sie als große Freunde Deutschlands bezeichnet. Zudem meinte jeder
Ostjude, mit seinem Jiddisch auch Deutsch sprechen zu können. Kein
Wunder, wenn es auch Josef Berger magnetisch nach Deutschland zog,
vielleicht auch deshalb, weil ihn, als Besitzer englischer Pfunde, die
schwindelerregende Inflation des Jahres 1923 in Deutschland zum
Millionär machte. Das gab ihm den letzten Anstoß, seinem Jugendtraum zu
folgen und sich in dem Land Mendelssohns und Beethovens, Heines und
Goethes, Einsteins und Plancks niederzulassen. Er reiste voraus und
ließ, von märchenhaften Verdienstmöglichkeiten überzeugt, einige Wochen
später die ganze dreizehnköpfige Familie nachkommen. In Berlin kam
Esther auf die Welt. Und vielleicht wäre sie nicht der letzte Spross der
kinderreichen Familie geblieben, wenn Ziwia Berger, die beklagenswerte,
ganz im Schatten ihres Mannes lebende Mutter von zwölf Kindern, nicht im
Jahre 1935 die Welt verlassen hätte. Ihre Kinder konnten sich als
Erwachsene nicht an Zeiten erinnern, in denen sie nicht schwanger
gewesen wäre. Und sie hätte die Arbeit mit den vielen Kindern kaum
bewältigen können, hätten nicht die ältesten Töchter für die Jüngeren
die Mutterrolle übernommen.
Das Diamantengeschäft lief in Josef Bergers neuer Wahlheimat sehr gut
an. Seinem vermeintlich untrüglichen Gespür folgend, fühlte er, dass er
zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Berlin schien damals die
aufstrebende Kulturhauptstadt der Welt zu sein, kosmopolitisch und, wie
man heute sagen würde, multikulturell. Er hatte das Gefühl, hier trotz
seiner fremden Abstammung und Religion als Mensch respektiert zu werden
und meinte zudem, endlich das Tor zum wirtschaftlichen Erfolg
aufgestoßen zu haben, nach vielen Jahren rastlosen Suchens.
Doch der schöne Traum von einem reichen, aufgeklärten und
judenfreundlichen Deutschland entpuppte sich schon bald als ein böser
Albtraum. Die Familie musste abermals fliehen und zerstreute sich
schließlich über Westeuropa, Nordamerika, Palästina bis nach Südafrika.
Je weiter weg von den germanischen Barbaren umso sicherer glaubte man
damals als Jude zu sein. Doch nur wenigen Familienmitgliedern gelang die
Flucht an einen wirklich sicheren, für die deutschen Truppen
unerreichbaren Ort. Die meisten, auch Josef Berger, überlebten den Krieg
in Frankreich, in ständiger Furcht vor ihren Verfolgern, die ihnen auf
den Fersen folgten: von Deutschland nach Belgien, von Belgien nach
Frankreich, und dort bis in die letzten Winkel der Provence. Doch auch
auf der Flucht, in Internierungslagern und Verstecken, verlor die
Familie nicht ihren Überlebenswillen. Vor der Selbstaufgabe bewahrte sie
ihr verzweifelter Glaube an den nahen Sieg der Gerechtigkeit.
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