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Schulz, Helmut H.

Erzählungen aus drei Jahrzehnten. Band 2

2008, 212 S., Tb, ISBN 978-3-89626-788-7, 13,80 EUR

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Die in diesem Band getroffene Auswahl aus früheren Veröffentlichungen wird zeitlich vom Übergang der Roten Armee 1945 über die Oder und dem Beginn des Endkampfes um Berlin bis zum Einzug der amerikanischen und britischen Truppen im Juli 1945 und der Aufteilung der Stadt in vier Sektoren und Hoheitsgebiete begrenzt.
Es sind die Nachbeben des Zusammenbruchs und der Kapitulation, die von
einem Zeitzeugen für die Nachgeborenen ins Blickfeld gerückt werden.

 

Inhalt


Meschkas Enkel (1974/1984) 7

Mein Großvater Asa-Thor (1984) 97

Felix Morak (1984) 133

 

 

Leseprobe

Meschkas Enkel

1
An diesem Frühwintermorgen erschien die Ebene wie ein Stahlstich. Aus haarfeinen Linien und Schraffuren setzten sich Felder, Wege, Siedlungen und Brachliegendes zu einer reglosen Landschaft zusammen. Raureif lag darüber. Be­grenzt wurde die Ebene von einem flachen blaßblauen Berg­kamm, dessen Linie durch drei Burgruinen unterbrochen war. Vollkommen weiß stand der Himmel darüber mit einem diesigen orangeroten Sonnenball, und die Luft glich einem hauchzarten Kristallgitter. Das versprach einen kalten, aber klaren Tag. Auf der steilen Straße, die in die Ebene hinunterführte, rollte ein Bus. Alle Plätze waren besetzt, aber es stand nie­mand. Den Mittelgang versperrten Gepäckstücke.
Meschka, auf einem der vorderen Plätze sitzend, hielt einen prallgefüllten Ranzen auf den Knien, einen alten, mit gelbem Fell be­spannten Tornister. Meschka trug eine kurze, jetzt offene Pelzjacke, deren breiter Kragen über die Schultern herabfiel. Ein grob gestrickter grauer Pullover sah unter der Jacke hervor und die Spitzen des Hemdkragens. Den Kopf Mesch­kas bedeckte eine große Tschapka aus schwarzem Fell, anders als der breite Jackenkragen, der aus wolfsgrauem Pelz gemacht war. Wie Rabenflügel wippten die offenen Ohren­klappen bei jedem Schlagloch, das der Busfahrer nicht vermei­den konnte. Meschka bewegte die frierenden Zehen in den wei­chen hohen Stiefeln, in denen eine hellgrüne, aus drillichähn­lichem Zeug genähte Hose steckte. Die Mütze vom Kopf neh­mend und die Ohrenklappen mit den Bändern verknotend, richtete Meschka, den Kopf zur Seite drehend, seinen Blick auf Christian.
»Der Tag wird kalt, mein Junge«, sagte er.
Der Junge aber verschloß sich einem Gespräch, er sah rechts aus dem Fenster und rückte sogar von dem Alten ab. Der beugte sich vor und sagte unbeirrt freundlich: »Für dich wird es aber auch eine sehr weite und lehrreiche Reise werden. Überhaupt wirst du ein völlig neues Leben anfangen, mein Kind. Du hast ja keine Ahnung, wie groß dieses Land ist und wie viele Freunde du hast. Das Land reicht oben bis ans Meer. Es ist von großen Strömen begrenzt, gegen die unsere Bäche und Flüsse geradezu ein Nichts sind. Zu schweigen von den Städten und Fabriken. Du wirst staunen. Was wollte ich doch sagen?«
»Du willst mich bloß weghaben«, antwortete Christian.
Meschka tat erstaunt. »Das solltest du nicht sagen, ja, übrigens bist du noch zu klein, um bei so wichtigen Ent­scheidungen gefragt zu werden. Und du wirst sehen, alles ist halb so schlimm.« Meschkas Hand fuhr in den Schopf des Jungen; sie schüttelte den Kopf Christians sanft, wie die Katze ihr Junges. »Ach, du Luderstück«, sagte Meschka lächelnd.
Auf dem Vordersitz drehte sich eine Frau herum. Sie musterte den Alten, und Meschka fühlte, daß er der Frau eine Erklärung für seine Rede an Christian schuldig war. »Sie müssen wissen«, erklärte er, sich näher an das Ohr der Frau heranschiebend, »daß ich den Jungen zu meiner Tochter bringe.« Er nannte die Stadt und fuhr fort: »Ich würde das Kind gern behalten, aber es soll raus aus dem Dorf, in die Stadt soll es, und meine Frau ist derselben Ansicht wie ich. Meine Tochter lebt in sehr guten Verhältnissen. Ihr Mann ist ein angesehener Bauingenieur. Sie haben selbst zwei Kinder, aber meine Tochter wird den Sohn ihrer leider früh verstorbenen Schwester gern zu sich nehmen, bin ich sicher.«
Die Frau auf dem Vordersitz drehte den Kopf wieder weg. Meschka beugte sich noch weiter vor, um ihr die traurige Geschichte zu Ende zu erzählen, aber plötzlich verfing sich ein Szenenwechsel außerhalb des Busses in seinem Blick. In der Ebene erhoben sich stählerne Gittermaste, hoch, noch ohne Kabel. In den Kronen und in der Mitte der Maste turnten Männer herum, und eine Zugmaschine unten zog ein Kabel durch die dafür bestimmte Rollvorrichtung. Meschka begriff, und er machte Christian darauf aufmerksam. »Eine großartige Sache, mein Junge. Schau dir mal diese Burschen da oben an, schweben frei wie ein Vogel, eine Arbeit für Männer mit starken Herzen, verwegene Männer, die etwas wagen. Wäre ich so jung wie du, würde ich mich dafür inter­essieren, es wäre eine Arbeit für uns beide, meinst du nicht?«
Aber der Bus fuhr weiter, das Bild verflüchtigte sich rasch, und Meschka fragte ernüchtert: »Willst du etwas essen?«
Christian schüttelte zuerst den Kopf, dann nickte er, und Meschka sagte lächelnd: »Das ist deine Art, dieses zaudern, ich kenne dich.« Er öffnete den Fellranzen. »Was haben wir denn da? Schinkenbrote und Äpfel. Höre, es gibt nichts Schöneres, als so zu fahren, zu essen und hinauszusehen. Das ist wie im Kino. Draußen fliegt das Land vorbei, alle Augenblicke gibt es etwas Neues, wir sitzen und essen. Danach können wir vielleicht etwas schlafen. Wenn wir aufwachen und uns die Augen reiben, steht die Sonne hoch im Mittag. Wir steigen aus und sind mitten in einer Stadt, setzen uns, sagen wir, auf den Rand eines Brunnens und sehen, was es dort gibt, Häuser und Autos, Fabriken, einen Dom vielleicht, in den wir hineingehen können. Du wirst staunen. Es gibt in solchen Kirchen Altäre, die sind ganz aus Holz geschnitzt, so ähnlich, wie ich die Schnecken an den Wirbelkästen meiner Geigen aus­steche. Aber solch ein Altar ist ganz was anderes, wunderbare Figuren sieht man, geschnitzt und bemalt, ganze Szenen sind dargestellt, alles ist sehr kostbar, niemand darf das Schnitz­werk berühren, und du fragst dich, wie konnte es ein Mensch machen, bloß mit seinen Händen und dem kümmerlichen Werkzeug.«
Mißtrauisch drehte ihm Christian das Gesicht zu, aber der Alte sah geradeaus, als sähe er die von ihm heraufbeschworenen Wunder. Seine Hände hielten ein derbes Schinkenbrot und ein Klappmesser mit heller breiter Klinge. Der Junge erwartete, daß sein Großvater mit dem Messer in das Brot schneiden werde, mit seinem Messer, das in Leder wie in Butter schnitt, aber Meschka sah weiter versonnen nach draußen, bis ihn Christian anstieß. Da nahm Meschka den Faden wieder auf und bemerkte abschließend: »Das ist Vergangenheit. Ich habe damit nicht sagen wollen, die Heutigen seien ungeschickt. Sie sind auf andere Weise tüchtig. Denk einmal an die großen Fabriken; es gibt darunter welche, die größer sind als unser und das Nachbardorf zusammengenommen. Es kommt mir darauf an, dir die Augen für die Welt zu öffnen.«
»Hast du was zu trinken?« fragte der Junge sachlich.
»Das habe ich.« Meschka stellte den Fellranzen zwischen seine Füße. Er kramte darin Tornister herum, bis er eine eingewickelte Flasche gefunden hatte. »Es ist Kakao«, sagte er, ich habe ihn heute früh gekocht, er ist noch warm.«
»Ich will keinen Kakao, hast du nichts anderes?«
»Nichts anderes, nichts anderes.« Ein leichter Unmut klang mit. Meschka bezwang ihn. »Was will der junge Herr denn? Ich habe Bier, dafür bist du aber noch zu klein. Es ist ein berauschendes Getränk, nichts für Kinder.«
Wieder drehte sich die Frau herum, und Meschka erläuterte ihr seine Verhältnisse. »Wie ich Ihnen vorhin sagte, ich weiß Ihren Namen nicht, und kann Sie deshalb nicht ordentlich anreden; seine Mutter ist uns leider zu früh verstorben, und da hat ihn meine Frau ein bißchen verwöhnt, aber meine Tochter wird ihm die Flausen schon austreiben. Sie ist Lehrerin von Beruf.«
»Ihre familiären Verhältnisse interessieren mich absolut nicht,« sagte die Frau schroff. »Reden Sie immer so viel?«
»Entschuldigen Sie.« Meschka fuhr zurück und begann das Brot zu schneiden. Er teilte es für den Jungen in handliche kleine Teile. Christian langte mit der Hand in den Mund und angelte eine weiße Gummikugel heraus, an der er bisher verstohlen gekaut hatte. Nun wußte er nicht, wohin damit und steckte ihn einfach in die Tasche seines Mantel.
Aber der Alte bemerkte die Bewegung. »Hast du wieder dieses Zeug gekaut? Und woher hast du das Geld, es zu kaufen?« Er versuchte seine Stimme zu dämpfen, um die Frau nicht noch einmal gegen sich aufzubringen. »Ich habe dir hundertmal schon gesagt, es ist äußerst unanständig, einen Menschen, mit dem man spricht, anzugnatschen. Ich bin ein Mensch, wenn ich auch dein Großvater bin, und solltest du gar noch diese Blasen machen, red’ ich kein Wort mehr mit dir. Mal mußt du es schließlich lernen. Also merk es dir!«
»Es ist Bubbelgum«, sagte das Kind lakonisch, »und jetzt habe ich Hunger.«
»So heißt das Zeug? Gut, daß ich es weiß, so kannst du mich wenigstens nicht überlisten, sollte ich wirklich einmal nachgeben und dir ein Zugeständnis machen.«
Kauend sagte Christian: »Das glaube ich nicht.«
»Was glaubst du nicht? Daß ich so etwas kaufe? Ich glaube es auch nicht, denn ich bin konsequent, das heißt, ich bin in meinen Grundsätzen beständig.«
»Ich glaube aber nicht, daß du nicht mehr mit mir sprichst,« sagte Christian.
Meschka drehte den Kopf zum Mittelgang, um die Heiterkeit zu verbergen, die seinem Erziehungsversuch abträglich war.