Friedländer, Vera

Man kann nicht eine halbe Jüdin sein

2008, 4. Aufl., [= Autobiographien, Bd. 31], TB., 367 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-89626-786-3, 22,80 EUR

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort 7

Teil I 11
Bestandsaufnahme 11
Die große Familie 25
Fromme und unfromme Gedanken 39
Vater Jakob 50
Die Galerie im Winkel 58
Am Strausberger Platz 67
Zwei sondern sich ab 73

Teil II 77
Abschied von den Alten 77
Lörrach 88
Debora 114
Die große Welle 127
Notlügen 142
Nachrichten aus Theresienstadt 145

Teil III 153
Zwei illegale Schuljahre 153
G. Kärger AG 165
Sonnentage 174
Unsere Namen 185
Die Leinendecke 195

Teil IV 203
Ein Güterzug voller Freiwilliger 203
Mutter und ich 208
Risiken 221
Salamander 229
Zwischen Trümmern und Flammen 247
Im Bunker am Alexanderplatz 259
Der 1. Mai und später 271

Teil V 283
Der Major und die anderen 283
Sascha 290
Warten und hoffen 296
Glauben oder wissen 305
Lernen 315
Das Manuskript 331

Nachtrag zur 2. Auflage 335

Nachwort zur 4. Auflage 353

Namentlich genannte Personen der Familie 359
 

 

Vorwort der Autorin

Mein Entschluss steht fest: Ich will notieren, was ich weiß. Das wird nicht einfach sein nach so langer Zeit. Von einer Familie will ich berichten, die mich mit ihrem Schutz umgab. Es war eine große Familie. Es gibt sie nicht mehr.

 

Ich sei es den Verschwundenen schuldig, meint Erwin. Wenn man dreißig Jahre miteinander lebt, weiß man, was der andere tun muss. Er hat Recht, ich muss es aufschreiben. Denn nicht einmal ihm habe ich alles erzählt. Manches lässt sich eben nicht aussprechen. Ich habe es versucht, dann gezögert und es auf später verschoben. Das geht nun nicht mehr. Ich muss frei werden, indem ich berichte. Eher konnte ich es allerdings auch nicht, weil man Zeit braucht, um zu verstehen.

 

Also spanne ich ein Blatt Papier in die Maschine und beginne, Namen und Daten zu notieren. Ich nehme andere Blätter, um sie mit Erinnerungen zu füllen. Ich glaube, es geht. Das weiße Papier ist teilnahmslos.

 

„Was schreibst du da?“, fragt mich mein Sohn Ulli. „Das sind doch nicht etwa die Geschichten von früher?“

 

„Doch, die alten Geschichten“, antworte ich, ein wenig ärgerlich über den Ton und über die Leichtigkeit, mit der er es so dahinsagt – die Geschichten von früher.

 

„Nun sei nicht gleich böse“, lenkt er ein, „ist ja nicht so gemeint.“ Er liest die Seite, greift nach den anderen, die neben der Maschine liegen, liest auch die.

 

Ich werte es als Anerkennung und es macht mir Mut weiterzuschreiben. Er soll die Geschichten erfahren, und zwar alle, nicht nur die wenigen, die ich gelegentlich erzähle, wenn ein Name fällt, den er nicht einordnen kann, und wenn er fragt: „Wer ist denn das nun wieder?“ und ich ihm sage:

 

Na, das ist der, der nicht mitfuhr nach Lörrach, an die Schweizer Grenze.

Oder – die mit den Kindern auf Transport ging.

Oder –die die Karten aus Theresienstadt schrieb.

Oder – das war der Älteste, der noch die Sprüche kannte.

 

Die Geschichten, die dazu gehören, hat er zur Kenntnis genommen: mit Spannung – das selten –, mit Gelassenheit, auch mit Verwunderung.

 

Kürzlich sind ihm die alten Familienfotos aus dem Nachlass meiner Eltern aufgefallen. Er hatte mich beobachtet, als ich sie ordnete. Eins der Fotos hatte ich herausgesucht, eingerahmt und zu anderen gehängt, in eine Nische, wo Fremde nicht vorbeikommen.

 

„Das bist du ja!“

 

„Da war ich vierzehn, gerade so alt, wie du jetzt bist.“

 

„Und wer ist das kleine Mädchen auf dem Bild?“

 

„Später erzähle ich dir ihre Geschichte“, wehrte ich ab. Wie so oft, wenn ich mich in der Vergangenheit bewege, war Bedrücktheit über mich gekommen. Ulli schaute von dem eben aufgehängten Bild zu den anderen und dann zu mir. Er sah mich an, als habe er mich so noch nicht gesehen.

 

Seitdem hat er manchmal nach dem kleinen Mädchen gefragt. Durch diese Fragen sind auch seine älteren Geschwister wieder auf die Bilder aufmerksam geworden, man geht ja oft an Vertrautem vorbei, ohne es zu bemerken. Aber weder der große Bruder Herbert, der sonst alles zu erklären weiss, noch Jutta, unsere Älteste, kennen sich so genau aus. Darum haben auch sie wieder zu fragen begonnen und ich habe ihnen mal dieses, mal jenes erzählt. Manchmal habe ich Erwin angesehen dabei: Wie gut, dass es alte Geschichten für sie sind. Wie gut, dass sie sie kennen.

 

Aber sie kennen ja nicht alle. Nur die freundlicheren unter den unfreundlichen. Nur die, die erzählbar sind, wenn dich teilnehmende Augen ansehen.

 

Sie hätten gern mehr gehört.

 

„Wie war das mit deiner Grossmutter?“ Das war eure Urgroßmutter, möchte ich sagen.

 

„Warum konnte sie sich nicht in Sicherheit bringen?“

 

„Es waren doch so viele, warum taten sie nichts?“

 

Ich darf die Antwort darauf nicht länger schuldig bleiben. Und wieder mahnt Erwin: „Schreib es auf.“

 

Nun schreibe ich. Ich werde berichten, so genau und so gut ich kann. Fast nichts ist geblieben, was mir als Unterlage dienen könnte. Mag sein, dass ich die Daten manchmal nicht in die Erinnerung zurückrufen kann. Aber die Menschen, die meine große Familie waren, ihre Worte, ihr Handeln, sind für mich lebendig geblieben wie ihr Aussehen, das auf alten Bildern bewahrt ist.

 

Die Fotos, die ich in die Hand nehme, um mein Gedächtnis zu stützen, zeigen mir schöne und weniger schöne Gesichter, sie assoziieren gute und weniger gute Worte. Und nicht nur einzelne Augenpaare schauen mich aus den Bildern an, auch das Gesicht der Zeit, deren Teil ich war.

 

 

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