Eppinger, Gregor

Stumme Väter, stammelnde Söhne. Vater-Sohn-Konflikt, Nationalsozialismus und Pop-Literatur: Zum Roman Die Messe von Günter Herburger

2008, [= Hochschulschriften, Band 19], 105 S., ISBN 978-3-89626-777-1, 26,80 EUR

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Inhaltsverezeichnis

EINLEITUNG 9

 

 

I

TRAUM, VISION, EXTASE

Zum Roman Die Messe 15

 

 

II

UNGLEICHZEITIGKEIT DES GLEICHZEITIGEN

Der Generationszusammenhang 19

 

DER ROMAN ALS FALL-GESCHICHTE

Psychoanalyse und Literatur 21

 

 

III

DER AUSGANGSPUNKT

Ödipuskomplex 25

 

DER MANN IM HAUS

Mutter und Sohn 28

 

FEHLENDE VÄTER UND PHANTASIEVOLLE SÖHNE

Zur Vatersuche 31

 

VATERMORD

Ursprung des Gewissens 34

 

LOYAL BIS ZUM GRAB

Der Verlust des Liebesobjektes 40

 

IV

DAS EINHEIT STIFTENDE SUBJEKT

Zum Kollektivsingular Geschichte 45

 

UNGEWISSE GEWISSHEIT

Der Vater und der Nationalsozialismus 47

 

DIE FREMDHEIT IN DER WELT

Von der Unmöglichkeit des Erzählens 49

 

DAS PAAR DER VERSÖHNUNG

Zum privat-familiären Opfer-Täter-Paradigma 51

 

NAZIFRAUEN UND TRÜMMERWITWEN

Die Stilisierung der Trümmerfrau 56

 

 

V

LEIDENSCHAFT VERBOTEN

Die Vater-Sohn-Beziehung als Institution 59

 

MÄNNERGEMEINSCHAFT

Die Suche nach männlicher Identität 63

 

 

VI

ANBETUNG DES SOHNES

Zum Titel Die Messe 65

 

VATERSCHMAUS

Der Sohn an Vaters Stelle 68

 

VII

NEU GEGEN ALT

Das Motiv des Vater-Sohn-Konfliktes 71

 

FERNE VÄTER, UNBEKANNTE SÖHNE

Zum Motiv der Vatersuche 74

 

UNGELÖSTER KONFLIKT UND MISSLUNGENE SUCHE

Zu den Vater-Sohn-Motiven im Roman Die Messe 76

 

BÄCHLER, FICHTE, LENZ

Das Vater-Sohn-Verhältnis im Vergleich 78

 

 

VIII

DAS SYMBOL AUF DEM KOPF

Die Erforschung der Sinngebung 85

 

 

RÜCKBLICK 93

 

AUSBLICK 97

 

LITERATUR 101

 

 

 

Einleitung

 

Der Zweite Weltkrieg hat einen großen Graben zwischen den am Krieg beteiligten Vätern und ihren Söhnen gezogen. Ungefähr ein Viertel aller deutschen Kinder wuchs nach dem Zweiten Weltkrieg ohne Vater auf. In der Mehrzahl der Fälle war er gefallen oder vermisst. Diejenigen, die aus dem Krieg zurückkamen, waren meist durch die Kriegserfahrungen psychisch erkrankt, wohingegen ihre Frauen gelernt hatten, das Leben auch ohne sie zu bewältigen. Die tradierte männliche Autorität konnte nicht mehr aufrechterhalten werden. "Männer, und dazu noch brauchbare oder sogar vorbildhafte gab es nach 1945 um mich herum kaum", schreibt der Psychoanalytiker Hartmud Radebold in seinem Buch Abwesende Väter und Kriegskindheit. In der Psychologie wird von "Parentifizierung" der Söhne gesprochen, die aufgrund der Abwesenheit des Vaters dessen Rolle übernehmen. Dass dadurch eine "Identitätskrise von Männlichkeit" entstand, wie sie in psychoanalytischen Schriften immer wieder erwähnt wird, kann auf den fehlenden Vater zurückgeführt werden. Hinzu kommt die Problematik, die sich bis heute nicht geändert hat: Männer werden weniger mit "Vater sein" assoziiert, als Frauen mit "Mutter sein". Während Mütterlichkeit als Orientierungsmuster für Frauen ausgearbeitet ist, enthält das männliche Orientierungsmuster kaum Aspekte von Väterlichkeit, die mit einer vergleichbaren Vorstellung von Fürsorge verbunden wären. Vaterschaft ist mit Macht, strafender Ordnung und Befehlsgewalt besetzt. Diese Implikationen traten nach dem Zweiten Weltkrieg stärker hervor. Entweder waren die Väter tot, oder ihre Vorstellungen von Macht und Befehlsgewalt auf körperlicher, politischer und moralischer Ebene widerlegt. Uwe Timm schreibt, "daß die Väter nicht nur militärisch, sondern auch mit ihren Wertvorstellungen, mit ihrer Lebensform bedingungslos kapituliert hatten. Die Erwachsenen erschienen lächerlich, selbst wenn das Kind noch nicht fähig war, eine begriffliche Begründung dafür zu finden, aber es war spürbar – diese Degradierung der Väter."

Schon lange vor Alexander Mitscherlich hat Max Horkheimer die durch den Industrialisierungsprozess "sozial bedingte Schwäche" des Vaters herausgearbeitet. Ein Millionenheer von Angestellten brachte einen neuen Vatertypus hervor, mit dem sich die Söhne nicht mehr identifizieren konnten. Der Sohn nahm zwar die gewaltsame Autorität stets als die stärkere wahr, durchschaute aber deren Launen als Ausdruck der Schwäche und hielt deshalb Ausschau nach einem höheren, machtvolleren Vater, einem Übervater. Die Phase des Faschismus kann folglich als eine Hochblüte der Entfaltung von Ersatzvaterschaft im Führerprinzip gesehen werden. Der leer gewordene Platz des Vaters diente dabei als Entstehungsort des verhängnisvollen Ersatzes. Die Söhne von Vätern, die in der Zeit des Nationalsozialismus aufwuchsen, mussten daher nach dem Krieg nicht nur mit einer unbrauchbar gewordenen Vaterfigur umgehen, sondern auch mit einer problematisch gewordenen Ersatzvaterschaft. Autorität war nunmehr negativ konnotiert.

Bei der 68er Generation in der BRD wurden fehlende Anlehnungsmodelle in Form der Revolte deutlich. Sie entwickelten Gegenmodelle wie die antiautoritäre Erziehung, setzten auf Brüderlichkeit und neue Moralvorstellungen. Die Sehnsucht, die Lücke des Vaters zu füllen, bestand jedoch weiterhin und war nicht zu ersetzen, so lautet die Grundthese dieser Arbeit. Anhand des in Vergessenheit geratenen Romans Die Messe von Günter Herburger soll das Vater und Sohn Verhältnis untersucht werden, das ein aufschlussreiches künstlerisches Dokument zum Umgang der 68er Söhne mit ihren Vätern darstellt. "In der Universitätsgermanistik spielt Herburger noch keine Rolle", schreibt Klaus Siblewski im Vorwort der 1991 von ihm herausgegebenen Materialsammlung Günter Herburger. Texte, Daten, Bilder. "Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Herburgers Werken hat noch nicht eingesetzt." Dies ist auch der Befund in Walter Killys Literaturlexikon von 1994.

Wie die Vaterattacken des Expressionismus konnten sich auch die Romane und Erzählungen der 60er und 70er Jahre, die sich mit Vätern im Nationalsozialismus befassten, nie der vereinfachenden Problematik entziehen, dass statt der Alten die Jungen als Ankläger auftraten. Die neue Autorität stellte zuletzt doch nur die Reproduktion der verworfenen Vatermacht dar. Statt Brüderlichkeit wurde das Gesetz des Vaters durch das Gesetz des Sohnes ersetzt, die Pole der Autorität umgedreht. In Herburgers Roman Die Messe übernimmt die Autorität nicht der Sohn, er träumt sich keine bessere Welt, vielmehr geht es ihm darum, in der Welt, in der er lebt, zurecht zukommen. Peter von Matt beschreibt die moralische Überlegenheit der Jüngeren gegenüber den Älteren als "Idèe fixe", die sich durch die Literatur des 20. Jahrhunderts zieht. "Die programmatische Solidarisierung der Autoren mit den Kindern gegen die Väter und Mütter darf als eine Signatur der Moderne betrachtet werden. Das tritt phasenweise etwas zurück und gelangt phasenweise wieder zu neuer Kulmination." Herburger verweigert sich dem Klischee von den Jungen als den Opfern in einer schlechten Gesellschaft. Bei ihm ist der Mythos von der Unschuld aller Kinder, einer Unschuld, die sich weit in die Adoleszenz hinein verlängert, gebrochen. Dies macht seinen Roman Die Messe zu einem wichtigen kulturellen Beitrag der 60er Jahre. Hermanns Protest ist privat, ist Verweigerung, aber auch Unvermögen. Das Interessante daran ist, dass die Autorität der Väter nicht mit politischen Gegenmodellen konfrontiert wird. Vielmehr thematisiert der Roman die Freisetzung oder Verschiebung der Macht aus ihren Anbindungen an die Institutionen. Nicht eine Welt ohne Macht soll gedacht werden, sondern, wie Foucault sagt, "die Macht ohne den König".

Wenn die Sehnsucht, die Lücke des Vaters zu füllen, weiter fortbestand, so stellt sich die Frage, wie mit dieser Sehnsucht umgegangen werden konnte. Wie gestaltet sich die fehlende Vorbildfunktion des Vaters und auf welche Weise tragen Vaterdefizite zu den Individuationsbestrebungen der Söhne bei? Wenn man die Fragen auf den Roman überträgt, ergeben sich drei zentrale Thesen: Erstens hat der Sohn Hermann, der Protagonist, die Phase des Ödipuskomplex’ nicht abgeschlossen und kann daher die Gefühlsambivalenz gegenüber dem Vater nicht verdrängen. Zweitens spaltet Hermann die nicht verdrängte Gefühlsambivalenz auf und überträgt sie in privat-familiäre Vorstellungen eines Opfer-Täter-Paradigmas, wobei er sich selbst zum Opfer stilisiert. Drittens verkörpert Naber als "Jude" und Ersatz-Vater die patriarchale monotheistische Vater-Imago, nach der sich der Sohn Hermann sehnt.

Das Vater-Sohn-Verhältnis sowie der Umgang mit der Vatersehnsucht innerhalb des Romans werden im sozial-kulturellen Kontext der BRD untersucht. Für die DDR ergäben sich andere Ergebnisse und Interpretationsmodelle bei gleicher Methode, da die sozial-kulturellen Kontexte, besonders die Strategien der Vergangenheitsbewältigung in Bezug auf das Dritte Reich, andere waren.

Für die Vergangenheitsbewältigung der BRD ergeben sich zwei Thesen, die anhand des Vater-Sohn-Verhältnisses in dem Roman Die Messe entwickelt wurden: Es liegt erstens eine Identitätsstörung der "Kriegskinder" zugrunde, die sich in einer Opferidentifizierung äußert und dadurch Gefahr läuft, die Differenz der Opferpositionen zu übergehen. Zweitens wird die komplette Objektlibido von den leiblichen Vätern abgezogen und auf die Opfer der Zeit übertragen, also auf Vietcongs und auf die Denker jüdischer Herkunft. Die misslungene Identifikation mit dem eigenen Vater wird in dieser erneuten Identifikation wieder aufgenommen und verschoben.

 

In dem Roman Die Messe geht es ausschließlich um einen Sohn; die Rolle der Tochter kommt nicht vor. Es sollen daher in der Analyse, auch im Bezug auf die 68er Generation, nur Söhne behandelt werden, Töchter sind dabei ausgeschlossen. Wenn im Verlauf der Arbeit nur von Söhnen die Rede ist, soll es nicht die Beteiligung von Töchtern in der Auseinandersetzung mit einem für schuldig empfundenen Vater leugnen. Nur sind die psychischen Mechanismen zwischen Tochter und Vater andere als die zwischen Sohn und Vater.