Frank, Maren

Ein Einhorn ist entsprungen

Kinderbuch, mit Illustrationen von Maren Frank, 133 S., zahlr., teils farb. Abb., ISBN 978-3-89626-750-4, 14,80 EUR

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Das Einhorn Salico lebt in einem Zirkus und ist dort der große Star. Salico fühlt sich wohl bei der Kunstreiterin Daria, aber dann verliebt er sich in ein anderes Mädchen und läuft aus dem Zirkus davon. 

Verzweifelt begibt sich Daria nun auf die Suche und setzt alles daran, Salico zu finden. Aber das Einhorn gerät  inzwischen von einem Abenteuer ins nächste und ist Daria immer einen Schritt voraus.

Auf seinem Ausflug entdeckt Salico zugleich seine geheimen, wundersamen Kräfte - denn schließlich ist er ein Einhorn...

Leseprobe

 

1. Kapitel
Winterquartier

Auf der Suche nach neuen Pferden für ihre Dressurnummern waren die Kunstreiterin Elena und der Zauberer Tirku bereits bei mehreren Händlern gewesen. Daria, die elfjährige Tochter der Seiltänzerin Selina, durfte sie zusammen mit ihrer Mutter begleiten, denn Pferde waren ihr Ein und Alles. Sie nutzte jede Gelegenheit auf einen Pferderücken zu kommen und träumte davon eines Tages als Kunstreiterin durch die Manege zu reiten, getragen von einem prächtigen Pferd.

Elenas Hengst Zeus war so ein Pferd. Er war ein Friese, besaß den rassetypischen Behang, wie das lange Fell an seinen Fesseln genannt wurde, das Daria immer als Wuschelfüße bezeichnete und hatte eine herrliche lange, lockige Mähne. Wann immer möglich sah Daria zu, wenn Elena mit ihm trainierte. Und oft durfte sie ihn trocken reiten, wenn er nach dem Training verschwitzt war.

Aber Zeus war alt, zählte fast doppelt so viele Jahre wie Daria. Elena wollte ein neues Pferd kaufen, das sie an Zeus Seite ausbilden konnte und das in ein, zwei Jahren seine Kür komplett übernahm.

Sie hatten sich viele Pferde angesehen, und Daria hätte am liebsten alle mitgenommen. Doch noch war keines gekauft worden, da Elena bei jedem den Kopf geschüttelt hatte.

Auch bei dem Stall, in dem sie nun standen, sah es nicht so aus, als würde Elena ein Pferd für sich finden. Gerade führte der Händler eine zierliche Fuchsstute mit weißen Fesseln aus einer der Boxen.

Daria beobachtete die Stute. Sie schlug mit dem Kopf, die Ohren spielten und Elenas Miene verfinsterte sich. Ein nervöses Pferd konnte man für die Manege nicht gebrauchen. Dennoch nahm Elena dem Händler die Zügel aus der Hand, führte die Stute ins Freie und saß in einer fließenden Bewegung auf ihrem Rücken. Die Füchsin stieg leicht, was Elena sofort parierte.

Auch als die Stute versuchte auszubrechen, wusste Elena zu reagieren und trieb sie vorwärts. Im starken Trab war sie ein herrlicher Anblick. Das Fell des Pferdes besaß die gleiche Färbung wie Elenas Haare und einmal zueinander gefunden wirkte die Reiterin wie ein Teil der Stute. Unwillkürlich spannte auch Daria genau die Muskeln an, die Elena gebrauchte, um sich auf dem blanken Pferderücken zu halten und die Stute zu lenken.

Auch Tirku nickte wohlwollend. Der Händler grinste über sein unrasiertes Gesicht. Daria gefiel dieses Grinsen nicht. Aber das Pferd war gut, das erkannte sie. Trotz ihrer Zierlichkeit steckte enorme Kraft in der kleinen Stute. Sie würde prächtig unter Elena in der Manege aussehen. Selbst auf dem mit Pfützen durchsetzten Reitplatz vor dem kahlen Herbstwald gaben sie ein beeindruckendes Bild ab.

Tirku sprach den Händler auf Rumänisch an. Daria verstand nur einige Worte, doch den jeweiligen Begriff für Pferd kannte sie in mehr als einem halben Dutzend Sprachen. Sie sah Tirku in den Stall gehen und lief ihm hinterher. Sie wusste, dass er sich nach einem weiteren Shetlandpony für seine Vorführung umsehen wollte.

Sie sah den Zauberer vor einer Box stehen. Aufgrund der hohen Tür war nicht zu sehen, was für ein Pony sich dahinter befand. Sehr groß konnte es jedenfalls nicht sein, selbst die Füchsin hatte rübergucken können.

Daria trat näher und stellte sich auf die Zehenspitzen. In der Box lag ein Fohlen mit Fell, das trotz seines struppigen Zustands und dem Dreck, der an ihm klebte, golden schimmerte.

»Oh der Arme«, entfuhr es Daria. Das Fohlen sah so traurig aus. Es hob nicht einmal den Kopf, obwohl es sicher bemerkte, dass sie vor seiner Box standen. Mitleid und der Wunsch, es in die Arme zu nehmen, regten sich in ihr.

»Daria«, tadelte Tirku, machte aber keine Anstalten sie aufzuhalten, als sie in die Box schlüpfte.

Natürlich wusste Daria, dass man nicht zu fremden Pferden in die Box gehen sollte. Aber das hier war ein Fohlen, das ihr ganz sicher nicht gefährlich werden konnte. Sie kniete sich neben den Kleinen ins Stroh und streichelte über seinen Hals. »Wie weich dein Fell ist. Aber du müsstest dringend gestriegelt werden.«

Der Händler trat zu Tirku und sie begannen miteinander zu reden. Daria bemerkte, dass der grobschlächtige Mann ab und zu auf das Fohlen deutete. Der kleine Hengst – denn dass er einer war, hatte Daria inzwischen gesehen – drückte sein Mäulchen an ihren Arm.

»Du bist mein Pferd«, flüsterte sie ihm zu. Nichts würde sie davon abbringen können. Hier war es, ihr Traumpferd, mit dem sie zur umjubelten Königin der Manege werden würde.

Er spitzte die Ohren und ein Leuchten trat in seine Augen. In diesem Moment überkam Daria das sichere Gefühl, dass dieses kleine, hilflose Pferdchen jedes ihrer Worte verstand. Und mehr noch, er würde auch die nicht ausgesprochenen Worte verstehen.

Auf der Stallgasse erklang das Trappeln kleiner Hufe. Tirku sagte etwas und der Händler antwortete. Sie sprachen schnell, dann war ein kurzes Auflachen zu hören. Ein Pony wieherte.

Tirku lehnte sich über die Halbtür. »Daria? Kommst du? Wir wollen weiter und sicher möchtest du unsere neuen Familienmitglieder begrüßen.«

Normalerweise wäre Daria wie der Blitz losgesaust. Doch in ihrem Schoß lag der Kopf des Fohlens. »Können wir ihn mitnehmen?«

»Was?« Verwirrung malte sich auf die Züge des Zauberers. »Elena hat ein Showpferd für ihre Kür gesucht und ich ein Shetty. Ein Fohlen aufzuziehen kostet viel Zeit und Geld. Und artgerecht halten können wir es doch auch nicht. Ein Fohlen braucht andere Fohlen, mit denen es raufen und über große Weiden galoppieren kann.«

»Aber das hat er hier auch nicht.« Daria hatte kein einziges anderes Fohlen gesehen. Gut gepflegt war der Kleine nicht, bestimmt gab es niemanden, der ihn regelmäßig putzte, mit ihm schmuste und ihm Geschichten erzählte.

Der Händler trat neben Tirku und redete erneut auf ihn ein. Der Zauberer erwiderte etwas und ging dann davon. Kurz darauf kam er zusammen mit Leonie, der Zirkusdirektorin zurück.

Darias Herzschlag beschleunigte sich. Noch mehr, als Leonie zu ihr in die Box trat. »Na, da hast du dir ja was ausgesucht.«

»Bitte Leonie«, begann Daria. »Er ist noch so klein und hat niemanden.«

Leonie nickte. »Ja, seine Mutter wurde vor kurzem verkauft, erzählte der Händler. Ich glaube, er ist ganz froh, das Fohlen loszuwerden. Nur ob das so gut wäre, ihn mitzunehmen?«

»Ihn hier zu lassen wäre noch viel weniger gut«, entgegnete Daria.

»Aber wer soll sich denn um ihn kümmern?«, fragte die Zirkusdirektorin.

»Na, ich natürlich. Ich habe doch genug Zeit. Und Franzi und Joschka helfen mir bestimmt dabei.«

»Ich weiß nicht so …«

»Ach bitte Leonie. Schau ihn dir doch an. Ohne uns wäre er verloren.«

Auf Leonies Gesicht erschien ein Lächeln. »Da hast du Recht.«

Zusammen mit der Fuchsstute und einem gescheckten Wallach für Tirku wurde das Fohlen verladen. Es flossen ein paar Tränen, als Selina ihrer Tochter verbot im Pferdetransporter mitzufahren. »Die paar Minuten wird er schon ohne dich auskommen. Überleg dir in der Zwischenzeit doch einen Namen.«

Daria schmollte. Von wegen paar Minuten, es war eine Fahrt von mehr als zwei Stunden bis zu ihrem Lagerplatz. Aber einen Namen zu überlegen war eine gute Idee.

 

Salico, wie sie den kleinen Hengst nannte, entwickelte sich prächtig. Und bald zeigte sich, dass er ein Schimmel werden würde. Unter dem goldenen, flaumigen Fohlenfell kam leuchtendes Weiß zum Vorschein. Das war ungewöhnlich, Schimmel wurden oft erst im hohen Alter richtig weiß. Und sie hatte noch nie von einem Schimmel gehört, der vorher goldenes Fell gehabt hatte.

»Vielleicht war seine Mutter ein Achal-Tekkiner. Du weißt doch, diese herrlichen Pferde aus Turkmenistan«, sagte Elena. »Diese Rasse ist bekannt für ihren wunderschönen Goldschimmer.«

Daria betrachtete ihr Fohlen und stellte fest, dass sie in keinem ihrer Pferdebücher eines gesehen hatte, auf das eine solche Beschreibung zutraf. Salico war wirklich etwas Besonderes.

Sorgen bereitete ihr nur die kleine Verwachsung an seiner Stirn. Erst war sie so gering gewesen, dass man sie nur beim Drüberstreicheln spüren konnte, doch inzwischen war sie deutlich zu erkennen.

»Sieht nicht aus, als wäre er krank«, beruhigte Tirku sie. »Schau doch, wie munter er mit Kerry spielt.«

Der Shettywallach war Salicos bester Freund. Inzwischen war er etwas größer als das Pony und würde sicher noch weiter wachsen. Was da auf seiner Stirn war, behinderte ihn nicht, auch dann nicht, als der Knubbel großer wurde und eine Spitze bildete.

Wie ein Horn, dachte Daria, als sie ihn eines Morgens betrachtete, während er an seinem Heu kaute. Salico war nun etwa ein Jahr alt und inzwischen komplett weiß.

Horn … Einhorn. Aber konnte das möglich sein? Sie lief in den Wohnwagen zurück, in dem sie mit ihrer Mutter lebte und suchte eilig in ihren Büchern bis sie das über Pferde in der Mythologie fand.

Die Beschreibung der Einhörner passte haargenau auf Salico. Goldenes Fell als Fohlen, dann blütenweiß. Und ein Horn auf der Stirn, dem magische Kräfte zugeschrieben wurden. Angeblich konnten Einhörner sogar schwerste Verletzungen heilen. Sie waren sehr scheu, verliebten sich aber in Jungfrauen und folgten ihnen überall hin. Aber Einhörner gab es nicht in Wirklichkeit, sie waren ein Jahrtausende alter Mythos.

Doch einige Monate später konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, dass Salico ein leibhaftiges Einhorn war. Jedenfalls für Daria, alle anderen hielten das, was sich auf seiner Stirn zu einem Horn bildete, für eine harmlose, natürliche Anomalie. Er wuchs rasch, und bald konnte Daria auf ihm reiten. Salico hatte sie selbst dazu aufgefordert und Daria genoss es, sich von ihm tragen zu lassen. Er bewegte sich mit einer natürlichen Eleganz. Es fühlte sich ein bisschen so an wie schweben. Oder jedenfalls so, wie sie sich Schweben vorstellte, denn wenn Tirku sie schweben ließ, lag sie auf einer für die Zuschauer unsichtbaren schmalen Metallplatte. Salico war sehr klug, begriff jeden Trick, den sie ihm beibrachte sofort.

Und noch etwas war ungewöhnlich an ihm; sein Horn besaß anscheinend tatsächlich magische Kräfte. Als Darias Mutter Selina bei Proben vom Hochseil stürzte, galoppierte Salico zu ihr und hielt sein Horn auf die Brust der bewusstlosen Frau. Sofort flatterten Selinas Augenlider, sie richtete sich auf und sagte »Huch!«, als wüsste sie nicht, wieso sie plötzlich auf dem Boden saß. Ohne die geringste Spur einer Verletzung stand sie auf, wehrte die gut gemeinten, besorgten Ratschläge ab und ging aufs Seil zurück.

Für Daria stand damit eindeutig fest, dass Salico es gewesen war, der ihre Mutter geheilt hatte. Sofort nahm sie ihn mit zu Pippo, dem Clown, den seit Jahren schon der Rücken plagte. Doch hier konnte Salico nichts ausrichten. Weshalb die Skeptiker glauben, Recht zu haben. Aber man macht das Beste aus der komischen Verwachsung und kündigt Salico als Einhorn an.

Das alles war inzwischen drei Jahre her, doch sie erinnerte sich so gut, als sei es gestern gewesen.

 

Der Wagen hielt. Daria schaute aus dem Fenster. Das also war der Platz in Bärenwaldheim, wo sie ihr Winterquartier aufschlagen würden. Sah groß aus, ein bisschen trostlos zwar mit dem spärlichen Gras und vor den kahlen Bäumen, aber sobald alle Wagen und vor allen das Zelt hier standen, würde Farbe ins Spiel kommen.

Sie stieg aus, holte Salico aus dem Transporter und sah sich mit ihm zusammen ein wenig um, während eifrige Hände das Zelt und die Unterkünfte für die Tiere errichteten. Die Pferde, Alpakas und Kamele standen in einem länglichen Zelt, für die Raubkatzen gab es ein Gehege.

Der Westwaldplatz war größer als vermutet. Hier würde sie bei trockenem Wetter gut draußen trainieren können. Und Salico hatte viel Platz zum Galoppieren.

Überall in der Stadt wiesen Plakate auf den Zirkus Ravalli hin. Sogar Salico war abgebildet. Dieses Jahr würde er bei der Weihnachtsvorführung der große Star sein.

Doch bis dahin galt es noch fleißig zu proben.

 

2. Kapitel
Der Beobachter

Werner Schardt verzog das Gesicht, als er aus dem Bus stieg. Sein Bein schmerzte heute stärker als sonst. Dieses kalte Novemberwetter bekam ihm gar nicht.

Nieselregen fieselte auf ihn nieder, während er humpelnd am Straßenrand entlang ging. Ein Auto brauste heran und fuhr durch die große Pfütze.

Wegen seines versehrten Beines konnte Schardt nicht zur Seite springen, so dass das hoch spritzende Regenwasser ihn bis zu den Knien traf. Wütend hob er den Stock und rief dem Fahrer Flüche hinterher. Natürlich war das sinnlos; der Wagen war längst um die Kurve gebogen.

Schardt stapfte weiter, auf das bunte Zirkuszelt zu, das zwischen den kahlen Bäumen hervorblitzte. Musik erfüllte die Luft mit ihrem Gedudel und lud zum Mitsummen ein. Das Trompeten eines Elefanten erklang. Es war nicht so, dass Werner Schardt ein großer Fan von Zirkusvorstellungen war. Im Grunde konnte er sie gar nicht ausstehen.

Doch die vielen Plakate, die beim Bäcker, beim Fleischer, vor dem Supermarkt, ja sogar in der Post und an jeder Bushaltestelle hingen, hatten ihn neugierig werden lassen. Denn jedes dieser Plakate zeigte ein Einhorn in der Mitte des Bildes.

Zuerst hatte Schardt die Plakate ignoriert; zu oft schon war er zu einer Pferdeschau gefahren, in der angeblich ein echtes Einhorn zu sehen sein würde. Immer waren es nur billige Tricks gewesen.

Schardt glaubte fest daran, dass es Einhörner gab, genauso wie er an vieles andere glaubte, dass nicht bewiesen war. Aufgewachsen in einem kleinen, von Aberglauben geprägten Dorf hatte er schon als Kind erlebt, wozu Hexenkraft fähig war. Ihn hatte eine hässliche Warze geplagt, die den anderen Kindern einen willkommenen Grund gab ihn zu hänseln. Eines Tages hatte seine Mutter ihn zu einer im Wald lebenden Frau mitgenommen. In ihrer Holzhütte hatte es würzig nach vielen verschiedenen Kräutern geduftet und eine schwarze Katze war ihm schnurrend um die Beine gestrichen. Die Frau hatte seine Warze besprochen und seiner Mutter eine Kräutertinktur mitgegeben, die jeden Abend auf den hässlichen Auswuchs aufzutragen war. Nach einigen Tagen war die Warze verschwunden.

Wenn die Hexe noch leben würde, so dachte er heute noch, hätte sie ihm sicher helfen können. Doch sie war schon alt gewesen, als er ein kleiner Junge war und nun war er 46. Aber genauso, wie er an Hexen glaubte, glaubte er auch an Einhörner – man musste sie nur finden. Seine karge Frührente reichte gerade so zum Leben, Reisen waren da nicht mit drin, was seine Suche nach einem Einhorn stark einschränkte.

Einmal hätte er fast eines bekommen. Über seine Kontakte hatte er herausgefunden, dass es in Rumänien einen Händler gab, der behauptete, in seinem Stall eine Einhornstute stehen zu haben. Also hatte Schardt sein Geld zusammengekratzt, das Konto überzogen und einen Mittelsmann beauftragt, die Stute zu kaufen.

Der Kauf war problemlos vonstatten gegangen, doch auf dem Transport war das Tier verendet. Wohl aus Kummer, wie ihm der Mann mitteilte, aber davon bekam Schardt sein Geld auch nicht wieder. Und schlimmer noch, auch kein Einhorn. Er wusste nicht einmal, ob die Stute ein echtes gewesen war.

Der Weg führte nun leicht bergan und war am Rand uneben. Zahllose Lastwagen hatten ihre Spuren hinterlassen und immer wieder musste Schardt Pfützen ausweichen. Er biss die Zähne zusammen, als sein Bein bei dem Anstieg protestierte.

Endlich, da lag der Westwaldplatz vor ihm und damit auch der Zirkus. Schardt blieb stehen, atmete tief durch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Trotz der nasskalten Luft hatte ihn der Fußmarsch so angestrengt, dass er transpirierte.

Zwei Clowns in bunten Kostümen und roter Knollennase liefen mit Schuhen wie Oderkähnen an ihm vorbei. In seine Ohren stach erneut das Elefantengetröte.

Schardt hinkte zum Kassenhäuschen und kaufte eine Karte in der ersten Reihe. Unverschämt teuer, aber dafür würde er von dort aus den besten Blick haben.

Bis die Vorstellung begann war noch etwas Zeit, die er nutzte, um sich ein wenig umzusehen. Der Stall für die Pferde war sicher dieses längliche Zelt zu seiner Linken. Gerade wurde von einem hoch gewachsenen, dünnen Mann in einem Frack ein geschecktes Pony hinaus geführt.

»Vorsicht bitte!«, erklang es hinter ihm.

Schardts Augen weiteten sich, als ein Tiger so dicht an ihm vorbei strich, dass er sein Knie streifte. Die Raubkatze warf ihm einen kurzen Blick zu, gähnte dann so, dass alle Zähne sichtbar wurden und trottete weiter neben dem Dompteur her.

Schardt wischte neue Schweißperlen von seiner Stirn. Unverantwortlich so was, man sollte sie glatt anzeigen. Nicht mal ein Halsband hatte der Tiger getragen.

 

Schardts schwindende Geduld war fast aufgebraucht, als das Einhorn endlich in die Manege kam. Auf seinem Rücken saß ein Mädchen im Teenageralter. Ihr langes rotbraunes Haar wehte hinter ihr her, während sie im Galopp am Rand der Manege entlang ritten.

In einer fließenden Bewegung erhob sich das Mädchen, so dass sie freihändig auf dem galoppierenden Schimmel stand. Ein Anblick, der selbst Schardt für einen Moment von dem Horn ablenkte.

Das Mädchen glitt in die normale Position zurück, dann aber hängte sie sich so über den Rücken ihres Reittieres, das sie mit dem Kopf nach unten hing und ihr Haar über den Sand schleifte.

Sie zeigte noch mehrere andere Figuren, ehe sie geschmeidig von dem Einhorn sprang und sich verbeugte. Der Schimmel tat es ihr gleich, ein Vorderbein nach vorn gestreckt, auf dem anderen kniend und den Kopf gesenkt dankte auch er dem Publikum.

Endlich hatte Schardt Gelegenheit das Horn auf seiner Stirn genauer zu betrachten. Der Schimmel war nur etwa einen Meter von ihm entfernt. Genug um zu sehen, dass das Horn natürlich gewachsen war.

Schardts Herzschlag beschleunigte sich. Da war es, sein Einhorn. Das, was er seit fünf Jahren wollte. Der Autounfall, der sein Leben so nachhaltig zerstört hatte, rückte in den Hintergrund. Bald würde sein Bein wieder in Ordnung sein, er würde wieder arbeiten können, nicht mehr auf die dürftige Unterstützung vom Staat angewiesen sein. Und keine Schmerzen mehr haben.

Alles, was er dafür tun musste, war, das Einhorn zu bekommen. Und diesmal würde es ihm gelingen. Schon einmal, im Frühling voriges Jahr, hatte er dem Zirkus ein Angebot gemacht, als er hörte, dass sie angeblich ein junges Einhorn besaßen. Doch auf seinen Brief war nicht einmal eine Antwort erfolgt. Und er hatte damals nicht zu dem Ort reisen können, an dem der Zirkus gastierte.

Aber er erinnerte sich an den Namen, Zirkus Ravalli. Und das da war also das Einhorn, das sie nicht herausgeben wollten. Doch er würde es sich holen.

Applaus drang an seine Ohren und überrascht sah er, dass sich alle anderen Zuschauer erhoben hatten. Mühsam stützte er sich auf seinen Stock und applaudierte ebenfalls. Zum großen Finale waren noch einmal alle in die Manege gekommen. Ein Gepard thronte auf dem Rücken des Einhorns. Seine junge Reiterin lief herum und winkte dem Publikum strahlend zu.

 

Die Nachtluft biss schneidend kalt in sein ungeschütztes Gesicht. Schardt zog den Schal ein Stückchen höher. In seiner linken Hand trug er einen Beutel, der einen Strick, eine Taschenlampe und Geld enthielt. Den Strick brauchte er für das Einhorn, das Geld für ein Taxi zurück, da er gerade aus dem letzten Bus für heute gestiegen war. Erst morgen früh um halb sechs fuhr der nächste. Er brauchte eine Möglichkeit, zurück in seine Wohnung zu kommen, wenn das mit dem Einhorndiebstahl nicht funktionierte. Oder das Einhorn ihn sofort heilte und er es daher gar nicht mitnehmen musste.

Still lag der Westwaldplatz da. Das Zirkuszelt und die umstehenden Wohnwagen wurden nur von der Notbeleuchtung erhellt. Die Unterkunft der Pferde lag im Dunkeln, doch er traute sich nicht, die Taschenlampe zu benutzen.

Seine Finger tasteten über die Plane, bis er die Öffnung fand und hineinschlüpfte. Der warme, würzige Geruch von Pferden und Heu kitzelte seine Nase. Er schaltete die Taschenlampe ein; die Plane war dick genug das Licht abzuschirmen. Leises Schnauben erklang und eine schwarze Pferdenase streckte sich vor, um in seine Richtung die Nüstern zu blähen.

Schardt humpelte durch den Gang, vorbei an den Ponys und an einer Fuchsstute, die mit angelegten Ohren nach ihm schnappte. Wo war denn nur das Einhorn? Sie hatten es doch bestimmt bei den anderen Pferden untergebracht. Er hatte heute Nachmittag gesehen, wie das rothaarige Mädchen es in diesen Stall führte.

Nun hatte er das Ende der provisorischen Boxen erreicht. Und die letzte Box stand offen. Er leuchtete mit der Taschenlampe gegen das dünne Holz. Salico stand auf einem Schild.

Ja, so hieß das Einhorn, er hatte genau gehört, wie das Mädchen es so nannte. Aber wo war Salico? Ausreiten würde bei diesem Wetter und um diese Zeit sicher niemand.

Ein Geräusch ließ ihn erst zusammenzucken und dann reglos verharren. Schritte. Ja, das waren Schritte und sie kamen genau auf dieses Zelt zu, in dem er stand.

So schnell es sein Bein erlaubte humpelte Schardt weiter, fand den zweiten Ausgang und schlüpfte hinaus. Geschafft!

Aber halt, geschafft war gar nichts, er hatte kein Einhorn. Jemand rief etwas, weitere Schritte erklangen, dann wurden Stimmen im Stall laut.

Schardt hielt sich nicht damit auf zuzuhören. Er humpelte zur Straße und als er weit genug entfernt war, rief er mit seinem Handy ein Taxi.

 

...