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Rohner, Isabel

In litteris veritas. Hedwig Dohm und die Problematik der fiktiven Biografie

[= Hochschulschriften, Bd. 13], trafo verlag 2008, 321 S., ISBN 978-3-89626-715-3, 39,80 EUR

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Zu den Rezensionen

Der Ruf von Hedwig Dohm (1831-1919) als brillante Essayistin und Polemikerin ist bis heute ungetrübt. Als Romanautorin wird sie hingegen unterschätzt, was vor allem an der Voreingenommenheit der Rezeption in den 1970er und 1980er Jahren liegt. Hier kaprizierte sich die Forschung einzig auf potentiell autobiografische „Fakten", die Literarizität der Texte geriet gar nicht erst in den Blick. Die Folge: Dohms Ruf als Schriftstellerin wurde nachhaltig geschädigt, und in ihre Biografie mischten sich mehr und mehr die „Tatsachen" aus ihrem Erzählwerk.

Isabel Rohner rückt diese Forschungs-Schieflage wieder zurecht. Sie zeichnet die Tendenzen der Rezeption nach und gibt in literarischen Analysen Einblicke in Dohms künstlerisch-gestalterische Verfahren, die Ironie und die essentielle Intetextualität ihrer Werke. Die Arbeit wird ergänzt durch eine (Re-)Konstruktion von Dohms Leben - jenseits einer biografischen Interpretation ihrer Texte.

 

Inhalt

TEIL I Hinführung 9

1. Hedwig Dohm und die Problematik der fiktiven Biografie 11

1.1. Theoretische Vorüberlegungen 15

1.1.1. Die Tradition des Briefromans 16

1.1.2. Der Wandel des Autobiografieverständnisses 24

1.2. Zur Titelwahl dieser Studie 29

2. In litteris definitio: Feministin versus Schriftstellerin oder Das Problem der Rezeption 31

 

TEIL II Literarische Analyse 41

3. In litteris lector: Schicksale einer Seele als fiktive Biografie der Dekonstruktion 43

3.1. Schicksale einer Seele und die Biografie Hedwig Dohms 43

3.2. Inhalt, Struktur und Rezeption 51

3.3. In litteris norma: Von der Unterwanderung und Dekomposition der männlichen Norm zur doppelten Fiktion 58

3.3.1. Hedwig Dohm, eine Dekonstruktivistin avant la lettre? 60

3.3.1.1. Der Ansatz des dekonstruktiven Feminismus 65

3.3.2. Die Ironie als literarisches Prinzip Hedwig Dohms 69

3.3.2.1. Zur Problematik der Begriffsdefinition von „Ironie" 69

3.3.2.2. Die Ironie Hedwig Dohms im Blick der Rezeption und die Ironie in der feministischen Kritik 77

3.3.2.3. Die Ebenen der Ironie in Schicksale einer Seele 80

3.3.2.4. Erkenntnis der Androzentrik durch die Dekomposition Roms oder Die Voraussetzung für Ironie 97

3.3.3. Die Verkehrung literarischer Figuren 109

3.3.3.1. Die „Apotheose des Märtyrertums": Die Thematisierung des Idylls der weiblichen Toten durch die Figuren Schneewittchen, Ophelia und die mater dolorosa 109

3.3.3.2. Die Verkehrung der verklärten Weiblichkeit: Mignon als todbringende Weiblichkeit, Mignon als Anti-Hamlet und die liebende Mutter als Mann-Weib 116

3.3.4. LiteratInnen zwischen Fiktion und Wirklichkeit: Von Bettina von Arnim bis Adalbert von Chamisso 126

3.4. In litteris error: Schicksale einer Seele und die Grenzen der fiktiven Biografie – eine Zwischenbilanz 128

4. In litteris identitas: Die Novelle Werde, die Du bist: Die Schrift als Ort der Selbsterkenntnis 130

4.1. Inhalt, Struktur und Rezeption 130

4.2. In litteris identitas: Schreiben als Mittel zur Identitätsfindung 137

4.2.1. Brief und Tagebuch als litterae 139

4.2.2. Tagebuch: Introspektion in eine Identitätskrise 142

4.2.3. Warum Agnes sterben muss. Die Identitätstheorie in Werde, die Du bist 149

4.2.3.1. Die Unmöglichkeit einer Identität aus sich selbst heraus: Dohms Palimpsest-Theorie 149

4.2.3.2. Die Unmöglichkeit, Identität durch einen anderen zu erlangen 163

4.2.3.3. Die Krise des weiblichen Subjekts und der Tod Gottes 171

4.2.4. Das eigene Bild: Divergenz von Außen und Innen. Zur Spiegelmetaphorik in Werde, die Du bist 173

4.2.4.1. Spiegelnde Flächen, spiegelnde Menschen: Das Bild einer Fremden 176

4.2.4.2. Schreiben als Spiegel: Suche nach dem Selbst 184

4.2.4.3. Spiegelungen in Rätselbilder vom Leben und vom Tod (1913) 186

4.3. In litteris imaginatio: Imagination als Beschäftigung mit sich selbst und Voraussetzung der Ich-Entwicklung 191

4.3.1. Die drei Visionen 193

4.4. Schreiben als Mittel zur Identitätsstiftung: Von der klassischen Bildungsidentität zum modernen Sein in progress? 198

4.4.1. Die fiktive Biografie der Agnes Schmidt. Hedwig Dohm und die Stimme der alten Frau 200

 

Teil III Biografie oder Biografisierung? 205

5. Die Problematik der Biografie von Hedwig Dohm 207

5.1. Potentielle Quellen einer Biografie über Hedwig Dohm 207

5.1.1. Verifizierbare Daten 207

5.1.2. Äußerungen von Hedwig Dohm 208

5.1.3. Äußerungen über Hedwig Dohm 217

5.2. Hedwig Dohm: Eine Annäherung 223

5.2.1. Kindheit, Jugend, Ehe: Korrektur von Forschungsfehlern 223

5.2.2. Wo wohnte Hedwig Dohm? 234

5.2.3. Umfeld, Kontakte, Publikationen: Wiedergefundene Briefe als neuer Zugang 236

6. Rück- und Ausblick 271

 

TEIL IV Anhang 275

7. Briefe Hedwig Dohms 277

8. Literaturverzeichnis 292

8.1. Texte von Hedwig Dohm 292

8.2. Ungedruckte Quellen zu Hedwig Dohm 294

8.3. Jubiläumsschriften und Nachrufe auf Hedwig Dohm 299

8.4. Rezensionen zu Hedwig Dohms Texten 302

8.5. Sekundärliteratur 303

8.6. Websites 315

9. Personenregister 316

Danksagung 319

Über die Autorin 321

 

 

 

Leseprobe aus der Einleitung

1. Hedwig Dohm und die Problematik der fiktiven Biografie

Beschäftigt man sich mit der Sekundärliteratur zu Hedwig Dohms umfangreichem Werk, stößt man zwangsläufig auf den Faktor „Biografie", und zwar gleich in Bezug auf mehrere Aspekte: So fällt auf, dass, geht es um die Beurteilung von Dohms Erzähltexten und insbesondere um ihren Roman Schicksale einer Seele, immer wieder deren autobiografischer Gehalt hervorgehoben wird. Der Eindruck erhärtet sich, dass es vor allem der Dohm-Forschung der 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts, die sich im Zuge der Wiederentdeckung von Dohms politischen Essays, Feuilletons und Polemiken auch mit ihrem fiktionalen Werk auseinanderzusetzen begann, bei der Rezeption von Dohms Erzähltexten in erster Linie um das Auffinden von autobiografischen Informationen ging. Diese Reduktion von Dohms Novellen und Romanen auf deren biografische Aspekte zog zwei schwerwiegende Folgen nach sich: Erstens wurde durch diese Rezeptionshaltung der literarische und ästhetische Wert der Dohm’schen Prosa völlig unterschätzt, ja sogar fehlgedeutet, da man das Kriterium der literarischen Qualität aufs engste mit dem Aspekt der feministischen Vorbildsbiografie nach der Definition der 70er und 80er Jahre verknüpfte, die in den Texten aber so nicht zu finden war. Es scheint also vornehmlich die Fokussierung der ForscherInnen auf die in den Texten enthaltenen biografischen „Fakten" zu sein, die dazu führte, dass Dohm noch heute als Roman- und Novellenautorin unterschätzt wird.

Der zweite Bereich, der durch die biografisch orientierte Rezeption in Mitleidenschaft gezogen wurde, ist Dohms eigene Biografie, in die sich, eben da man in ihren Romanen und Novellen eigentlich nur sie und ihren feministischen Werdegang finden wollte, immer mehr die vermeintlichen „Fakten" aus ihrer Prosa mischten.

Dass Dohms Protagonistinnen durch die (Fehl-)Interpretation der Forschung einen solchen Einfluss auf Dohms eigenen Lebenslauf haben konnten und die ForscherInnen in ihnen die Autorin selbst zu erkennen glaubten, liegt zum einen, so scheint es, in der Gestaltung der Protagonistinnen und ihrer (fiktiven) Biografien: Die Dohm’schen Hauptfiguren sind – mit nur zwei Ausnahmen – Frauen. Frauen, die, wie Dohm, im Berlin des 19. Jahrhunderts leben, die, wie Dohm, in diesem sozialen Gefüge verwurzelt und dadurch in ihrer Wahrnehmung geprägt sind und die sich, wie Dohm, früher oder später aktiv mit ihrer Situation als Frau in der Gesellschaft auseinandersetzen. Ein weiterer gewichtiger Grund scheint aber auch in der Form der Texte zu liegen, die dem „Wahrheitsanspruch" der Figuren äußerst zuträglich ist, sind es doch meist Brief- oder Tagebuchromane und -novellen, in denen sich die Protagonistinnen in Ich-Form äußern, und gerade diese Medien weisen eine Struktur auf, deren autobiografische Deutung auf eine lange Tradition gründet. Tatsächlich ist die Brief- und Tagebuchliteratur, gerade wenn sie von Autorinnen stammt, rezeptionsgeschichtlich eng mit dem Genre der Autobiografie verbunden. Als Ausdrucksformen des Privaten scheinen die Medien Brief und Tagebuch geradezu prädestiniert, Persönliches zu erzählen, womit eben literarisch der Anschein eines biografischen Gehaltes erzeugt und eine Wirklichkeitssuggestion geschaffen werden kann. Dass es sich dabei bisweilen aber um die fiktive (Auto-)Biografie einer fiktiven Romanfigur handelt, um eine fiktive „Wirklichkeit", wurde oftmals übersehen, und zwar nicht allein in Bezug auf Hedwig Dohm. Die „Wahrheit" über Dohms Biografie aber wurde vor allem in ihren erzählerischen Werken gesucht, und genau dieser Wahrheitsanspruch war es, der keinerlei Raum mehr ließ für eine literarische Interpretation. Dass es gerade aber einer literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihren Texten bedarf, wird im Folgenden ein Blick auf Rezeption und Forschung, aber auch die eingehende Beschäftigung mit zwei für Dohms literarisches Schaffen und ihre Rezeption zentralen Prosatexten deutlich machen.

Beide Texte, Schicksale einer Seele (1899) und Werde, die Du bist (1894), bestehen aus Briefen beziehungsweise aus Tagebuchaufzeichnungen und suggerieren, biografische Texte der beiden Hauptfiguren zu sein. Somit stehen beide Texte auf den ersten Blick ungebrochen in der Tradition weiblichen Schreibens und nutzen in ihrer Erzählstruktur „weibliche Medien", Brief und Tagebuch.

Ein wichtiges Merkmal in der Rezeptionsgeschichte des Romans Schicksale einer Seele ist nun, dass er bis zur Ausreizung autobiografisch gedeutet wurde – was unter anderem zu einer Verschiebung von Dohms eigenen Lebensdaten sowie zu hartnäckigen Gerüchten über ihre Ehe mit dem Schriftsteller Ernst Dohm und zu Vorurteilen über ein mangelndes Selbstwertgefühl geführt hat. Durch diese eingeschränkte Lesart wurden wichtige qualitative Aspekte dieses Textes überlesen, was eine sehr einseitige Interpretation nach sich zog, die Dohm in Bezug auf ihren Ruf als Romanautorin immer noch anhaftet: der Roman gilt bisweilen als trivial und künstlerisch ungenügend, was im engen Zusammenhang mit der gewählten Form des Briefromans steht. Inwiefern die Autorin in Schicksale einer Seele aber mit dieser Form und mit dem Genre der weiblichen Biografie spielt und jene verschiebt, soll in Kapitel 3 ausgeführt werden. Dohm entlarvt durch dieses Verfahren die den Frauen immer wieder nachgesagte, ja „angedichtete" Schlichtheit und Natürlichkeit als Konstrukt, als Fiktion, und stellt unter anderem mit dem Mittel der Ironie die Konstruiertheit weiblichen Seins und weiblichen Schreibens heraus. Jene voreingenommene Lesart der Rezeption aber wird dadurch in ihrer eigenen Schlichtheit erkennbar. Denn so sehr die Ironie als stilistisches und literarisches Mittel in Dohms Polemiken und Feuilletons von der Forschung hervorgehoben wurde, so wenig geriet die ironische Struktur des Romans je in den Fokus gezielter Untersuchungen.

Am Beispiel der Novelle Werde, die Du bist soll ein weiterer Aspekt der fiktiven Biografien Dohms erläutert werden: Auch hier wurde eine konzeptuelle und strukturelle Komplexität und Intentionalität nicht erwartet und somit auch nicht gesehen. Entgegen dieser Rezeptionshaltung werden jedoch gerade in dieser Novelle einige zentrale Aspekte in der Dohm’schen Gestaltung fiktiver Biografien und die Modernität ihres Schreibens deutlich. In Kapitel 4 wird somit die Beschäftigung mit Dohms Sprachkonzeption und die in der Novelle zum Tragen kommende Identitätstheorie im Zentrum stehen.

Bei beiden Texten ist ein weiteres zentrales Gestaltungsmoment in den verwendeten dekonstruktiven Verfahren zu sehen: Mittels eines dichten intertextuellen, bisweilen auch intermedialen Netzes nehmen die Protagonistinnen schreibend Bezug zum traditionellen (männlichen) Kanon und zu darin gestalteten Weiblichkeitsbildern, die sie thematisierend unterlaufen, verschieben oder verkehren.

Die Analysen der beiden Erzähltexte, Schicksale einer Seele und Werde, die Du bist, werden dabei ergänzt von einer Darstellung der allgemeinen Problematik der Dohm-Rezeption, welche vor allem an einer strikten Unterscheidung zwischen Dohm als Verfasserin satirischer Essays und Polemiken und Dohm als Roman- und Novellenautorin krankt(e).

Da sich die Forschung in der (Re-)Konstruktion von Hedwig Dohms Leben zu einem großen Teil auf die fiktiven Biografien der Roman-Protagonistinnen stützte, bietet sich mit Blick auf die Sekundärliteratur eine Ergänzung der literarischen Analyse ihrer Texte an: eine Darstellung der Problematik von Dohms eigener Biografie, beziehungsweise der diesbezüglichen Forschung. Eine solche Ergänzung scheint sogar dringend notwendig, sind in den vorliegenden Versuchen doch beträchtliche und bisweilen auch unverständliche Fehler und Lücken zu konstatieren. In Kapitel 6 werden daher diesbezügliche Forschungsfehler thematisiert und berichtigt sowie neue, bisher ungenutzte Zugänge aufgezeigt.

Dohms Leben erfuhr schon früh, noch zu ihren Lebzeiten, eine „Biografisierung": Im Zuge von (Kurz-)Biografien oder Enzyklopädieeinträgen wurde es (re-)konstruiert und nacherzählt, was Verschiebungen und Veränderungen nach sich zog. Es wurden Akzente gesetzt und Texte, insbesondere Dohms Roman Schicksale einer Seele (1899) und ihr Aufsatz Kindheitserinnerungen einer alten Berlinerin (1912), aber auch Thomas Manns Essay Little Grandma (1942), mit auffallender Ausschließlichkeit auf potentiell biografische Informationen hin gelesen; die Texte werden in Teil III besprochen. Zweck dieser „Biografisierung" war es wohl, das Leben von Hedwig Dohm als exemplarisch für die Emanzipation einer Frau zu stilisieren, die trotz mangelnder Bildung und ohne Unterstützung ihres Umfeldes zu einer der wichtigsten Vordenkerinnen und Vertreterinnen der radikalen Frauenbewegungen in Deutschland werden konnte.

Dohm selbst hat dieser „Biografisierung" nicht entgegengewirkt. Beim Lesen ihrer Briefe, gerade bei ihrer Korrespondenz mit anderen Publizistinnen, entsteht sogar mancherorts der Eindruck, dass sie selbst nicht ganz unschuldig war an einigen Ungenauigkeiten, die über ihr Leben in Umlauf kamen. So hatte sie mit Adele Schreiber, ihrer ersten Biografin, über Jahre hinweg Kontakt, und dennoch sind mehrere grundlegende Fakten in Schreibers Text nachweislich falsch. Im dritten Teil wird aus diesem Grund auch auf die Quellenlage für eine Biografie über Dohm eingegangen. Ein zentraler Fokus liegt dabei auf der Korrektur von Forschungsfehlern und der Diskussion von Texten über Dohms Leben. Und in diesem Zusammenhang werden der Forschung bislang unbekannte Quellentexte vorgestellt und für eine Konstruktion von Dohms Lebensverlauf zugezogen: Hedwig Dohms Briefe. Zum ersten Mal in der Forschungsliteratur steht dieser Studie ein Korpus von über 80 bislang unbekannten Handschriften von Dohm zur Verfügung, die einen Einblick in das soziales Netzwerk geben, in dem sich die Autorin bewegte. Die Briefe werden gesondert im Rahmen der nun entstehenden Edition Hedwig Dohm ediert.

Für die Offenlegung der durchaus traditionellen Muster und Automatismen, auf welchen die rein biografische Lesart der frühen Dohm-ForscherInnen beruht, ist es jedoch zunächst sinnvoll, auf die Tradition des Briefromans und den Wandel im Autobiografieverständnis einzugehen.

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