Michael Zech

Wo bist du, mein liebes Heimatland

Roman der Gegenwart, [= edition obst & ohlerich, Bd. 5], trafo verlag 2007, 170 S., ISBN (13) 978-3-89626-711-5, 12,80 EUR

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Buchlesungstermine

Zu den Rezensionen

Unsere Welt ist der Tagebau. Globendorf, Abrisskante und ein
Naturschutzgebiet sind Rainers Terrain. Doch da war auch Roswitha, die
geht nun mit Fred, Privatdetektiv, ehemaliger Stasispitzel. Es ist die
Zeit der Wende, auch für Jens, der sich in Friedberg über dem
Kolonialmuseum eingerichtet hat. Nicht alle überleben, wie die
Tschuktschenfrau.

Michael Zech bebildert mit einer kraftvollen und einfühlsam dressierten
Sprache das Drama einer Welt im Umbruch. Vier Biographien suchen ihren
Weg durch die Nachwendezeit, immer nahe am Scheitern. Und doch gibt es
etwas, das sie am Leben hält.

 

 

Leseprobe

 

I Beziehungen

Von allen Seiten umgibst du mich

und hältst deine Hand über mir.

Psalm 139,5

Der Frau mochte es nicht gut gehen, nichts bewegte das Gesicht, das die kantigen Wangenknochen schon hart genug machten. Nur für den Bruchteil der Sekunde, als der auf sie zustrebende Passant ihr beinahe in die Arme gestürzt wäre; da sind ihre kurzsichtigen Pupillen nach rechts, nach links und zurück gehüpft, wie von einem Sonderprogramm gesteuert, das sich im GAU-Fall selbstständig einschaltet. Bis sie noch in der selben Sekunde den Platz gefunden hatten, von dem aus sie dem Unvorsichtigen, der sich seitwärts retten konnte, einen zaghaften, aber distanzierten Blick zusenden konnte.

Roswitha Fuchs eilte in ihre Wohnung. Verriegelte die Wohnungstür, legte den Mantel ab, auf einen Stuhl, streifte die Füße aus den Schuhen, die dann im schmalen Korridor der Altbauwohnung liegen blieben.

Sie wohnten hier zu zweit. Doch ihr Mann würde erst am Abend kommen. Manchmal fühlte sie sich deshalb allein, doch heute war ihr das recht.

Der CD-Player wurde eingeschaltet, Herman van Veen: Die Nachricht warf mich aus dem Gleis, mir zittern noch vor Schreck die Knie, soeben las ich schwarz auf weiß, die Bombe fällt nie.

Sie nahm eine Flasche Gin aus dem Regal. Zum ersten Mal, seit Rainer und sie sich verabschiedet hatten, bogen sich ihre schmalen Lippen zu einem schwer zu deutenden Lächeln.

Zufrieden bin ich nicht, so wie es jetzt ist. Denn eingeschlagen hat es in ihrem Leben nicht, was sie immer sicher angenommen hatte, schon als sie noch mit Rainer zusammenlebte. Wer weiß, was ihr derzeitiger Partner wirklich von ihr wollte, ein Kind jedenfalls nicht. Das hatte er ihr bald gesagt. Doch sie war wie immer viel zu verliebt, um ihn nicht zu wollen. Und wenn sie einen wollte, dann ganz. (Also Heirat!) Halbe Sachen, jedenfalls in der Liebe, das war nicht ihr Stil. Das war höchstens ihr Schicksal. Hauptsache wollte sie sein, für jeden ihrer Freunde, auch für Rainer (der Vorletzte). Sie hatte Angst, nicht genug geliebt zu sein, und kämpfte mit hartem Schädel und gesunder Pommernleber gegen die unerträgliche Nebensache, zu der sie sich verkommen fühlte.

Es war schlimm damals. Sie war eigentlich noch ein Mädchen, das Rainer liebte, und der begann, sie ungezügelt mit einer Jugendromanze zu konfrontieren, seiner Liebe zu einer anderen Frau, die tatsächlich existierte, aber nie sichtbar wurde. Silvia. Ich kann diesen Namen noch heute nicht hören. Und wie lange hatte sie es noch ausgehalten, mit einem Mann, der den Mut nicht fand, sein Leben zu ändern. Der verschrobener wurde neben ihr, unbeweglicher, grauer, bis sie sich von ihm verabschiedete. Gerade hatte der sie gefragt, ob sie ihn heirate. Da konnte sie nur noch lachen. Sie hatte den crazy man (einen Iren) kennengelernt, der die verrückte Lady in ihr, die leidenschaftliche Saite endlich zum Klingen brachte. Heiraten konnte sie den nicht, denn der war es schon, hatte eine Frau und eine Tochter in Irland, die immer anriefen, aber das machte ihr zunächst nichts aus. Doch Rainer hatte ihr eine Wunde beigebracht, die nicht mehr verheilen sollte.

Natürlich hatte sie heute Angst empfunden. Einen riesen Schreckschuss, als sie Rainer vor sich stehen sah. Rainer gehört zu dem wohl wichtigsten Abschnitt meines bisherigen Lebens.

Später war sie froh. Dass ihr derzeitiges Leben keine Rolle an diesem Nachmittag spielte. Sie hätte nicht von sich sprechen können, wenn er sie gefragt hätte. Und sie wollte es auch nicht, wie sie danach (als sie sich beruhigt hatte) deutlich spürte. Wie erleichtert sie für Augenblicke war, sich nur Sorgen um Rainer machen zu müssen.

Doch wo die Angst ist, muss endlich auch ein Weg sein, dachte sie, und goss Gin in das Glas.

Es gab eine neue Welt. Ihre Entdeckung bedeutete für das Mädchen Roswitha Schmerz, der ihren Körper auseinanderzureißen schien. Die Welt des Schweigens. Eigentlich nicht zu ertragen. Doch die Schreie der Möwen am Meer halfen ihr über die neue Einsamkeit hinweg, dachte sie (träumerisch) zurück.

Ich war ein Mädchen mit Power. Das es zur FDJ-Sekretärin der achten Klasse eines größeren Dorfes an der Ostsee gebracht hatte. Sie war anerkannt, wusste immer genau, was zu tun war, sie war gut in der Schule. Die Welt war in Ordnung. Von den drei Frauen in der Apotheke, die Patenbrigade ihrer Schulklasse, bekam sie zum dreizehnten Geburtstag persönlich ein Buch geschenkt, für erfolgreiche Pionierarbeit, wie es in der Widmung hieß. Die Apotheke lag neben dem Erholungsheim des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, wo der Vater als Hausmeister tätig war. Die Mutter arbeitete im Kindergarten und betreute die Kinder von Lehrern und zwei der Apothekersfrauen. Gab es im Winter meist Betriebsfeiern im Tanzsaal des großen Erholungsheimes, waren sowohl Lehrer, Apothekerinnen und natürlich die Eltern dabei. (Auch wegen der Partnerschaften zwischen den Brigaden.)

Und nun gab es zwei Ereignisse in diesem Jahr, die alles infrage stellten. Der Bruder der Mutter aus dem Nachbardorf verstarb. Und es wurde nicht darüber geredet. In der Eindeutigkeit, wie die Eltern sich gaben, tat sich plötzlich Unsicherheit auf. Zudem wurde ihr mit der ersten Monatsblutung deutlich, dass mehr nötig war, um Erfolg zu haben, als bisher. Ihr Körper aber, vor allem ihr Gesicht schien ihr nicht anziehend genug zu sein. Störte es sie bisher kaum, wie sehr der Vater ihre ältere (hübschere) Schwester verhätschelte, reichte doch

das jungenhafte Durchboxen der eigenen Rechte in der Familie (sie sollte ein Junge werden!), auch weil er mit ihr Fußball im Garten spielte. So wurde jetzt klar, dass der Vater sie weniger mochte. Ich war als Frau für Männer nicht attraktiv genug. Auch das Fußballspielen mit dem Vater ließ deutlich nach.

Was sich bis hin in die Schulklassensituation auswirkte. Immer öfter schossen ihr die Blutwellen durch den Körper in den Kopf, verfiel die FDJ-Sekretärin urplötzlich in einen Zustand katatonischer Starre, aus dem sie sich nur durch burschikoses Aufspringen und Verlassen des Unterrichtes befreien konnte. Weinte sie, ganze Krämpfe lang.

Charlie Chaplin war es, der sie tröstete. Sie mochte diese Filme so sehr, dass sie sich selbst welche erfand. Ich war dann der Chaplin, bewegte mich (so), versuchte Witze zu reißen (so), zu lachen (so). Alle, die ihm ähnlich sahen, waren nun ihre Lieblinge. Und da gab es eine ganze Reihe. Der hässliche Pinscher vom Nachbarn, Oma Dörte, bei der sie so etwas wie Frieden fand und immer wieder suchte. Und dann vor allem das Meer. Hinter dessen unendlicher Weite und über dessen unergründliche Tiefe hinweg ein Meister des Lebens, ja ein Freund in New York lebte, der seinen Trost hinübersandte mit dem Gekicher einer einsamen Möwe, für mich, der Strandspaziergängerin

Rainer Lebrecht verließ die Apotheke am Gendarmenmarkt, wo er sich ein Präparat zur Stärkung des Immunsystems besorgt hatte. Hoch gewachsen, etwa einsvierundachtzig, wirkte er dennoch schwächlich. Sehr dünn, ein kleiner, blasser Kopf, den eine Wollmütze schützte, die er selten absetzte. Seine Körperpolizei spielte ihm immer wieder Streiche. Verhaftete Grippeviren, die keine waren. Und so jagte er im Kampf gegen die vermeintlichen Erkältungen voran, die seinen Organismus immer wieder heimsuchten.

Das »Lomonossow« in Berlin Mitte betrat Rainer schon fünf nach vier. Schnell zu Fuß von seiner Wohnung erreichbar, hatte er, bevor er kapitulierte, alle Nase lang auf die Uhr geschaut, bis er sich eingestand, dass der Tag für ihn gelaufen war. Auch

als er Platz in einer der dortigen Sitznischen genommen hatte, schaute er auf das von den Zeigern geteilte Rund, als ob er die Zeit seit seinem letzten Orientierungsblick vergessen hätte. Wenn er schon jetzt mit dem Saufen anfangen würde, heißt das, auch den nächsten Tag vergessen zu können. Den Tag, wo Jens in seiner Wohnung Gast sein würde.

Er musste jetzt mehrmals niesen. In die Hand. Einmal. »Scheiße«, zischelte er. Fischte in der Manteltasche nach dem zerknüllten Papiertuch, das er schließlich vor dem Gesicht ausgebreitet hatte, bis es erneut krachte.

Die Augen tränten noch, als die Offiziantka kam. Rainer bestellte sich einen Pernot mit Wasser.

Er hatte (noch) Geld genug, es war erst Anfang des Monats, Gott sei Dank, nichts hasste er mehr, als kein Geld zu haben, die Gewissheit, nicht am Leben der Stadt wenigstens ansatzweise teilhaben zu können.

Niemand außer ihm und der viel jüngeren Bedienung war im Lokal. Die Tanzfläche spiegelte den zur Ruhe gekommenen Staub der Nächte. Am Wochenende wurde hier oft Balalaika gespielt oder Quetschkommode. Und dann wurde getanzt.

Langsam wurde es dunkel. Zu Dutzenden jagten die Lichter von Autokarossen hinterm Glasfenster des einstigen Kaufladens vorüber. Ein Entschwinden und Herbeikommen unter Häuserfassaden, der vollendete Gegensatz zu dem mir genehmeren Bild eines stillen Pfads im Gebirge: Schon lange nicht mehr als Versorgungsweg genutzt. Nur noch Trekkingroute für mutige Touristen im Nationalpark.

Was habe ich schon erreicht, fragte er sich grimmig, und: Was steht mir bevor? Nüchtern – real gesehen, vom Autoverkehrstandpunkt sozusagen, eine Teilzeitstelle in einem Gartencenter als Bürokaufmann. Und die Sicherheit dieser Stelle ist gefährdet durch einen bevorstehenden längeren Krankenhausaufenthalt mit unabsehbaren Folgen für seine Zukunft.

Einen Moment lang wünschte er sich, die Tür würde aufgehen und noch einmal Roswitha eintreten. (Es war noch kaum zwei Jahre her, dass sie sich hier ab und zu getroffen hatten. Sie vertrug mehr als er.) Würde ihm die Sorgen vertreiben, da

sie schön war, wie der Morgen, sehr viel von Schicksal verstand und in ihrer Besorgnis um ihn Geborgenheit ausstrahlte.

Zwei Wesen sind noch in diesem Lokal, dachte er. Dieser Hirnwolf, polysphärisch (im Blick, im Wort, im Griff nach dem Glas). Und das Phantom Roswithas. Was er sich mit einem doppelten Schluck quittierte.

Der Arzt hatte ihm am Vormittag einen weißen Fleck auf dem Röntgenbild seiner Stirnhöhle gezeigt, der so da nicht hingehören würde. Ein Zystenbündel, das Gase abgebe, die allergische Reaktionen hervorrufen würden, unter anderem geschwollene Nasenschleimhäute. Das Ding hatte die Kontur eines Raubtierschädels, eines Wolfes möglicherweise.

Und auf dem Heimweg, gerade heute, muss ich Roswitha treffen.

Sie sind in ein Café gegangen. Und nach zwei Jahren hatte er ihr nichts Besseres zu erzählen, als einen Krankenbericht! Seine Brustwarzen zogen sich zusammen. Sie kam ihm jetzt so liebenswert vor. Jahrelang hatte ich mich mit ihr getröstet. Roswitha, du warst mein Ersatz für Silvia, die ich nicht kriegen konnte. Sie, die Ersatzfrau, und er in einer kleinen Wohnung, vor Jahren, neunundachtzig, ihre gemeinsame Zeit in Elmshorn. Die Imbisskneipe an der Krückau, einsame Gestalten, die am hellichten Tag auf Hockern mit einer Flasche Astra in der Hand an Spielautomaten saßen. All das sah man zum ersten Mal. Das erste Mal Gyros mit Zaziki vom Geld der Sozialhilfe, mit oder ohne Kraut. Dann die neuen blassgrünen Anoraks, einer zu ihren bisherigen Geschmäckern weniger passend als der andere, die sie sich bei Pascal in der Königsstraße gekauft hatten, wahrscheinlich vom Übersiedlerkredit abgezapft. Wir fanden uns darin so hübsch verpackt, wie die Gummitierchen aus einem Westpacket. Unverwundbar in unserer Unbedarftheit … In Elmshorn hatte es zu regnen begonnen. Niesel, Nebelschwaden, Schmuddelwetter ohne Ende. Herbst eben. Und sie hatten nichts anzuziehen. Sie waren ja im Sommer abgehauen.

Die fremd klingende Sprache der Passanten und Bankangestellten um uns herum, das war, auf der Haut sozusagen, der erste Berührungsekel. Nur war man die Minderheit.

...