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Dobenecker, Christel

Lebensraster. Eine Erzählung

2008, 95 S., ISBN 978-3-89626-710-8, 9,80 EUR

 

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Zu den Rezensionen 

 

 

Zum Buch

 

Ein Dasein, in dem man sich wie unter einem fest gefügten Raster bewegt. Zwanghaft, vermeintlich ausweglos. Es wird hingenommen wie eine Gesetzmäßigkeit. Und plötzlich gibt es eine Begegnung, und die Absurdität des Rasters wird einem bewusst. Der Kampf beginnt. Er wird zu einer Zerreißprobe auf dem verlockenden Weg ins Leben, jenseits aller Schatten. Aber jahrzehntelange Krankheit, Magersucht und Bulimie, kann überwunden werden, wenn in einem die Überzeugung gestärkt wird, dass Leiden kein Schicksal ist, und wenn man bereit ist, alle Energien dem Leben zu geben und nicht dem Siechtum. Aller scheinbaren Prädestination zum Trotz bedeutet Ehrfurcht vor dem Leben auch, die eigene Existenz eigenverantwortlich zu behüten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Leseprobe

Anna hebt sinnend den Blick von den Büchern auf ihrem Tisch und schaut durch die großen Fenster der Bibliothek auf die Straße, wo der Verkehr lautlos vorüberflutet. Ein Lächeln malt sich in ihren Zügen: Die Wolken sind aufgerissen, erste Sonnenstrahlen zeigen sich, zögernd noch. Die vage Mattigkeit, die, manchmal lähmend, auf ihr liegt, verflüchtigt sich. Sie atmet tief und zufrieden auf: Der Nachmittag und der Abend werden ganz ihr gehören. Vorfreude beflügelt sie bei der Arbeit. Was wird sie danach erwarten? Es gleicht einem Ritual, dem sie sich immer wieder voller Spannung aussetzt, und ist doch jedes Mal neu. Sie spricht kaum darüber, hütet es wie ein Geheimnis. Ganz Glück und ganz Erfüllung – für einen langen Augenblick. Die Lust am Wiederholen: die Gewissheit, ich kann mir diese Lust wieder holen, immer wieder – und immer anders und darum mit einem Hauch von Abenteuer.

Noch ein paar Notizen aus einem der dicken Wälzer, dann beendet sie ihr Tagewerk und macht sich auf den Heimweg, gönnt sich eine kurze Ruhepause – einen Moment der Sammlung –, das gehört dazu. Und anschließend der Aufbruch mit dem Fotoapparat. Der Apparat als der beste, treueste Begleiter, der das Alleinsein erträglich, ja wünschenswert und zum Erlebnis macht: Er hält fest, was sie aufspürt, findet und sieht. Das Flüchtige gerinnt zu einem Bild, das das Vergängliche überdauert.

Anna schaut zum Himmel: klares Blau und am Horizont, rings um die sich neigende Sonne eine dunklere Wolkenbank.

Eines Tages hat Anna es für sich entdeckt: den Strom und die Brücken und die leicht hügelig angelegten Wiesen und darüber das weite Firmament. Das ist ihr Ziel, und Teil des Zeremoniells ist, dass sie den Weg zu Fuß zurücklegt – kein Bus, keine Bahn. Gespannte Erwartung. Hinausgezögerte Beglückung. Der Weg ist das Ziel. Sie geht gen Westen, Richtung Sonnenuntergang, der noch hinter hohen Gebäuden längs des Ufers verborgen ist. Vorahnung – Überraschung. Ganz offen für alles, was sich ihr bieten wird. Sie möchte den Menschen, denen sie unterwegs begegnet, zurufen: Ich suche und finde Schönheit; seht ihr sie auch?

Als sie den höchsten Punkt der Uferwiesen erreicht hat, spiegelt sich die Sonne bereits altgolden im Wasser, ehe sie hinter den Wolken versinkt. Anna gibt sich diesem Frieden hin und ist noch ganz davon gefangen, als sich das düstere Blauschwarz unversehens zu verfärben beginnt: Ein schmaler goldener Streifen säumt das Wolkengebirge, und ganz allmählich ziehen sich dunkelrote, violette, rosa, orangefarbene Streifen über das hohe Himmelsgewölbe und tauchen alles in ein faszinierendes Licht, als lodere das Dunkel auf und mit ihm sein fast ölig anmutendes Spiegelbild im Wasser. Ein Glühen ringsum. Überwältigt möchte Anna niederknien und ausrufen: Du bist so unsagbar schön, danke; danke für diese Pracht. Ein Moment des Glücks, ein Moment der Sehnsucht, ein Moment des Erschauerns und – auch des Wissens: wie vergänglich ist Glück, wie gefährdet das Wunder Natur. In einem seligen Rausch hat sie den Auslöser des Fotoapparats bedient, als vertraue sie ihm alles an, um es zu bewahren. Sie kann sich erst losreißen, als das Rotviolett erlischt und ein kühles Lüftchen aufkommt. Auf dem Rückweg hat sie das Gefühl, als habe sie einen kostbaren Schatz bei sich: Etwas Wunderbares hat sich ereignet, außerhalb von ihr und in ihr. Erfülltsein. Sie wird getragen von dieser Welle. Doch je mehr sie sich vom Flussufer entfernt, umso deutlicher nimmt sie wahr, wie die Welle abebbt. Die unbändige Freude will sich in Wehmut verkehren: Wem kann ich davon sagen? Sie spürt, wie die Einsamkeit sie gleich einer kalten Hand berührt. Sie ringt mit ihr: Ersticke mir das Wunder nicht; niemand kann es mir nehmen, auch du nicht; es existiert trotzdem oder gerade deswegen. Ich bin sensibilisiert, und meine Erinnerung ist hellwach. Vielleicht kann ich ja mit den Fotos jemanden erfreuen. Melancholische Ruhe breitet sich in ihr aus, und sie beschließt, nicht sofort nach Hause zu gehen, sondern an diesem lauen Abend auf der Caféterrasse zu sitzen und sich ihren Gedanken zu überlassen. Das Alleinsein hinausschieben. Sie weiß, sie kann froher heimkehren, wenn sie noch ein Weilchen unter Menschen bleibt. Aufgehobensein.