Bewernitz, Doris

Der illegale Hund

Kurzgeschichten, trafo verlag 2007, 177 S., ISBN (13) 978-3-89626-708-5, 13,80 EUR

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REZENSIONEN

Zum Inhalt

Wann wollten Sie das letzte Mal auswandern? Kennen Sie Menschen, die sechzig Jahre lang auf ihre Mutter warten, Bombenattrappen auf die Straße stellen, sich mit ihrer Angebeteten ein Stelldichein auf dem Misthaufen geben oder mit dem Schicksal persönlich verhandeln?

Mit eigensinnigen Mitteln versuchen hier Glücksritter, Sonderlinge und Einzelkämpfer ihr Leben zu meistern. Denn »... jeder will etwas, hat ein Herz und eine Würde und muss aufpassen, dass er sie nicht verliert. Jeder will gesehen werden, gehört, geliebt.«

Mit ihrem ungewöhnlichen Blick spürt Doris Bewernitz das Besondere im Alltäglichen auf und erzählt Geschichten voller Leichtigkeit, Geschichten zum Lachen, zum Weinen, zum Genießen.

 

 

 

Leseproben

 

Die Zumutung

U5 Richtung Alex. Mir schräg gegenüber saß die Frau mit den Superohrringen. Ansonsten wirkte sie unauffällig. Bis auf die Ohrringe. Zwei große goldfarbene Reifen, in denen ohne weiteres je ein Kanarienvogel Platz gehabt hätte. Neben ihr ein Mädchen, offensichtlich ihre Tochter. Das sah man an der Nase. Schmal, mit einem charakteristischen Schwung nach oben. Die Kleine war vier oder fünf und hatte sichtbar Mühe still zu sitzen. Was wiederum die Mutter anstrengte.

Als die Bahn in Höhe Frankfurter Tor hielt, konnte sich das Mädchen nicht mehr beherrschen. Es zeigte auf die Frau neben mir und fragte in einer Lautstärke, dass es außer ihrer Mutter sämtliche Mitfahrer hörten: »Mama, was ist das?« Die Mutter reagierte blitzschnell, bog dem Mädchen die Hand mit dem Zeigefinger herunter und ohrfeigte es. »Lass das«, knurrte sie, »das gehört sich nicht.«

Das Mädchen schwieg, starrte aber die Frau gegenüber weiterhin mit großem Interesse an.

Andere Leute, aufmerksam geworden, beugten sich nun vor und taten es ihr nach. Die Mutter, die bisher angestrengt vermieden hatte, geradeaus zu sehen, wurde immer nervöser. Der Satz: »Das ist eine Zumutung!« entfuhr ihr, als Zeichen, dass sie mit dieser Person da drüben nun wirklich nichts zu tun hatte.

»Mama, was ist eine Zumutung?«

Keine Antwort.

Die Zumutung, die der Tochter genau gegenüber saß, fiel als erstes durch den Mangel des rechten Beines auf. Im Unterschied zu den anderen Leuten hatte sie einen riesigen Berg Gepäck in Form von unansehnlichen Plastiktüten bei sich. Sie roch nach einer Mischung aus altem Schweiß und Fisch und hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihren verbliebenen linken Fuß in einen Schuh, geschweige denn in einen Strumpf zu stecken. Ihr Alter war schwer zu schätzen, irgendwo zwischen vierzig und sechzig. Ihr schulterlanges, strähniges Haar landete auf einem Overall von undefinierbarer Farbe, der auch schon bessere Tage gesehen hatte. Sie war auffällig dünn. Am erstaunlichsten aber war ihr Gesicht. Es wirkte trotz ihres Alters sehr kindlich, als hätte sie es wenig benutzt. Abgesehen von ihrer sonstigen Erscheinung und dem offen stehenden Mund mit fehlenden oberen Schneidezähnen sah sie aus wie ein kleines Mädchen.

Sie saß da wie eine Diva, sie war es gewohnt angestarrt zu werden und hatte nichts dagegen. Sie starrte zurück, freundlich, ja geradezu gönnerhaft, wie eine Königin. Mit dem Ergebnis, dass bald alle Blicke wieder in Zeitungen und Büchern vertieft waren.

Das kleine Mädchen schaute sie weiter neugierig an.

Am Strausberger Platz erhob sich die Frau plötzlich ganz geschickt auf ihrem einen Bein, fummelte wie eine Zauberin einen Stock aus dem Tütengewirr und stakste zur Tür. Die Leute zogen hastig ihre Füße zurück. Die Frau hatte nun die Tür erreicht, den Knopf gedrückt und verließ den Zug. Vor der Tür blieb sie stehen, wahrscheinlich um ihre Beutel besser in den Griff zu bekommen. Aber dann auch weiterhin. Ihr Mund stand immer noch offen.

Dann passierte nichts. Besser gesagt, es passierte nicht das, was jetzt eigentlich hätte passieren müssen. Die Tür ging nicht zu, der Zug fuhr nicht weiter. Die Frau blieb stehen wo sie stand.

Einzelne Fahrgäste sahen auf ihre Armbanduhr, dann aus dem Fenster, dann wieder in ihre Zeitung.

Das kleine Mädchen, wie gefangen in seltsamer Faszination, sprang plötzlich auf, lief zur Tür, hielt sich am Rahmen fest und guckte die Frau so offen an, wie es nur Kinder vermögen. Gerade als seine Mutter es mit dem Befehl: »Nelly, willst du sofort herkommen!« erreicht hatte, zuckte ein heftiger Ruck durch den ganzen Zug, als habe es einen Aufprall gegeben. Die Mutter stieß einen Schrei aus, das Mädchen verlor das Gleichgewicht und flog durch die offene Tür hinaus. Es ging alles sehr schnell.

Ich weiß auch nicht, wie die Zumutung es mit ihrem einen Bein, dem Stock und den ganzen Tüten geschafft hatte. Aber plötzlich hatte sie das Mädchen im Arm. Sie hatte es aufgefangen, es war völlig unverletzt. Nun stand die Bahn wieder still. Alle schwiegen, keiner schaute mehr in die Zeitung.

Die Superohrringfrau erhob sich sehr langsam. Sie war blass. Sie ging zur Tür. Nahm ihr Kind an die Hand. Sah die Frau an, die draußen stand. Die dort stand, als wäre nichts gewesen. In der U-Bahn war es ungewöhnlich still.

»Danke«, sagte die Superohrringfrau. Sehr leise, aber alle hörten es.

 

 

Traumhafte Zustände

Jeder kennt das: Die Zähne fallen einem aus. Man hat sie alle lose im Mund. Schrecklich genug, wenn man so etwas einmal träumt. Ich kann nur sagen: Mit mir ging’s bergab, als mich dieser Alb mehrere Nächte hintereinander drückte. Das ist einen Monat her und ich denke noch immer mit Grausen daran.

Meine Freundin Ina ist neuerdings unter die Psychos gegangen. Sonst ist sie ein ganz patentes Mädel. Wir sind auch schon drei Jahre zusammen. Aber seit sie diesen Spleen hat, kracht es öfter mal zwischen uns. An allem muss sie herumdeuten. Ich weiß auch nicht, was mich geritten hat, ihr diesen Traum zu erzählen. Ich hätte es besser wissen müssen.

»Das ist deine verdrängte Angst vor dem Alter, vor dem Verlust deiner Spannkraft! Oder deiner Männlichkeit. Warte, ich sehe gleich mal nach.« Sie holte das Traumdeutungsbuch hervor, ihre neueste Anschaffung. »Hier steht’s: Zähne. Vitalität und Aggression. Das ist es! Du unterdrückst deine Aggression. Hab ich ja schon immer …«

»Ina! Hör auf! Ich bin noch voll im Schock. Und du, statt mich zu trösten …«

»Was heißt hier trösten. Träume sind Ratgeber. Du solltest mal in dich gehen, Bernd. Du verdrängst eindeutig zu viel. Das ist ungesund.«

Ich war bedient. So ein Gespräch am frühen Morgen, das hasse ich wie die Pest. »Lass mich in Ruhe!«, fuhr ich sie an. Von wegen verdrängte Aggression.

Sie dachte nicht daran. »Überhaupt solltest du mal einen Therapeuten aufsuchen, du hättest es nötig.«

»Hältst du mich jetzt für verrückt oder was?«

»Typisch Mann. Keine emotionale Schwingungsfähigkeit.«

»Ich muss zur Arbeit.«

Das war das erste Mal seit drei Jahren, dass ich ohne Frühstück aus dem Haus ging. Nicht dass jetzt hier ein falscher Eindruck entsteht. Ich hab Ina wirklich gern. Aber ich mag es eben harmonisch.

Ich versuchte mich abzulenken. Trotzdem – an diesem Tag tastete meine Zunge ständig an den Zähnen herum. Ich wagte noch nicht mal, in einen Apfel zu beißen. Der Traum war einfach zu präsent.

Als er mich in der nächsten Nacht wieder heimsuchte, war es mit meiner Seelenruhe endgültig vorbei. Ich hatte alle Mühe, mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Die Kollegen guckten mich schon bedeutungsvoll an.

Es kam so weit, dass ich mich kaum noch traute, schlafen zu gehen, aus Angst, dieser Traum könnte wiederkommen.

Und er kam wieder. Ich hielt es nicht mehr aus. Ich sagte mir, da müsse doch mehr dahinterstecken, wahrscheinlich wäre irgendetwas mit meinen Zähnen nicht in Ordnung. Also suchte ich Dr. Winter auf. Mein halbes Leben gehe ich schon zu ihm, er kennt mich nur von den Kontrolluntersuchungen und hat wahrhaftig noch nicht viel an mir verdient. »Ihr Gebiss möchte ich haben«, ist normalerweise sein Kommentar.

Zum ersten Mal saß ich ziemlich angespannt in seinem Wartezimmer und guckte mir zwanghaft die Bilder mit der Werbung für Zahnspangen an.

Dr. Winter war einigermaßen überrascht, mich zu sehen. »Nanu? Sie waren doch erst vor sechs Wochen da. Haben Sie etwa Beschwerden?« Sah ich da ein kleines, hoffnungsfrohes Leuchten in seinen Augen?

»Wie man’s nimmt. Zahnschmerzen habe ich keine. Ich wollte bloß … mal schauen, ob alles in Ordnung ist …«, druckste ich herum.

»Ich kann nichts finden«, stellte er nach gründlicher Untersuchung fest, »wie kommen Sie denn darauf, dass etwas nicht stimmen könnte?«

»Ach, nur so.«

Er betrachtete mich skeptisch.

»Schon okay«, meinte ich und lächelte gequält.

Anscheinend war das nicht besonders überzeugend.

»Nun sagen Sie mal, warum Sie kommen.«

Es war bestimmt seine nette Stimme, die mich verführte, ihm mein Herz auszuschütten. Kann sein, dass ich es etwas zu aufgeregt tat. Seine Reaktion jedenfalls war Öl auf das von Ina entfachte Feuer.

»An sich ist an solchen Träumen weiter nichts, aber wenn Sie das so sehr belastet – vielleicht sollten Sie einen Psychologen aufsuchen. Das ist eher dessen Gebiet. Ihre Zähne sind in Ordnung wie eh und je.«

Ich musste mich sehr zusammenreißen. Hielt mich jetzt auch schon mein Zahnarzt für verrückt? Steckte er gar mit Ina unter einer Decke? Bebend verließ ich die Praxis. Ich war so auf der Palme, dass ich glatt die nächste rote Ampel überfuhr. Dummerweise befand sich in diesem Augenblick ein Polizeiauto hinter mir.

»Ihre Papiere bitte …«

Das Glück ist ungerecht verteilt. Unter Aufbietung aller Nervenkräfte kramte ich in meiner Tasche herum. Dabei zitterte ich so heftig, dass der Polizist mich fragte, ob ich getrunken hätte. Zuviel ist zuviel. Im Endeffekt war ich nicht nur den Führerschein los, ich hatte auch noch ‘ne Anzeige wegen Beamtenbeleidigung am Hals. Also ging ich zu Fuß zur Arbeit. Ich hätte heulen können.

Heute weiß ich nicht mehr, wie ich es in diesem Zustand schaffte, überhaupt bis zum Feierabend durchzuhalten. Ich war ein Nervenbündel, als ich mich abends auf den Heimweg machte. In dieser Verfassung wollte ich Ina nicht begegnen. Wir hatten uns in letzter Zeit oft genug gestritten. Also machte ich einen Abstecher in die nächstbeste Kaschemme. Wollte mich nur ein bisschen beruhigen. Jetzt weiß ich, dass das ein Fehler war. Ein Unglück kommt ja bekanntlich selten allein.

Die Kneipe war fast leer. Nur ein Typ saß am Tresen, auf den ersten Blick ganz unauffällig. Klar sah ich, dass er schon einen in der Krone hatte. Ich quatsche also ein bisschen mit der Bedienung, versuche, meinen Ärger runterzuspülen, da fängt dieser Typ an, mich vollzulabern. Ganz unvermittelt. Und kaum macht er den Mund auf, erstarre ich: Ich sehe, der hat so gut wie keine Zähne mehr! Heute kann ich nicht mehr ganz nachvollziehen, was da in mich fuhr. Es war als käme er geradewegs aus meinem Albtraum! Panik ergriff mich! Was soll ich lange herumreden, ein Wort gab das andere und dann flogen die Fäuste. Er war treffsicherer als ich und erwischte die oberen Schneidezähne.

Dr. Winter staunte nicht schlecht, als ich am nächsten Tag schon wieder bei ihm auf der Matte stand. Diesmal musste ich nichts erklären. Es reichte, dass ich den Mund aufmachte.

Jetzt hab ich da oben zwei Kronen. Damit esse ich sogar Äpfel.

Was meine geliebte Ina zu all dem meint?

»Typische Warnträume. Hab ich ja gleich gesagt.«

Dazu gebe ich jetzt keinen Kommentar ab.