Ralf Otto Lang

Am Grab des weißen Mannes

Reisenovelle; trafo verlag 2007, 200 S. Fotos, ISBN 978-3-89626-705-4, 14,80 EUR

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Georg – ein Deutscher – nimmt die Leserschaft mit auf die Reise zum ›Grab des Weißen Mannes‹. Am Golf von Guinea, in Benin, Togo und Ghana begegnet er Abenteuern und Heldentum, Romantik und Magie. Er erfährt: die Historie verzaubert. Heutzutage entzaubern hingegen Diktatur und moderne Zivilisation.

Tropenfieber und Kämpfe mit den Eingeborenen machten – im geheimnisvoll umwitterten Dunklen Kontinent – europäischen Kolonisten den Garaus. Ihre Vorgänger verschleppten Millionen von Ureinwohnern in die Sklaverei. Ist von dem Vergangenen heute noch etwas übrig? Georg sucht und er findet eine ganze Menge!

 

Die Lektüre ist spannungsreich, es fesseln Eindrücke, Dialoge und brisante Erlebnisse. Noch dazu geht Mitmenschliches direkt unter die Haut.

 


Leseprobe

 

Die Fernroute verläuft an der Peripherie bogenförmig in Richtung Go-West und stößt auf einen neuralgischen Punkt: der Verkehrsstrom wird eingezwängt, er staut, knäuelt und entzerrt sich chaotisch. Auspuffgase. Rangiermanöver. Protestgeschrei. Die Randzone ist voll mit Fahrzeugen, Transportgütern, Minibussen und Proviantbuden. Mitten dazwischen Georg. Man hat ihn hier ausgesetzt. Genauso fühlt er sich. Weiter abzuwarten ist zwecklos. Am besten greift er energisch durch, also hält er ein Sammeltaxi an, wirft das Gepäck hinein und sich selbst auf den Rücksitz. Großes Aufatmen. Nanu, direkt neben ihm eine Weiße. Er mustert sie verstohlen. Sie merkt es und blickt fragend zurück. »Hallo, sieht so aus, als wären Sie ein Deutscher, hab ich recht?« Georg nickt verblüfft.

»Ich bin Kathrin, Kathrin Förster, ich flüchte, reiße aus, gehe stiften.« Sie legt den Kopf schräg, wartet auf eine Reaktion. »Ein verrücktes Huhn, was?«

»Auf der Flucht, Sie …?«

»Vor meinem Mann. Er ist Nigerianer. Wir heirateten in Lagos, traditionell mit sagenhaft großer Familie und allem Pipapo.«

»Kürzlich?«

»Nein, nicht doch, ist Jahre her. Jeffrey suchte sein Glück in Deutschland und glaubte, er hätte es in mir gefunden. Er richtete Trommelkurse aus und gründete mit Landsleuten eine Gemeinschaft. Er fing viel an, doch glückte ihm wenig. Aber zu mir war er gut. Deshalb hielt ich ihn über Wasser. Er führte mich bei den Schwarzen ein, wo es Solidarität gab. Und jede Menge Feten. Ich lernte, afrikanisch zu kochen. Ich wusste mich aufgenommen und fühlte mich wohl. Wir sammelten für Hilfsprojekte. Darin ging ich ganz auf. Aber wieso erzähle ich das eigentlich, dazu einem wildfremden Menschen?« Die Mitfahrerin verstummt, sie hat gehetzt gesprochen, in einem Atemzug. Sie steht unter Druck, ganz gehörig: Wer weiß, was ihr zugestoßen ist.

Unterdessen zieht eine Gewitterfront heran, sie verdüstert den Morgen und beschert Platzregen. Die Schnellstraße wird zur Kriechspur. Auch steht ein Tankwagen quer: die Fahrerkabine ist abgeknickt und hängt seitlich des Ölkessels über, das Bild hat etwas von einem Insekt, bei dem Kopf und Rumpf fast durchtrennt sind. Mit Schaufel und Hacke gehen Leute daran, vor dem Hindernis eine Umleitung anzulegen. Die Route ist mit Werbesprüchen bepflastert. Es reihen sich Werkstätten, Autohöfe und Garküchen endlos, in der Anhäufung wirkt alles recht erbärmlich und ernüchtert schroff: der Natur gelingt es selten, den Dritte-Welt-Effekt mit Palmen abzumildern.

Am Küstenort Badagri vorüber, ist es zur Grenze nach Benin nicht mehr weit. Der Chauffeur verlässt die Fernroute und steuert auf einen holprigen Sammelplatz. Die Passagiere müssen sich zu Fuß aufmachen, hin zur Fremdenpolizei, um die Formalitäten für den Zoll zu erledigen. Kathrin schnappt ihr Handgepäck und raunt: »Ich muss hier weg, wir treffen uns nachher drüben, okay?«

»Top«, entgegnet Carl überrascht. Als er aussteigt und das Fahrgeld entrichtet, nehmen ihn junge Träger in Beschlag, sie zanken sich darum, wer die Reisetaschen des Ausländers befördern darf. Den Rucksack des Fremden hat inzwischen eine alte Frau in eine Schüssel gestellt und bekräftigt so ihren Anspruch. Einen der Burschen kümmert das wenig, rabiat bringt er das Gepäckstück an sich, worauf die Ärmste an den Eigentümer appelliert. Sie fleht händeringend, ihr Mund ist schmerzlich verzogen, sie erblickt in dem Weißen den obersten Richter, der Kraft seiner Person verfügen und Recht sprechen möge. Georg ist der Situation nicht gewachsen, er lässt die Willkür notgedrungen geschehen und folgt dem Träger und dessen Kumpels, die offenbar »Morgenluft« wittern. Der Weg führt, an einem Vorposten vorbei, direkt zur Emigration hinauf. Vor dem Gebäudetrakt erstreckt sich eine Tischreihe und die von einer Phalanx offiziöser Personen besetzt ist: jene sind traditionell gekleidet, in Zivil oder Uniform. Der erste Kontrolleur ist ein Moslem mit Käppchen, er führt eine Kladde, in diese trägt er, recht saumselig, die persönlichen Daten aus dem Passport ein und fordert, obzwar das Einreisvisum gültig ist, Geld – eine Prozedur, die sich ständig wiederholt. Um sie abzukürzen, tritt einer der Helfershelfer hinzu, er lässt sich jenes Money, welches Georg gestern auf dem Airport mühsam erworben hatte, aushändigen und mimt nunmehr den Weihnachtsmann. In dieser Rolle geht er großzügig auf und verteilt Geld, das ihm gar nicht gehört, verschwenderisch an die verdutzt dasitzenden Leute. Ehe Georg begreift, was geschieht, ist der Batzen gehörig zusammengeschmolzen. Er protestiert energisch, kann jedoch nur noch ein Sümmchen retten.

Das Hauptbüro hat eine vergitterte Luke, dort wird der Reisepass letztmalig geprüft, sodann gestempelt und zurückgegeben. Als der Chefzöllner der Schlepperclique mit der Faust droht, wird sich Georg bewusst: »Es sind Ganoven am Werk, die ahnungslose Leute abzocken.« Selbst fremde Menschen halten die Hand auf und möchten sich bedienen. Der Weiße wird beschwatzt, mit Ratschlägen eingedeckt und er findet sich plötzlich in einem Taxi mit zwei Burschen, die auf seine Kosten …mit »Jetzt ist Schluss« scheucht er sie hinaus. Kathrin kommt zurück, sie nimmt Platz und triumphiert: »Ich hab mich aus Nigeria gerettet. Nun gehe ich nach Cotonou, lasse mein Flugticket ändern und fliege via Paris nach Frankfurt.«

»Sie wissen sich zu helfen, alle Achtung.«

Kathrin schmeckt das Lob, dankbar seufzend sinkt sie ins zerfledderte Polster.

Georg greift das Gespräch von vorhin auf: »Sie mussten von Lagos weg, aber wozu eigentlich?«

»Moment, jetzt sind Sie an der Reihe, mir etwas zu erzählen. Sie heißen, wie Sie sagen, Georg und sehen aus wie, hm, Rübezahl. Schön, legen Sie los.«

Georg berichtet: »Gestern bin ich angekommen, auf dem Airport Murtala Mohammed, heute bin ich nach Benin rübergewechselt und möchte auch Togo und Ghana bereisen. Für mehrere Monate.

»Und das Motiv? Was haben Sie in Westafrika vor?«

»Mein Thema ist die Sklaverei. Und wie es in den ehemaligen Kolonien ausschaut.«

»Wie ist denn der erste Eindruck?«

»In Deutschland hat man mich gewarnt. Lagos sei gefährlich, wer nicht aufpasse, falle prompt unter die Räuber. Bei der Ankunft steht groß in einer Zeitung: Fünf Menschen von einem Killer ermordet! Das machte mich hellhörig. Dennoch wagte ich mich aus dem Flughafengebäude in die Nachtschwüle und merkte: die Taxileute wollen ebenso abzocken wie die Hotels. Unverhofft griff jemand aus dem Fremdenbüro ein. Er war in Deutschland gewesen, hatte einen guten Eindruck, wollte sich revanchieren und verschaffte mir, seitlich der Wandelhalle, eine provisorische Schlafstelle auf einem Kanapee. Das Areal des open-air-office war mit einer Kette gesichert. Zudem patrouillierten Militärposten mit Kalaschnikows. Wer hier notdürftig nächtigte, ruhte an der Trinkbar, den Kopf auf einem ausgestreckten Arm gebettet. Der Geräuschpegel war hoch, er malträtierte und setzte nur vorübergehend aus. Am Morgen verwandelte sich ein Laufbursche, der neben mir mit dem Boden hatte vorlieb nehmen müssen, in einen Angestellten: weißes Hemd, Schlips mit Krawattennadel, dunkles Jackett, picobello sauber, direkt mustergültig! Auch kehrte der Samariter vom Vorabend zurück, er ließ mich ins Auto steigen und beförderte mich hinaus zum Drehkreuz für die Fernroute. Genügt das?«

»Für’s erste«, meint Kathrin, sie lächelt sibyllinisch und setzt – der Taximann wartet missmutig – fort: »Zurück zu mir: Mein Mann ging eigene Wege, die, wie sich später herausstellte, krumm waren. Er schloss mich peu à peu aus, gab sich wortkarg und einsilbig, wurde undurchschaubar, eine Geheimniskrämerei, die sich, hm, konspirativ ausnahm. Argwöhnisch suchte ich ihm auf die Schliche kommen: Eine andere Frau? Fehlanzeige. Also verbürgte ich mich für ihn beim Ausländer- und Gewerbeamt, worauf er eine Ich-AG eröffnete. Als er in Konkurs ging, durfte ich seine Schulden abstottern. Er drängte mich zu einem Bankkonto für Eheleute und fing den Postboten an der Tür ab. Hatte er etwas zu verbergen? Seufzend nahm ich alles hin, denn ich, durch einen Autounfall zur Frührentnerin geworden, fürchtete mich vor dem Alleinsein. Über London flog Jeffrey nach Lagos. Zuhause war er stets dort, wo er sich grade aufhielt. Von dem Spruch ›Schüttelst du einem Nigerianer die Hand, so schau anschließend nach, ob die Finger noch vollzählig sind‹ wusste ich noch nichts. Als mein Mann von dem Heimatbesuch ausblieb, platzte die Bombe: Einreiseverbot. Er beteuerte seine Unschuld, er wäre kein Dealer und hätte mit Drogen nichts zu tun. Von meiner Rente zweigte ich regelmäßig etwas für ihn ab. Trotzdem bekam ich Bettelbriefe. Ich wollte die Sache klären und flog zu ihm runter. Man reichte mich im Familien-Clan durch. Ressentiments? Nicht die Bohne. Man beglückwünschte Jeffrey erneut zu seinem Glück, eine Weiße zur Frau zu haben. Doch litt ich unter der tropischen Hitze: Am Golf von Guinea1 hätte ich nicht leben können. Wir kamen überein, die notwendigen Papiere für eine zweite Trauung zu beschaffen, das heißt, unsere Ehe sollte nach deutschem Recht standesamtlich legalisiert werden.«

»Hätte Jeffrey dadurch seine Aufenthaltsgenehmigung zurückbekommen?«

»Das hofften wir. Überhaupt, sagen Sie selbst: Was hatte ich von einem Mann so weit vom Schuss!« Georg grinst einverständlich. Er beäugt Kathrin: Sie sieht nicht übel aus, ist mittelgroß, dunkelhaarig und redet erfrischend offen. Wieso hatte sie sich in einen Afrikaner verkuckt?

»Denken Sie bloß: Jeffrey nahm mir den Reisepass weg und meinte: »Du bist meine Frau, also gehörst du mir, du kannst nicht machen, was du willst. Ausgehen, noch dazu allein, ist untersagt. Sonst gibt es Hausarrest«. Schwupp – schon hatte ich den weg. Ich antwortete entrüstet: »Was, einsperren, mich? Das wäre ja noch schöner!«

»Betrachtete er Sie als Eigentum, wirklich?«

»Er versuchte es. Er schüchterte ein, wollte mich kirre machen oder zur Räson bringen. Einfach lächerlich. Als er die Wohnungstür abschloss und ich zeitweilig nicht raus konnte, bekam ich es mit der Angst zu tun. Ich – gefangen in Lagos. Können Sie sich das vorstellen?«

»Freiheitsberaubung, würde ich sagen.«

»Aber hallo! Ich dachte, ich wäre im Film. Mit der Heirat in Deutschland war es natürlich aus und vorbei. Ich wollte fort, möglichst schnell.«

»Ohne Pass?«

»Den mopste ich mir zurück. Ich traute Jeffrey zu, dass er mich am Airport abfängt oder mir nachreist und plötzlich vor meiner Wohnungstür steht. Aber ich mache ihm einen Strich durch die Rechnung.«

»Hm, ganz schön clever, würde ich meinen.«

»Nicht wahr!« Kathrin seufzt erleichtert und flüstert sodann: »Entschuldige, ich hab’s verteufelt eilig. Hier sind Adresse und Telefon. Melde dich, sobald du wieder in Deutschland bist. Abgemacht?« Kurz entschlossen steigt sie aus, in ein anderes Taxi um und fährt winkend davon.

 

Porto Novo erreicht Georg nach einer Odyssee. Das Hotel liegt außerhalb, es wird von mächtigen Mangobäumen beschattet und grenzt an eine Lagune. Auf von Schilfgürteln gesäumten Fahrkanälen gleiten Pirogen, mit Stechpaddel lautlos gerudert oder röhrendem Außenborder. In manchen Kanus, die in der Uferzone dümpeln, räumen Fischerfrauen ordnend auf. Der See blinkert in der Abendsonne.

Georg schlendert durch die Stadt, er tut es gründlich, beobachtet still für sich und merkt: der Weiße mit dem weißen Bart wirkt auf die Schwarzen exotisch, sie begegnen ihm scheu, mustern ihn aus den Augenwinkeln, selten unverhohlen, sind sich einer Attraktion bewusst und die ihr alltägliches Einerlei belebt – jedenfalls für Frauen und Kinder. Er beantwortet alles lächelnd oder übergeht es. Erschöpfen ihn die Streifzüge in tropischer Hitze zu sehr, winkt er einem der jugendlichen Mopedfahrer, die preiswert Personen befördern, und lässt sich auf dem Sozius kutschieren. Von den Kolonialbauten der Portugiesen sind einige Fassaden sehenswert restauriert, während man die Kath. Kirche zur Moschee gestaltete. Zählte der Schauplatz nicht zu einem der berüchtigten Sklavenmärkte? Und könnte das im Palast der Toffa-Könige bezeugt sein?

Der Gebäudekomplex ist verfallen und notdürftig hergerichtet. Die Dächer deckte ursprünglich Strohgebinde, nun ist es rostiges Wellblech. Eine französische Genealogie der Könige verweist auf Herrscher wie de-Ayàton, de-Gbègnon und d-Houezè, jene verkauften, zu ihrer Zeit omnipotent, Untertanen und überantworteten sie Elend und Tod, wussten mit dem Zugewinn glänzend Hof zu halten. Bis ins 19. Jahrhundert hinein. Sieht Georg das richtig? Er steht am Anfang seiner Recherchen. Und doch hält er für möglich: Dorfchefs und Distrikthäuptlinge, von europäischen Menschenhändlern mit Perlen, Textilien, Pulver und Feuerwaffen bestochen, sind mitschuldig.

Das Museum birgt überkommenes Hausgut, so Mahlsteine, Tröge, Kalebassen, Trommeln, Schmuck, Kriegszeug, Fetische, Kultgeräte, Insignien von Macht und Würde. Es reihen sich Räume des persönlichen und repräsentativen Bedarfs, ihre leeren und stumpf graufarben getönten Lehmwände wirken bedrückend. Es gibt, neben Fußbädern, Auffangbecken für Opferblut; offenbar müssen en masse Köpfe gerollt sein. Und wo sind die Grüfte der Potentaten? Ihre Gebeine liegen zerstäubt unter dem Boden …!

Georg merkt erstaunt: Die Stadt ist verwaltungsmäßig die Hauptstadt. Er läuft per Pedes umher und kommt an Ministerien vorüber, die Gebäude nehmen sich abgewirtschaftet aus und wie in einen Dornröschenschlaf versunken. Im Fenster eines Wachhäuschens lehnen aufgestützt Soldaten, in dieser Pose ähneln sie Hausfrauen und die gelangweilt eine Straßenszene beobachten. Nicht so Graffitisprayer. Ihre Losungen stehen auf dem Gemäuer eines Grundstücks. Eine davon ermahnt den Staatspräsidenten Mathieu Kèrèkou zu einem Regierungswechsel ohne ›Schmerzen‹. Offenbar ist die politische Opposition leidvoll geprüft, sie beugt Repressalien vor und möchte auf demokratischer Basis verändern. Hat sie genug von Staatsstreichen und den Experimenten missglückter Sozialisierung, auf die afrikanische Regime häufig ihre Hoffnung setzten? Jemand trägt ein T-Shirt mit der Behauptung umher, sein Kandidat wäre von allen der Kompetenteste. Ob das hilft, ist zweifelhaft, man müsste schon gröberes Geschütz auffahren, denkt Georg.

Entgegen vorheriger Zusicherung lassen sich Travellerschecks nur in Cotonou einlösen. Georg macht sich auf den Weg in die Hafenstadt. Die Route säumen gespickt voll AbgaLieferanfrage für Treibstoff, jener dient, haushälterisch in Flaschen und Glasballons allerlei Größen abgefüllt, dem Verbrauch in kleinen Mengen. Das Benzin ist eine Mixtur, bernsteinfarben beeindruckt es optisch und geht auf Öl zurück, das man aus dem nahen Nigeria schmuggelt. – Im Außenbezirk läuft der Fahrzeugstrom an einem Verkehrsrondell fächerartig auf. Georg lehnt sich aus dem ›taxi collectif‹, sein Augenmerk gilt einem Burschen, der, wie eine Galionsfigur, die Straßenszene beherrscht. Er sitzt reglos auf dem Boden, die Beine gekreuzt und die Arme verschränkt, heldenhaft aufrecht, ein Athlet mit enormem Brustkasten, urwüchsig und vor Kraft trotzend: Mister Universum persönlich! Er schaut stoisch, als verkörpere er ein Symbol, in dem sich das gesamte Afrika vereinigt. Erst auf den zweiten Blick wird deutlich: Von der Hüfte an gelähmt, mit zurückgebildeten Beinen, die haltlos herumschlenkern. Der Unglückliche ist gefesselt wie Prometheus, und niemand kann ihn von seinem Elend erlösen; ohnmächtig ist selbst der Allmächtige. Aber die Selbstachtung des Burschen scheint ungebrochen, er schaut weder verbittert noch abschätzig. Und würde er richtig trainiert, könnte er an den Paralympics teilnehmen. So wird er als Schaustück ausgestellt, das nicht bettelt, vielmehr anrührt zu einem Almosen. Als Georg winkt, hoppelt der Schwerbehinderte behände herbei und bedankt sich, indem er den Kopf senkt. Was ist sein künftiges Los? Tagtäglich vom Autoverkehr umbrandet und von dessen Giftbrodem umweht, wird der Bursche körperlich und seelisch zermürbt: ein schleichender Prozess, der nicht aufzuhalten ist. Es gibt, denkt Georg, nur ein Mittel, das hilft, es ist ebenso radikal wie tröstlich: Ich an seiner Stelle würde, glaube ich jedenfalls, das Martyrium abkürzen …!

Die Sonne befeuert Cotonou. Der Verkehr flutet chaotisch. Es wimmelt von Mopedtaxen, ihre Zweitaktmotore lärmen röhrend und vernebeln hellgrau die Luft. Georg stockt der Atem, sein Herz wummert. Er hängt auf dem Sozius eines Mofas und klammert sich mühsam fest. Er muss zu einer Bank wegen CFA-FrancNoten, wird mehrfach abgewiesen und was ihn erschöpft. Sodann lässt er sich zu einer Abfahrstelle für Sammeltaxen lotsen und die das geschichtsträchtige ›Quidah‹ ansteuern: ein Küstenort, der berüchtigt gewesen sein soll wegen der unzählig in die Sklaverei verkauften Menschen.

Georg ist begierig, ans Meer zu kommen: geschafft. Er kommt in einem Hotelkomplex unter mit separat gelegenen Gästepavillons. Ein Palmengürtel säumt die Uferzone. Es weht eine Brise und die Luft schmeckt salzig. Endlos brechen sich die rauschenden Wogen, ihre Ausläufer züngeln den Strand empor und treiben Krabben in ihre Schlupflöcher. Das Naturschauspiel erfreut das Gemüt und macht happy. Stopp: Darf er zufrieden seufzen, hier, wo ehemals ein anderes Seufzen die Herzen betrübte? Nahebei gemahnt, von der UNESCO errichtet, ein Monument mit dem Spruch ›La Porte du Non Retour‹ an Gefangenentrecks, bildhauerisch dargestellt. Bewohner im Landesinneren, bei Hetzjagden geraubt, gefesselt, zu Sammelplätzen und darauf zur Küste getrieben, beförderte man sie mit Einbäumen durch die Brandung zu Segelschiffen. An Bord wurden sie aussortiert, unter Deck gebracht und in Eisen gelegt: Zu Hunderten. Zu Tausenden. Zu Millionen.

Erster April. Tropengewitter. Es schüttet. Es heult. Der Sturm zerzaust die Kronen der Palmen. Zurück bleiben geflutete Sandwege, die in der Wärme wieder abtrocknen. Direkt von der Küste verläuft landeinwärts ein holpriger Weg nach Quidah, ehemals ein Sammelbecken für Sklaven. Georg nimmt dieselbe Route, auf der, aber entgegengesetzt, das Gro der Unglücklichen die letzte Etappe antrat. Viele kamen unterwegs um oder verschmachteten in den Verließen der Forts. Imaginär sieht er einen der Elendstrecks kommen und hört das ›Schwarze Elfenbein‹ jämmerlich stöhnen. Sooft der Spuk verfliegt, kehrt das Grässliche neu zurück. Der Verstand weigert sich zu registrieren, was die Augen wahrnehmen. Georg wird der Mund trocken. Bedrückt wandert er auf der afrikanischen ›Via Dolorosa‹ dahin. Gelegentlich präsentieren sich seitlich am Weg wiederholt Skulpturen mit Tierköpfen: Affe, Krokodil, Löwe und Chamäleon. Zudem eine Soldatenfigur mit Gewehr und ein Dreikopf mit Schlange. Die Plastiken sind kunterbunt bemalt und recken sich skurril empor. Es gibt Bäume des »Vergessens«, der »Hoffung« und des »Massengrabs.« Im Dickicht aus Kakteen, Agaven und Kokospalmen versteckt sich ein Friedhof, die Gräber bestehen aus rechteckig gemauerten Podesten, sie liegen quer verstreut, sind überwuchert und teils zerbröckelt. Angaben zu den Verstorbenen sind verwittert. Nebenan zeigt sich höhlenartig ein Fetisch-Hain, markiert durch Stofffetzen in der Farbe des vorherrschenden Voodoo-Kultes. Georg begegnet Burschen, sie zockeln gelangweilt daher und köpfen mit Macheten mutwillig allerlei Pflanzenblüten, oder Mopedfahrern, die auf der waschbrettartigen Geröllpiste die Spur wechseln und erst im letzten Moment ausweichen. Unterwegs passiert er Wohnhütten mit Verkaufsständen für Obst. Kleinkinder lugen scheu oder stieben vor dem exotisch aussehenden Bartmann kreischend davon, andere halten ihre Händchen hin und rufen, was man ihnen einbläute: »Cadeau, monsieur, cadeau«.

In Quidah sind die Fensterläden am Museum ›Casa do Brasil‹ abweisend geschlossen. Georg rüttelt vergeblich am Eingangsgitter. Ein anderer älterer Besucher ist ebenso enttäuscht. Die Misere verbindet. Gemeinsam wandern sie ins Ortszentrum, betreten ein Hotel-Restaurant und lassen sich auf Rohrstühlen nieder.

»Erlauben Sie: Joào Geròrnimo Caminha.«

Georg rätselt: Klingt portugiesisch. Doch schwarzhäutig und weißhaarig?

Der Fremde lächelt nachsichtig: »Pernambuco, sagt Ihnen das etwas?«

»Hm … Brasilien?«

»Si, Senhor, ich bin Lehrer in Pension. Jetzt besuche ich als Pilger das Land meiner Väter, denn Afrika ist meine Wiege.«

Georg dämmert es: Könnte das »Zurück zu den Wurzeln« bedeuten? Menschen, deren Vorfahren man aus dem Dunklen Kontinent in die Sklaverei verschleppte, sind ihren Ursprüngen auf der Spur – ein Aspekt, der auch ihn betrifft: Er ist, obwohl Europäer, ein afrikanischer Abkömmling. Die Mikrobiologie führt dazu schlagend ins Feld: Die genetische Erbsubstanz des Homo sapiens ist stets dieselbe, wobei die ›DNS‹ zu 97 Prozent mit Primaten übereinstimmt. Wohl mögen die Menschen verschieden – braun, weiß, schwarz, gelb, rot – aussehen, doch spätestens unter der Haut sind alle Typen biologisch deckungsgleich. Ungewollt provokativ verkündet er: »Senhor, ich denke, wir sind, wenn auch höchst weitläufig, miteinander verwandt.«

»Wir …?«, kommt es verdutzt zurück. »Sagten Sie nicht, Sie wären Deutscher?«

»Schon, aber … sehen Sie, die Menschen kommen aus Afrika. Behaupten die Paläontologen. Somit sind die Weißen einmal Schwarze gewesen. Das ist Millionen Jahre her. Trotzdem: Unsere Heimat ist ursprünglich der Dunkle Kontinent.«

»Verstehe. Ein Vorrecht ist das nicht. Meine Ahnen siedelten an der afrikanischen Westküste. Ich gehöre zur Völkerschaft der ›Ewe‹, welche verstreut ist über mehrere Länder. Wo soll ich suchen? Hartnäckig fahnde ich weiß Gott wo. Fremdes Südamerika. Fremde Sprache. Fremde Religion. Man hat mir meine Identität genommen. Wer bin ich eigentlich? Sie haben es gut, Ihre Herkunft ist rechtmäßig gesichert.«

»Denken Sie. Auch Europa hat einen fremden Glauben, aus dem Morgenland wurde er dem Abendland aufgedrängt, quasi übergestülpt. Das besorgten Päpste, Kaiser und Könige.«

In das Restaurant kommen Kinder und Jugendliche und betteln an der Rezeption um ein Glas Wasser. Der Hausherr reagiert ungemein freundlich, er holt einen Krug und schenkt aus, als wäre das üblich und gehöre sich so.

Georg zählt auf: »Pfefferküste, Elfenbeinküste, Goldküste, Sklavenküste – wo wollen Sie suchen?«

Der Brasilianer winkt ab. »Wenn die Europäer, wie Sie behaupten, vormals Afrikaner gewesen sind, wäre ich als Sprössling von Sklaven ebenso ein Sklave. Für mich eine Hypothek.«

»Hypothese, würde ich meinen«, spielt Georg die Parallele herunter.

»Eine Bürde, die mir nicht geheuer ist. Sie belastet mich und läuft mir nach. Zugegeben, direkt betroffen bin ich nicht. Mehrere Generationen liegen dazwischen. Und doch belastet die Problematik meine Psyche. Obwohl frei, glaube ich mich unfrei. Ich fühle mich den Sklaven verbunden, persönlich und familiär. Ihr Schicksal verfolgt mich. Für diesen Seelenzustand sind letztlich verantwortlich …«

»Die Weißen?«

»Wer sonst!«

Georg denkt darüber anders. Ist es respektlos, gar ein Sakrileg, mit seinem Standpunkt herauszurücken? Zugegeben, Angehörige seiner Rasse verschleppten unzählige Menschen in die Sklaverei. Generell oder pauschal trifft das jedoch nicht zu. Wäre es anders, würde sich die Schuld auf Generationen vererben, die nicht beteiligt waren. »Hören Sie, Senhor: Muss ich einen Schuldkomplex haben hinsichtlich von Völkermord, den europäische Kolonialländer verübten? Nehmen wir die Deutschen. Sie bildeten Eingeborene militärisch aus, nannten sie ›Askaris’ und mit deren Hilfe man die Bevölkerung unterdrückte und Aufstände niederschlug. Und die Engländer? Sie setzten indische Sepoys oder Ghurkas ein. Die Franzosen stützten sich auf algerische Zuaven, die Spanier auf marokkanische Moros. Ein Anachronismus besonderer Art: Die Briten verboten den Sklavenhandel und führten den Opiumkrieg gegen China, um ihre Geschäftsinteressen durchzuboxen.«

»Verstehe: sehr menschenfreundlich«, sekundiert der Brasilianer ironisch.

Weitere Bittsteller kommen in das Foyer, diesmal junge Frauen, sie sind traditionell gekleidet mit bunten Kopftüchern und tragen ihr Baby auf dem Rücken. Sie wirken so anmutig, als hätten Wildgänse ihren Flug unterbrochen, um den Durst zu löschen. Der Manager bringt einen silberfarbenen Sektkübel und Gläser. Er ist geduldig, ein Patron, der eigenhändig zugreift und selbstlos gewährt. Die Mütter blicken scheu umher, sie laben sich Zug um Zug und geben auch den Kindern zu trinken. Als sie zögernd aufbrechen, bedanken sie sich stumm und rücken hintereinander auf die Straße: dort schnaubt die Sonne feurig.

Georg setzt fort: »Weiße verschafften sich Kontingente afrikanischer Eingeborener und beförderten sie nach Übersee. Aber wer ließ Menschen rauben, zusammentreiben, mit Halsstöcken fesseln und zur Küste marschieren, wer?«

»Ansässige Könige, vermutlich, sie missachteten ihre Fürsorgepflicht und bereicherten sich auf Kosten der Bevölkerung.«

»Sklaven!«, wirft Georg ein. »Ursprünglich gingen Sklaven aus Stammesfehden hervor. Später spezialisierte man sich auf Raubzüge, denn es war vorteilhafter, Gefangene an Händler zu liefern.«

»An weiße Aufkäufer. Hat man sie gerufen? Wären sie nicht aufgekreuzt, hätten die Herrscher ihre Untertanen …«

»Hm, Sklaverei gab es schon, als man noch nichts von den Weißen wusste. Afrikanische Despoten genehmigten stillschweigend oder ausdrücklich Menschenraub.«

»Zugegeben. An der Westküste jedoch betrieben Weiße skrupellos das Geschäft und beförderten meine Ur-Ur-Eltern auf einem der Frachtsegler über den Atlantik nach Bahia. Ungeheuerlich. Finden Sie nicht auch? Sind sie während des Transports umgekommen, hm, quasi verreckt oder tötete man sie bei einer Rebellion? Stürzten sie sich, obschon verängstigt und erschöpft, über Bord in dem Glauben, sie könnten das Meer bezwingen oder sich im Tode mit den ›Ahnen‹ vereinen?«

»Ein Wiedersehen im Jenseits, typisch. Den Menschen wird das ständig souffliert«, merkt Georg an und setzt fort: »Buddha lehrte, an eine Seele zu glauben sei Wunschdenken. Der Mensch könne nicht etwas besitzen, was er vor der Geburt nicht gehabt hätte.«

»Das ist Blasphemie. Jesus prophezeite die Auferstehung von den Toten, ebenso der Prophet Mohammed.«

»Sich aus den Gräbern erheben, leibhaftig?«

»Sobald die Posaunen erschallen. Die Menschen müssen sich vor dem Weltgericht verantworten. Auch die Gläubigen.«

»Wie es den Ungläubigen ergeht, darauf darf man gespannt sein.«

»Meine Güte: Sind Sie gottlos, gar ein Atheist? Wollen Sie die Existenz des Allmächtigen bestreiten?«

»Die Natur ist der wahre Schöpfer, sie erzeugt Leben und versetzt es wieder in Unbelebtes. Menschen und Tiere sterben gleich Bäumen und Pflanzen. Nichts entgeht der Vernichtung. Dem Exitus erliegt sogar unsere Erde, sie ist ›endlich‹ wie unser Sonnensystem und überhaupt alles.« Georg erläutert, was er zu wissen vermeint. Er legt moderne physikalische Erkenntnisse dar und spricht von einem Universum, das neuerdings in Konkurrenz stünde zu einem Multi-Universum. »Alles ist im Wandel begriffen, fortwährend ein Werden und Vergehen, dem – wie könnte es anders sein – auch der Mensch unterworfen ist: er verlöscht im Nichts, absolut.«

»Im Nichts …? Ausgeschlossen, die Seele wandelt sich durch Reinkarnation«, wehrt der Brasilianer gestikulierend ab. »Die Menschen leben fort, der Geburtenkreislauf ist keinesfalls erschöpft. Denken Sie, ich dächte in transzendenten Kategorien? Glauben Sie mir: Die Welt ist voll von Mysterien, die bisher niemand zu enträtseln wusste.«

»Von Geheimnissen umwoben, von Dämonen beschwört, wie?«, macht sich Georg unterschwellig lustig. »Ich bin Rationalist und neige den Astrophysikern zu. Sie entschlüsseln die Himmelsmechanik und sehen den Untergang der Welt, der noch Äonen weit fern ist, voraus.«

»Die Erde geht unter?«, entsetzt sich der Brasilianer. »Und was ist mit den Menschen?«

»Müssen zwangsläufig emigrieren. Zu anderen Planeten. Können sie das nicht, geht der Homo sapiens zugrunde.«

»Auch die Ahnen? Sie verkörpern, unserer Überzeugung nach, die Seelen der Toten.«

»Eine fixe Idee, der Sie da anhängen. Verstorbene Angehörige unterliegen dem natürlichen Zerfallsprozess. Zu glauben, mit ihnen gäbe es metaphysisch ein Wiedersehen, ist ein Irrglaube.«

»Wie rücksichtslos. Keinerlei Hoffnung? Wie grausam. Gott sei Dank ist Gott barmherzig. Hören Sie, ich muss gehen, will zum Schlangentempel, um der Hl. Python zu opfern. Und Fetischaltäre aufsuchen. Und morgen reise ich ins Yoruba-Land. Mein Herr, con su permiso, mit Ihrer Erlaubnis, ich darf mich empfehlen. Eine glückliche Zeit, Senhor.« Der Brasilianer verbeugt sich formvollendet, eilt überstürzt davon. Georg wird sich bewusst: Geschieht dir ganz recht, solltest künftig sensibler aufklären.

Er schlendert zum Markt und kauft Obst: Ananas und Papaya. Ein Mann ersteht Hühner und bindet sie an den Lenker seines Fahrrades, wo sie kopfüber hängen und in der Glut hecheln. Ist Federvieh ein toter Gegenstand? Geht man mit ihm um wie einst mit Sklaven, nämlich ungerührt empfindungslos? – An einer Straße, hinter einer Getränketheke mit Vordach und das wohltuend Schatten spendet, hockt verträumt ein junges Mädchen und bewegt seinen Krauskopf rhythmisch zu den Melodien aus einem Kofferradio. Da und dort stehen Burschen mit ihren Mopeds, um bereitwillig Kunden zu befördern; es gibt zu wenige, also schauen sie missvergnügt. Auf einer öffentlichen Freifläche, die nahezu leer gähnt, sucht ein Feldprediger in Zivil aus vollem Hals zu überzeugen. Ihm leihen nur ein paar Menschen, vornehmlich Frauen, das Ohr, sie hocken auf Bänken und die ein Zeltdach beschirmt. Der Eiferer einer religiösen Sekte verkündet beharrlich und enthusiastisch das Wort Gottes, so, als hätte er es mit einer großen Menge von Gläubigen zu tun.

Im Zentrum von Quidah droht ein Gepäckträger mit »I kill you« und zerrt wütend am Henkel einer Reisetasche. Sie gehört Georg, er lässt nicht los und denkt: »Freundchen, nicht mit mir«. Die Szene in aller Öffentlichkeit ist grotesk und unwürdig, obschon: Ist nicht klar, was vorgeht? Der Bursche wendet sich an die Umstehenden in der Landessprache und tut höchst scheinheilig. Der Ausländer kann wenig ausrichten. Es geht um eine Gebühr, die schon bezahlt ist. Damit der Streit nicht noch mehr eskaliert, erbarmt sich jemand und greift vermittelnd ein.

Die Fernroute verläuft südlich bis zu einem Verkehrsknotenpunkt. Morgendliche rush hour: Der Fahrzeugstrom steht still oder quält sich voran. Georg möchte nach Norden, ins Landesinnere. Er muss das Sammeltaxi wechseln. Allerdings ist der Standort ungünstig und die Luft gräulich dick, weshalb er gepresst atmet. Den Umständen ausgesetzt, sieht er sich als Weißer von Schwarzen neugierig gemustert, hält stoisch Stand und spöttelt in sich hinein: »Los, mach die Mücke, schwirr ab!« Entschlossen schultert er sein Gepäck und bahnt sich einen Weg hinüber auf die andere Seite des Rondells. Dort geht es ebenso chaotisch zu: Autos stoppen, fädeln ein, werden waghalsig manövriert und überholt. Jeder ist sich selbst der Nächste; rigoros ertrotzt man sich Vorteile. Georg sucht sich zu orientieren und er ist irritiert, als das missglückt. Was er braucht, ist ein ›taxi brousse‹. Unversehens wird ihm geholfen. Den Vordersitz des Buschtaxis hat eine voluminöse Mammi belegt, sie macht sich über einen Imbiss aus Reisbrei und Dörrfisch her und spuckt die Gräten ungerührt von sich. Unterdessen häufen sich Gepäck und Fracht hoch auf und werden mit Seilen festgezurrt. Und wie in einen Pferch zwängen sich elf Leute mit zwei Babys in den Peugeot-Kombi, der gehörig in die Federn sinkt. Es geht los. Der Chauffeur dreht mächtig auf trotz der Schlaglöcher: sie werden angepeilt, im Slalom passiert oder kurzerhand überrollt. Abbremsen und Gas geben wechseln häufig. Georg schätzt grob einen Zacken von einhundertzwanzig; der Tacho zeigt null an. Dörfer und Landschaften ziehen vorüber. Unplanmäßig wird vor einer ›pharmacie‹ gestoppt. Jemand springt raus, rennt rein und lässt auf sich warten. Es dauert und dauert. Der Chauffeur trommelt gereizt auf dem Lenker und veranstaltet ein Hupkonzert. Sogar die Passagiere meutern. Als der Bursche endlich zurückkommt, fällt man gemeinschaftlich über ihn her, schimpft und zetert. Der Gescholtene zieht die Schultern ein, macht keine Ausflüchte, lässt die Kanonade über sich ergehen. Ist das der Grund, weshalb der Groll abflaut und verebbt? Ein Spektakel um nichts, man ist wieder gut Freund miteinander, so, als wäre nichts gewesen, man palavert versöhnlich und geht zu Späßen über. Wird Unmut durch afrikanisches Gemüt gebremst? Lange böse ist man sich augenscheinlich nicht.

Abomey: die Hauptstadt von Dahomey – dem heutigen Benin. Die damaligen Könige wären berüchtigt gewesen und hätten despotisch geherrscht; von Gräueltaten erfährt man höchstens etwas aus Büchern. Demnach verliefen die Rituale grausig. In der Furcht, man würde geholt und zur Opferstätte geschleppt, wimmerten, stöhnten und schlotterten Dorfbewohner in Todesangst …

Georg hat sich in einer Herberge einquartiert mit dämmrigen Räumen, eher Kabuffs, ziemlich übel, doch preiswert für Leute, die alternativ unterwegs sind, darunter ein Japaner, der Afrika auf einem bicycle durchquert. Er selber rollt die Stadtviertel per Pedes auf und streunt umher, auf mit Pfützen übersäten Geröllpfaden, oder lässt sich auf dem Sozius von Mopeds befördern, von Jugendlichen, die so ihre Existenz bestreiten und es am liebsten sähen, wenn niemand mehr zu Fuß gehen würde, ein Ausländer, der plötzlich aufkreuzt, am allerwenigsten. Abends versinkt die Stadt in Düsternis. Menschen und Fahrzeuge geistern schemenhaft umher, eingehüllt in Staubschwaden und Abgaswolken röhrend muffelnder Zweitaktmotore. Atmen ist quälerisch. Immerhin wölbt sich das Firmament klar und rein, das Sternenzelt blinkert, der Kontrast ist jedoch bedrückend.

Die ehemalige Residenz autokratisch regierender Könige ist weitläufig von Lehmmauern umzogen und in ein Museum umgewandelt. Unter rostigen Wellblechdächern öffnen sich Palasträume, Kultsäle, Haremsbezirke und Grüfte. Zu sehen sind Throne, Insignien, Fetische, Waffen, Trommeln, Schmuck sowie Schädel und Kinnladen getöteter Feinde. Man richtete Zeremonien aus mit dem Hofstaat, bestehend aus Ministern, Paladinen, Häuptlingen und Clanchefs. Zu besonderen Anlässen gab es Blutgerichte mit Menschenopfern, um erzürnte Götter zu besänftigen. Mancher Usurpator schmeichelte sich, im Ruf eines »Wohltäters des Volkes« zu stehen, obwohl er ein Volksverderber war. Die Gott-Könige spuckten, damit nichts verloren ging, in vorgehaltene Näpfe. Sie verstanden sich als Sonnen, der die wirkliche Sonne keine Konkurrenz machen durfte: Sie gingen nur im Dunklen aus, von einem Baldachin beschirmt. Wurde der Tragbaum, der das Stoffzelt stützte, befehlsgemäß gedreht, konnte das ein Todesurteil bedeuten – wie bei römischen Kaisern, die in einer Zirkusarena den Daumen nach unten senkten. Sie ordneten selbstherrlich an, empfingen Prunkgeschenke und glänzten damit öffentlich. Sie überantworteten Untertanen in die Sklaverei und das Los der Unglücklichen scherte sie nicht einen Deut. Man führt ›the kings of Abomey‹ geläufig auf: Gangnihèssou, Houegbàdja, Tègbessou, Kpèngla, Adandòzan, Ghèzo und Glèlè. In der Historie ist Berüchtigtes ausgeklammert oder man umschreibt es. Wenn verlautet, beim Tod eines Königs hätten seine Frauen gewünscht oder darauf gedrungen, mit ihm beigesetzt zu werden, ruft das Skepsis hervor. Womöglich ist Druck ausgeübt und traditionell gehandelt worden: die Frauen mussten unfreiwillig sterben. Hingegen haben sich Leibdiener köpfen lassen, um ihrem Herrn ins Reich der Ahnen folgen zu können. Besaßen die Oberhäupter keine Skrupel? Moralische Bedenken hätten ihnen nicht eingeleuchtet. Und als oberste Instanz allmächtig, brauchten sie sich nicht zu verantworten.

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